| # taz.de -- Hilfe für Obdachlose: Wohnung first! | |
| > Obdachlosigkeit lässt sich nicht mit Platzverweisen lösen. Um | |
| > Lebensprobleme zu lösen, braucht es Ruhe. Ein Projekt in Hamburg macht | |
| > Hoffnung | |
| Bild: Schlechter Dauerzustand: Obdachlosigkeit in Hamburg | |
| Es sind 28 Grad, die Sonne strahlt über die glitzernden Bürgersteige der | |
| Einkaufsmeilen in der Hamburger Innenstadt. Der Himmel ist blau, keine | |
| Wolken in Sicht. Vor den Schaufenstern eines Juweliergeschäfts liegen ein | |
| leerer Schlafsack und Pappkartons. Die Überbleibsel einer Nacht auf der | |
| Straße. | |
| Meine Kollegin Teresa Jakobs ist auf dem Jungfernstieg unterwegs und sucht | |
| Andreas. Sie sind verabredet, um beim Jobcenter einen neuen Antrag auf | |
| Bürgergeld zu stellen. Die Straßensozialarbeiterin der Diakonie Hamburg | |
| kreuzt die mehrspurige Straße, [1][die für Fahrzeuge gesperrt ist], schaut | |
| an den Arkaden am Alsterfleet entlang, dann in den Seitenstraßen rund um | |
| das Rathaus. | |
| Hier sind mehrere Platten, wie die Schlafplätze der obdachlosen Menschen | |
| genannt werden, im Eingang von Geschäften und Tiefgaragen, aber Andreas ist | |
| nicht da. „Es passiert immer häufiger, dass wir Klient*innen, mit denen wir | |
| verabredet sind, nicht an ihren Plätzen antreffen“, sagt sie. Andreas hat | |
| auch kein Handy, um einen neuen Termin auszumachen. | |
| In Hamburg sind nach Schätzungen der Stadt circa 2000 Menschen obdachlos. | |
| Das Überleben auf der Straße ist seit dem Ausbruch der Pandemie schwieriger | |
| geworden. Die Innenstadt ist leerer, viele Büroangestellte arbeiten im | |
| Homeoffice und erledigen ihre Einkäufe im Internet. Große Kaufhäuser haben | |
| Insolvenz angemeldet und die Türen geschlossen. Vor und in den leeren | |
| Gebäuden und Garagen können obdachlose Menschen nun zwar einfacher liegen | |
| und sich aufhalten, aber es kommen weniger Passanten, die sie um ein paar | |
| Münzen bitten können. | |
| ## Polizei will gegen „aggressives Betteln“ vorgehen | |
| Stattdessen schaut inzwischen fast täglich die Polizei vorbei. Es gab wohl | |
| Beschwerden von Bürger*innen, die sich unwohl fühlten, wenn sie nach Geld | |
| gefragt wurden. Vor allem die Habseligkeiten der obdachlosen Menschen | |
| wirken in ihren Augen oft störend. Rucksäcke, Decken und Plastiktüten, die | |
| auf dem Bürgersteig liegen. Die Polizei soll laut der Stadt vor allem die | |
| sogenannten „negativen Auswirkungen von Obdachlosigkeit und aggressives | |
| Betteln“ unterbinden [2][und erteilt nun Platzverweise]. | |
| Was genau aggressives Betteln ist, bleibt dabei unklar – in unseren Augen | |
| verhalten sich die Menschen meistens unauffällig. Oft scheint es | |
| willkürlich, wer angesprochen wird. Die Polizist*innen weisen zwar auch | |
| auf Tagesaufenthaltsstätten in der Umgebung hin. Allerdings können sich die | |
| Menschen dort nur für wenige Stunden aufhalten. Die Räume sind beengt und | |
| es gibt oft Streit. Außerdem sind die Menschen darauf angewiesen, an Geld | |
| zu kommen. Deswegen ziehen die meisten obdachlosen Menschen lieber ein paar | |
| Straßen weiter, wenn die Polizei kommt. | |
| Das Leben auf der Straße macht müde und körperlich krank. Dazu kommt | |
| [3][neben der Kälte im Winter] nun auch die Hitze im Sommer, die den | |
| Kreislauf sehr belastet. Die Zahl der öffentlichen Wasserspender ist in den | |
| vergangenen Monaten zwar ausgebaut worden. Trotzdem ist die | |
| Trinkwasserversorgung für Menschen, die auf der Straße leben, immer noch | |
| eine tägliche Herausforderung. | |
| Hilfemobile wie der Mitternachtsbus fahren durch die Innenstadt und haben | |
| Wasser, weitere Lebensmittel und Hilfen zum Überleben an Bord. Jede Nacht | |
| verteilen unsere Ehrenamtlichen dazu Decken und Schlafsäcke und kommen mit | |
| den Menschen auf der Straße ins Gespräch. Ziel ist es, auf weiterführende | |
| Hilfeeinrichtungen zu verweisen und die Menschen nicht allein in ihrem | |
| Schicksal zu lassen. Überflüssig konnten wir uns [4][seit der Gründung | |
| 1996] nicht machen – die Menschen leben immer noch auf der Straße. Täglich | |
| kommen neue hinzu, auch aus EU-Staaten wie Bulgarien, Polen und Rumänien. | |
| Es fehlt an weiterführenden Hilfeangeboten und an Wohnraum. | |
| ## Obdachlose stehen auf dem Wohnungsmarkt hinten an | |
| Der Wohnungsmarkt ist angespannt. Auch wenn es in Hamburg das „Bündnis für | |
| das Wohnen“ gibt, werden zu wenig neue Wohnungen gebaut und fertig | |
| gestellt. Gleichzeitig fallen jedes Jahr viele §5-Schein-Wohnungen aus der | |
| Preisbindung heraus, so dass die Schere zwischen Nachfrage und Angebot im | |
| preisgünstigen Bereich immer größer wird. | |
| Obdachlose Menschen stehen ganz hinten in der Schlange an. Welcher private | |
| Vermieter gibt seine Wohnung an Menschen ohne Obdach, dafür aber mit | |
| Schulden, ohne Arbeit und geregelten Tagesablauf? Die | |
| öffentlich-rechtlichen Unterkünfte sind in der Regel voll und es gibt | |
| Wartelisten. Oft passen sie auch nicht zu den Bedarfen der Menschen. Sie | |
| können ihr Haustier genauso wenig mitnehmen wie den Partner oder die | |
| Partnerin. | |
| Viele kommen dazu nicht mit großen Unterkünften zurecht. Die Suche nach | |
| einer Bleibe ist daher mühsam und ein langer Weg. Viele Menschen versuchen | |
| es gar nicht erst oder geben mittendrin auf und schlafen dann doch wieder | |
| unter den Brücken der Stadt. Die Menschen können ihr Leben aber erst wieder | |
| neu regeln, wenn sie zur Ruhe kommen. Von Ruhe kann beim Leben auf der | |
| Straße allerdings keine Rede sein – es ist ein täglicher Überlebenskampf. | |
| Seit diesem Jahr gibt es ein Modellprojekt in Hamburg, finanziert von der | |
| Stadt und angelehnt [5][an Erfolgsbeispiele aus Finnland] und Österreich. | |
| Housing First heißt das Konzept, bei dem obdachlose Menschen mit | |
| Unterstützung durch Sozialarbeitende in Wohnraum mit einem eigenen | |
| Mietvertrag gebracht werden, um aus dieser Sicherheit dann weitere | |
| Schritte, im eigenen Tempo und auf Wunsch in Begleitung gehen zu können. | |
| ## Die EU will das Problem bis 2030 lösen | |
| Laut Aktionsplan der EU sollen 2030 keine obdachlosen Menschen mehr auf der | |
| Straße leben. Es wird Zeit, dass wir unsere Augen nicht mehr verschließen | |
| vor der wachsenden Not in der Gesellschaft und mehr Zugang zu bezahlbarem | |
| Wohnraum einfordern. Denn kein Mensch lebt freiwillig auf der Straße. | |
| Wohnen ist ein Menschenrecht und sollte nicht als täglicher Platz an der | |
| Sonne enden. | |
| 25 Jul 2023 | |
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