| # taz.de -- Unerwünschte Klientel: Unter Dauerverdacht | |
| > Die Zahl der Gewalttaten am Hamburger Hauptbahnhof steigt ebenso wie die | |
| > Zahl der Obdachlosen und Süchtigen. Die Innenbehörde reagiert mit | |
| > Waffenverbot. | |
| Bild: Den Reisenden im Weg: Menschen aus dem Drogenmilieu werden am Hamburger H… | |
| Menschen strömen aus den Zügen und über die Treppen des Hamburger | |
| Hauptbahnhofs. Am zweitstärksten frequentierten Bahnhof Europas steht | |
| Gedränge auf der Tagesordnung. Für Reisende und Passant:innen ist der | |
| Bahnhof ein Nicht-Ort, sie hasten zu den Gleisen oder warten darauf, von | |
| einem Zug weggebracht zu werden. Doch in dem Treiben fallen auch andere | |
| Personen auf. Sie lungern mit oft zerrissenen Klamotten herum, betteln und | |
| kauern in sich zusammengesunken auf dem Boden – oder dealen vor dem Bahnhof | |
| offen beobachtbar mit Drogen. Für viele Obdachlose und Drogensüchtige ist | |
| das anonyme Umfeld des Hauptbahnhofs als Aufenthaltsort alternativlos | |
| geworden. | |
| Gleichzeitig läuft seit Monaten eine Debatte über die Sicherheit am | |
| Hauptbahnhof. Ein Ergebnis dieser Debatte: Am 1. Oktober ist hier ein | |
| Waffenverbot in Kraft getreten. Hauptbahnhof und Umgebung sind seitdem | |
| Waffenverbotszone, in der man keine Schusswaffen, Messer mit einer | |
| Klingenlänge über vier Zentimeter und Schlagringe mit sich führen darf. | |
| Begründet wird das Waffenverbot damit, dass [1][die Zahlen der Gewalttaten | |
| und Diebstähle im Vorjahresvergleich gestiegen sind], außerdem haben | |
| Rauschgiftdelikte laut der Polizei in den vergangenen Jahren insgesamt | |
| zugenommen. Vor allem die Anzahl an Straftaten im Zusammenhang mit Crack | |
| ist im Vergleich zum Vorjahr um 35,9 Prozent gestiegen. Aus den Statistiken | |
| sticht der Stadtteil St. Georg hervor, in dem sich der Hauptbahnhof | |
| befindet. | |
| Die Zunahme von Rauschgiftdelikten ist laut Polizei vor allem auf eine | |
| Zunahme der Konsument:innendelikte zurückzuführen, also darauf, dass | |
| Menschen Drogen besitzen und kaufen. Aber auch Beschaffungskriminalität, | |
| also Diebstahl für den Kauf von Drogen, dürfte viele Straftaten im | |
| Innenstadtbereich ausmachen, schreibt der Senat auf eine Anfrage der CDU. | |
| Es gibt zwar laut der Polizei keine Statistik darüber, ob die Delikte von | |
| Suchterkrankten verübt wurden oder ob Menschen bei der Straftat unter | |
| Drogen- oder Alkoholeinfluss standen. Sowohl Opfer als auch Täter seien | |
| aber immer wieder dem „Randständigen- und Drogenmilieu“ zuzuordnen. | |
| ## Polizei erhöht Präsenz am Hamburger Hauptbahnhof | |
| Die Politik begegnet der Situation am Hauptbahnhof schon länger mit einem | |
| verstärkten Polizeiaufgebot und [2][seit März auch mit den sogenannten | |
| Quattro-Streifen „Allianz sicherer Hauptbahnhof“], die aus | |
| Stellvertretenden der Polizei Hamburg, der Bundespolizei, der DB Sicherheit | |
| und der Hochbahn-Wache besteht. Die Innenbehörde teilte nun mit, dass die | |
| Präsenz dieser Streifen von 48 Stunden auf 90 Stunden pro Woche erhöht | |
| worden sei. | |
| Weil nach Angaben der Polizei jede vierte Straftat am Hauptbahnhof im | |
| Zusammenhang mit Alkohol steht, bereitet die Innenbehörde außerdem ein | |
| Alkoholkonsumverbot ab dem kommenden Frühjahr am Hachmannplatz und am | |
| Heidi-Kabel-Platz vor. An diesen Orten soll es dann verboten sein, Alkohol | |
| zu trinken und in offenen Behältern mit sich zu führen. [3][In Bremen gibt | |
| es seit Kurzem ein solches Verbot.] In Hamburg muss die Bürgerschaft noch | |
| darüber abstimmen; wann das geschieht, ist nach Angaben der Innenbehörde | |
| bisher unklar. | |
| Doch treffen diese Maßnahmen überhaupt den Kern des Problems? | |
| Parallel zu den Quattro-Streifen gehen auch Mitarbeitende der | |
| Bahnhofsmission durch den Hauptbahnhof. Sie halten dort nach Menschen | |
| Ausschau, die Hilfe gebrauchen könnten. An einem Freitagabend läuft die | |
| Sozialarbeiterin Beatrix Branahl über einen Bahnsteig, als ein Obdachloser | |
| auf sie zu schwankt. Seine Beine sind von offenen Wunden übersät und | |
| knicken immer wieder ein, die Augen hat er auf einen Punkt in der Ferne | |
| gerichtet. Branahl spricht ihn an, fragt, ob alles in Ordnung sei. Doch der | |
| Mann winkt nur ab und murmelt etwas in sich hinein, bevor er | |
| weiterschlurft. „Manche wollen sich nicht helfen lassen“, sagt Branahl. | |
| „Dann können wir nichts machen.“ | |
| Für sie ist der Hauptbahnhof viel mehr als eine Sicherheitsdebatte. „Ich | |
| gehe mit einem ganz anderen Blick hier durch“, sagt sie. „Man trifft Leute, | |
| die man kennt, oder läuft an Stellen vorbei, wo man schon mal jemandem | |
| geholfen hat – das schafft einen persönlichen Bezug.“ | |
| Die Sozialarbeiterin glaubt an eine Kombination aus Sozial- und | |
| Ordnungspolitik, um dem Elend etwas entgegenzusetzen. In ihren Augen | |
| bräuchte es mehr Unterkünfte, die Bedürftige nicht nur mit Essen, Trinken | |
| und Kleidung versorgen, sondern ihnen auch Hilfe dabei bieten, in einen | |
| normalen Alltag zurückzufinden. Viele Drogensüchtige seien keine Routine | |
| mehr gewohnt. Außerdem wünscht sich Branahl mehr gesellschaftliches | |
| Bewusstsein dafür, wie schnell Menschen in den Teufelskreis aus | |
| Obdachlosigkeit und Drogen geraten können – zum Beispiel durch den Wegfall | |
| von Job oder Gesundheit. „Unser Ziel darf es nicht sein, Obdachlosigkeit | |
| und Drogen zu verwalten, ohne uns zu fragen, was in der Gesellschaft schief | |
| läuft, sodass es überhaupt so weit kommt.“ | |
| Trotzdem ist Ordnungspolitik in Branahls Augen auch nötig. Sie beobachtet, | |
| dass alkoholisierte Menschen häufig aggressiv sind – eher als solche, die | |
| andere Drogen genommen haben. Manchmal müssten sie und ihre Kolleg:innen | |
| die Polizei rufen, damit die dann Platzverweise erteile. „Wir brauchen bei | |
| der Bahnhofsmission auch Schutz“, sagt Branahl. Alkoholisierte lässt sie | |
| nur in die Einrichtung, wenn sie sich ruhig verhalten. | |
| Nach Branahls Bahnhofsrundgang am Freitagabend sind das zum Beispiel zwei | |
| obdachlose Männer. Sie sind in die Bahnhofsmission gekommen, weil sie eine | |
| Unterkunft für die Nacht brauchen. In der Bahnhofsmission erfahren | |
| Bedürftige, wo sich die nächste Unterkunft befindet. Die beiden setzen sich | |
| an einen Tisch im Eingangsbereich, einer zieht eine Bierdose aus seiner | |
| Westentasche. Der andere bleibt reglos sitzen und starrt mit glasigen Augen | |
| vor sich hin. Er wirkt müde und niedergeschlagen. Eine junge Frau, die in | |
| der Bahnhofsmission ihr Freiwilliges Soziales Jahr macht, kümmert sich um | |
| die beiden Männer. In dieser Nacht gibt es nur noch eine freie Unterkunft. | |
| Der niedergeschlagene Mann legt den Kopf auf den Tisch und flüstert: „Am | |
| liebsten würde ich hier einschlafen und nie mehr wieder aufwachen. Ich habe | |
| keine Lebensqualität mehr.“ | |
| ## Grüne: Anblick verelendeter Menschen belaste | |
| Jenny Jasberg, Fraktionsvorsitzende der Grünen, versteht, dass Reisende | |
| oder Passant:innen der Anblick von verelendeten Menschen belastet. | |
| Natürlich müsse man solche Angstgefühle ernst nehmen. An die Abgeordneten | |
| der Grünen hätten sich in letzter Zeit viele Bürger:innen und | |
| Gewerbetreibende wie Restaurantbesitzer:innen gewandt und sich über | |
| die vielen Obdachlosen und Drogensüchtigen am Hauptbahnhof beklagt. | |
| Trotzdem greife es auf jeden Fall zu kurz, Süchtige durch Maßnahmen wie ein | |
| Alkoholkonsumverbot lediglich zu vertreiben. „Sie würden sich dann einfach | |
| woanders aufhalten. Dieses ‚Aus den Augen, aus dem Sinn‘-Konzept hat sich | |
| noch nie als besonders fruchtbar erwiesen“, sagt Jasberg. Sie schlägt mehr | |
| Hilfe in Form von Trinkerräumen vor, in denen Alkoholsüchtige konsumieren | |
| dürfen. Denn diese müssten neben Drogensüchtigen auch bei der Diskussion | |
| miteinbezogen werden. | |
| Drogenkonsumräume und Trinkerräume haben sich in den Augen von | |
| Betreiber:innen deshalb bewährt, weil sie Akzeptanz für die Situation | |
| der Süchtigen signalisieren und gleichzeitig oft Hilfe zum Ausstieg aus der | |
| Szene bieten. Drogenkonsumräume sind für die Betroffenen außerdem sicherer, | |
| unter anderem, weil sie hier mit sauberem Spritzbesteck und unter Aufsicht | |
| konsumieren können. | |
| Einen Drogenkonsumraum gibt es am Hamburger Hauptbahnhof mit dem „Drob Inn“ | |
| bereits. Hier stehen neben den medizinischen Utensilien Sportmatten, falls | |
| jemand beim Konsum überdosiert. Dann müssen Sozialarbeiter:innen die | |
| Betroffenen auf die Matten legen, um sie zu reanimieren. Wenn jemand in | |
| Lebensgefahr schwebt, rufen die Angestellten den Krankenwagen, der über | |
| eine extra eingebaute Tür direkt in den Drogenkonsumraum fahren kann. | |
| Viele Angebote zu Wegen aus der Sucht, etwa eine Entgiftung oder | |
| Eingliederungshilfe in ein Leben mit sozialer Teilhabe, können allerdings | |
| nur Menschen mit Krankenversicherung beanspruchen. Die ist manchen aber | |
| verloren gegangen oder sie fehlte von vornherein. EU-Bürger:innen müssen | |
| etwa für eine Krankenversicherung und die Inanspruchnahme von | |
| Sozialleistungen nachweisen, dass sie sich fünf Jahre lang arbeitssuchend | |
| in Deutschland aufgehalten haben. Das können viele nicht. „Und dann bleiben | |
| sie auf dem Platz vor dem Drob Inn, weil wo sollen sie sonst hin, wenn sie | |
| außerdem noch obdachlos sind?“, sagt Susanne Kirbach vom Verein | |
| Jugendhilfe, einem Beratungs- und Gesundheitszentrum in St. Georg und dem | |
| Träger des Drob Inn. | |
| Das Elend auf dem Vorplatz des Drob Inn ist unverkennbar. Menschen | |
| kampieren auf der platt getrampelten Wiese und warten darauf, dass die | |
| Einrichtung aufmacht. In der Luft hängt der Geruch von Urin, obwohl die | |
| Stadt inzwischen eine öffentliche Toilette auf dem Platz installiert hat. | |
| Vor dem Eingang der Jugendhilfe sitzen drei Personen, eine zündet sich eine | |
| Pfeife an. „Wir gehen ja schon“, sagt eine andere Person. „Sind wir ja | |
| gewohnt.“ | |
| ## Immer mehr Suchtkranke am Bahnhof | |
| Kirbach beobachtet mit Sorge, dass der Anteil der obdachlosen Suchtkranken | |
| in ihrer Klientel erheblich gestiegen ist. Auch Sarah Kessler von der | |
| Hamburgischen Landesstelle für Suchtfragen nimmt diese Entwicklung unter | |
| Hilfesuchenden wahr. Für Bedürftige gebe es zu wenig Wohnraum und | |
| Unterkünfte, sagt Kessler. Deshalb hielten sie sich am Hauptbahnhof und in | |
| der Nähe der Einrichtungen auf. Zwar bietet die Einrichtung „Nox“, die | |
| neben dem Drob Inn liegt, 30 Plätze für obdachlose Drogensüchtige an. Doch | |
| insgesamt sind laut Kirbach nicht genügend Unterkünfte für drogenabhängige | |
| Obdachlose geeignet. Denn in Unterkünften darf man nicht konsumieren, und | |
| außer dem mit dem Drob Inn verbundenen Nox gebe es keine Bleibe mit | |
| Drogenkonsumraum und ausreichend Personal, das sich um drogenabhängige | |
| Obdachlose kümmert. | |
| „Früher war es vormittags relativ leer auf dem Vorplatz vorm Drob Inn und | |
| wurde erst ab nachmittags voll“, erzählt Kirbach. „Jetzt sind hier manchmal | |
| vormittags schon knapp 100 Leute, weil so viele Menschen, die unsere | |
| Angebote in Anspruch nehmen, obdachlos sind.“ Insgesamt wird das Drob Inn | |
| laut Kirbach von etwa 400 Menschen täglich besucht. Dass sich der | |
| Drogenkonsum wieder vermehrt auf den Platz vor der Einrichtung ausgelagert | |
| hat und sich die Leute dort stärker ausgebreitet haben, sei außerdem ein | |
| Relikt aus der Pandemie, als weniger Menschen ins Drob Inn durften und die | |
| Abstandsregeln draußen eingehalten werden mussten. | |
| Die Hamburger Sozialbehörde will die ordnungspolitischen Maßnahmen der | |
| Stadt gegen das Elend im Umfeld des Hauptbahnhofs nicht bewerten. Zuständig | |
| seien andere Behörden. Das zuständige Bezirksamt Hamburg-Mitte findet, dass | |
| es in der Gegend rund um den Hauptbahnhof eine Überversorgung für | |
| Bedürftige gibt, etwa durch die Bahnhofsmission und die Tagesstätte. | |
| Deshalb und weil es den Verkehr behindere und für Müll sorge, sollen | |
| freiwillige Helfer*innen der Umgebung des Hauptbahnhofs jetzt keine | |
| Spenden wie Essen oder Kleidung mehr an Obdachlose verteilen. Die Polizei | |
| räumte erst kürzlich einen Stand, an dem gerade eine Verteilaktion | |
| stattfand. | |
| ## Kontrollen bringen nichts, so die Kritik | |
| Susanne Kirbach vom Drob Inn hält die vermehrten Kontrollen für nicht | |
| zielführend. „Wenn unsere Klientel nur durch die Gegend getrieben und immer | |
| mehr juristisch belastet wird, weil sie jeden Tag dreimal kontrolliert | |
| wird, dann ist damit niemandem geholfen“, sagt sie. Drogengebrauchende | |
| Menschen müssten mit Augenmaß kontrolliert werden und die | |
| ordnungspolitischen Maßnahmen sollten flankiert werden von Sozialpolitik. | |
| Das Drob Inn benötige mehr Personal, um die seit Kurzem erweiterten | |
| Öffnungszeiten auch stemmen zu können. Außerdem fordert Kirbach eine | |
| bessere medizinische Versorgung für Betroffene. Denn selbst mit | |
| Krankenversicherung setzten sich die meisten nicht mehr in normale | |
| Wartezimmer, weil sie sich für ihren Gesundheitszustand schämten. | |
| Wie Beatrix Branahl bekräftigt auch Susanne Kirbach, dass der Weg aus der | |
| Sucht keineswegs leicht sei. Viele aus der Klientel des Drob Inn hätten | |
| keine Ausbildung, und fast alle seit Ewigkeiten keinen Job. Einige hätten | |
| auch noch nie gearbeitet. „Wenn Sie die Leute auf dem Vorplatz fragen, was | |
| sie sich wünschen, dann sagen sehr viele, ich möchte eine Familie, eine | |
| Arbeit und eine Wohnung“, erzählt Kirbach. „Und leider sind die meisten | |
| Lichtjahre davon entfernt.“ | |
| 28 Sep 2023 | |
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| Katarina Machmer | |
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