# taz.de -- Soziale Kälte in der Großstadt: Kalte Herzen, warme Herzen | |
> Ein Mensch bittet in einer vollen Bahn um ein bisschen Geld, und alle | |
> schauen weg. Aber es geht auch anders, in einer Kneipe in Hamburg-St. | |
> Pauli. | |
Bild: Die meisten gehen vorüber: Ein Mann bittet in einer Fußgängerzone um K… | |
U-Bahn-Station Burgstraße, morgens im Alltag. Die Bahn fährt ein. Eine | |
magere Frau schwankt leicht beim Einstieg. Ihr Blick ist stumpf und auf | |
etwas Fernes ausgerichtet, als hätte sie Drogen genommen. Sie stößt gegen | |
andere Menschen, die vor ihr zurückweichen. Es ist so voll, dass die | |
Fahrgäste im Gang stehen. Die Frau drückt sich durch die Menschen. „Haben | |
Sie Kleingeld?“, fragt sie. | |
Alle schütteln den Kopf. Die Frau hält in ihrer linken Hand einen | |
zusammengedrückten Schokomuffin. Es sieht aus, als hätte ihr jemand zuvor | |
den Muffin gegeben, vielleicht anstelle von Geld oder als hätte sie ihn | |
gefunden. Er wirkt wie ein Fremdkörper in ihrer Hand, nicht so, als ob sie | |
ihn gleich essen würde. | |
„Haben Sie etwas Geld, bitte?“, ruft die Frau durch den Gang. „Kann mir | |
jemand etwas geben?“ Die Menschen blicken vor sich hin, als wäre sie | |
unsichtbar, als gäbe es sie gar nicht. Merkwürdig, was in diesem Moment mit | |
den Gesichtern passiert. Sie verschließen sich. Sie erstarren. | |
Die Frau drückt den Muffin in ihrer Hand zusammen: „Hat denn niemand etwas | |
für mich? Bitte!“ Es klingt, als würde sie gleich anfangen zu weinen. Es | |
ist herzzerreißend, ihre Stimme zu hören. Alle scheinen das Gleiche zu | |
denken: Die ist ein Junkie. Die gibt das doch eh nur für Drogen aus. | |
Doch da ist ein Mensch, der allein in einer vollen Bahn um Hilfe ruft. Und | |
alle verschließen ihren Blick, ihr Herz. Nun kann man sagen, man kann doch | |
nicht jeder Person Geld geben, die einen ungefragt anspricht. | |
## Offene Herzen und Portemonnaies | |
Doch wie wird man nicht kalt in einer großen Stadt? Wo nach einer | |
bettelnden Person, der man gerade Geld gegeben hat, schnell die nächste | |
kommt. Wo um Wohnungen gekämpft wird, um Platz, um Jobs, wo viele mit | |
eigenen Problemen ringen. Doch solange man am Morgen zur Arbeit fährt, aus | |
einer Wohnung kommt, in der man geduscht und gefrühstückt hat, kann man da | |
tun, als wäre nichts, wenn jemand weint? Auch wenn die Person vielleicht | |
die Norm, auf die sich alle verständigen, verlassen hat. Was passiert mit | |
einem selbst, wenn man das Visier herunterfährt? Ist das die 20, 50 Cent | |
wert? | |
Abends auf St. Pauli. Eine Kneipe mit Biertischen auf dem Bürgersteig. Dort | |
sitzt eine Gruppe von etwa acht befreundeten Personen auf einer Bierbank | |
eng nebeneinander. Sie tragen dunkle, lockere Kleidung und Käppis, manche | |
mit St.-Pauli-Emblem. Sie scheinen im Viertel zu wohnen. | |
Ein Mann in bunten Kleidern kommt vorbei. Er redet in einem aufgekratzten | |
Singsang, seine Augen leuchten, als wäre er auf Droge. An der Bierbank | |
holen alle nacheinander ihr Portemonnaie aus der Tasche und werfen Münzen | |
in seinen Becher. Der Mann strahlt. Er bedankt sich mehrmals. Etwa alle | |
fünf Minuten kommen Menschen an den Tischen vorbei, die betteln. Die | |
meisten Gäste geben nichts. | |
Doch die Gruppe macht bei jeder Person ihr Portemonnaie auf. Vielleicht | |
sind es nur kleine Münzen. Doch es scheint völlig selbstverständlich zu | |
sein, dass sie etwas geben, dass jeder und jede, die fragt, auch etwas | |
bekommt. „Deshalb betteln hier so viele, weil sie viel kriegen“, sagt | |
jemand vom Nachbartisch ironisch. | |
## Glück geht von diesem Tisch aus | |
Ein Mann mit langem, grauem Bart kommt vorbei. Alle aus der Gruppe öffnen | |
ihre Tasche, geben ihm etwas, lachen kurz mit dem Mann. Neue Personen | |
kommen zum Freundeskreis auf der Bierbank dazu, alle rücken noch enger | |
zusammen. Nach einiger Zeit kommt der Mann mit dem Bart wieder die Straße | |
hinauf. Als er noch einmal an dem Tisch um Geld fragt, geben ihm die, die | |
neu dazugekommen sind, aber auch die anderen, wieder Münzen. Alle lächeln. | |
Glück geht von diesem Tisch aus, während hier Kleingeld von einer Hand in | |
die andere geht. Die Gesichter wirken offen, zufrieden, während sie geben | |
und wieder geben. Freudig fast hüpft der Mann mit dem Bart davon, als hätte | |
ihm das neue Energie gegeben, das Geld, und auch die Aufmerksamkeit der | |
Gruppe, die wieder so nett zu ihm war. Wie anders er wirkt, als die Frau am | |
Morgen aus der U-Bahn. | |
9 Sep 2023 | |
## AUTOREN | |
Christa Pfafferott | |
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