# taz.de -- Experte zu Plan gegen Wohnungslosigkeit: „Wir brauchen viel mehr … | |
> Der nationale Aktionsplan der Bundesregierung wird Obdachlosigkeit nicht | |
> überwinden, sagt Stefan Schneider von der Wohnungslosen-Stiftung. | |
Bild: Täglicher Überlebenskampf: Ein obdachloser Mann läuft mit einem Einkau… | |
taz: Herr Schneider, am Mittwoch wird im Kabinett der nationale | |
[1][Aktionsplan] gegen Wohnungslosigkeit beschlossen. In sechs Jahren soll | |
niemand mehr ohne Wohnung sein. Ist das zynisch gegenüber Menschen, die | |
aktuell auf der Straße leben? | |
Stefan Schneider: Ja, ist es. Aber das ist ein grundsätzliches Problem. Die | |
Leute, die diesen Plan erarbeitet haben, haben in der Regel eine Wohnung | |
und auch einen Job, und das bestimmt ihr Denken und ihre Wahrnehmung. | |
Herausgekommen ist ein Papiertiger voller Absichtserklärungen. Ich habe | |
schon letztes Jahr gesagt: Wenn der Aktionsplan gut werden soll, müssen da | |
Sachen drinstehen, die jetzt und sofort für die Leute auf der Straße ein | |
starkes Signal abgeben. | |
Zum Beispiel? | |
Sofort Hotelgutscheine ausgeben für fünf Monate, an Menschen, die auf der | |
Straße leben. Und in dieser Zeit wird eine Wohnung organisiert. | |
Diese Forderung hat es nicht in den Aktionsplan geschafft. | |
Das wundert mich nicht. Wäre der Arbeitskreis zur Hälfte mit Wohnungslosen | |
besetzt, würde dieser nationale Aktionsplan völlig anders aussehen. Wir | |
können doch die Pandemie als Blaupause sehen. Dort ist es in einzelnen | |
Fällen gelungen, Leute von der Straße in Hotels zu bringen, und es ist gut | |
dokumentiert, dass es vielen dann besser ging, weil sie nicht mehr | |
überlegen mussten: Wo kann ich duschen, wo kann ich schlafen, wie kann ich | |
essen, werde ich beschimpft? Die Menschen kamen raus aus dem Druck des | |
täglichen Überlebenskampfs, haben angefangen zu überlegen, wie soll mein | |
Leben aussehen? Nur so waren Veränderungsprozesse möglich. | |
Sie haben gemeinsam mit einer Gruppe von Wohnungslosen und ehemals | |
Wohnungslosen eine [2][Stellungnahme] zum Aktionsplan erarbeitet. | |
Ja, bei zwei Treffen im Rahmen unserer Kräfte. In der Gruppe sind auch | |
Leute dabei, die gucken müssen, wie sie überhaupt ins Internet kommen. Wir | |
waren uns inhaltlich aber schnell einig: Wir brauchen viel mehr Prävention. | |
Wenn man möchte, dass Obdachlosigkeit nicht weiter zunimmt, dürfte jemand | |
nur dann [3][zwangsgeräumt] werden, wenn eine adäquate andere Wohnung zur | |
Verfügung steht. Das passiert nicht. Die Städte sind voll mit Leuten, die | |
in Notunterkünften untergebracht sind und die keine Perspektive haben, da | |
wieder rauszukommen. Dabei müssten wir eigentlich Notunterkünfte ganz | |
auflösen. | |
Warum? | |
Notunterkünfte, die in der Regel tagsüber verlassen werden müssen, sind | |
kein Beitrag, um Obdachlosigkeit oder Wohnungslosigkeit zu überwinden. Es | |
sind häufig Orte der Gewalt. Das betrifft bestimmte Gruppen, zum Beispiel | |
Frauen oder schwule und lesbische Menschen, besonders stark. | |
Laut dem Aktionsplan sollen Empfehlungen zu Standards in Notunterkünften | |
erarbeitet werden. | |
Das ist doch ein gutes Beispiel für unscharfe Laberei. | |
Finden Sie es falsch, über Mindeststandards zu sprechen? | |
Nein, das nicht. Denn aktuell sind diese zwangsgemeinschaftlichen | |
Unterkünfte oft menschenunwürdig, deswegen brauchen wir Mindeststandards. | |
Aber Notunterkünfte sind keine Lösung und auch kein sinnvolles Angebot. Wir | |
brauchen vor allem bezahlbaren und verfügbaren Wohnraum. | |
Wie soll dieser geschaffen werden? | |
Anstatt wohnungslose Menschen zu zählen, könnten wir doch einfach mal | |
anfangen, den Leerstand zu zählen, illegale Ferienwohnungen auflösen und | |
ungenutzte Büroflächen in Wohnraum umbauen. Aber es geht nicht ohne einen | |
grundsätzlichen Strukturwandel in der Wohnungswirtschaft. Wir brauchen | |
einen viel größeren Anteil an Wohnungsbeständen, die nicht profitorientiert | |
vermietet werden. | |
Es ist der erste bundesweite Plan dieser Art, haben Sie Hoffnung, dass sich | |
in den nächsten sechs Jahren ein paar Sachen verbessern? | |
Das Problem ist: Dieser Plan versucht, Obdachlosigkeit weiter mit den | |
bestehenden Mitteln zu regulieren. Damit können wir Obdachlosigkeit nicht | |
überwinden. Aber zumindest können sich Netzwerke wie unseres die nächsten | |
Jahre daran abarbeiten und dazu positionieren. | |
24 Apr 2024 | |
## LINKS | |
[1] https://www.bmwsb.bund.de/SharedDocs/downloads/Webs/BMWSB/DE/veroeffentlich… | |
[2] https://www.wohnungslosenstiftung.org/neuigkeiten.html | |
[3] /Zwangsraeumung-ohne-Schonfrist/!5997176 | |
## AUTOREN | |
Jasmin Kalarickal | |
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