| # taz.de -- Obdachlosenhilfe in Hamburg: Vom Bahnhof ins Wohngebiet | |
| > Die Spendenaktionen der Initiative „Schau nicht weg“ sollen weichen. Die | |
| > übrige Hilfeszene geht auf Distanz, auch wegen rechter Aussagen des | |
| > Vereins. | |
| Bild: Am Hamburger Hauptbahnhof hat sich eine „Hilfeszene“ für Obdachlose … | |
| Hamburg taz | Michael Joho und Christian Diesener sind sauer. Vorsitzender | |
| des [1][Einwohnervereins St. Georg] der eine, Vorstand der | |
| [2][Geschichtswerkstatt St. Georg] der andere, sitzen sie im gemeinsamen | |
| „Stadtteilbüro“ von Hamburgs Bahnhofsviertel. An den Wänden stehen | |
| regalmeterweise Bücher, dazwischen hängen alte Fotos. Aus dem Fenster | |
| blicken sie auf den Hansaplatz. | |
| Dort sollen am kommenden Samstag erstmals Spenden an Obdachlose verteilt | |
| werden, vom Verein „Schau’ nicht weg“. Der muss von seinem gewohnten Platz | |
| direkt am Hauptbahnhof ein paar hundert Meter weiter ziehen. Sogar die | |
| Polizei war vor ein paar Wochen angerückt, hatte Tische und Gaben | |
| abgeräumt. | |
| Mit Joho und Diesener hat keiner geredet, erfahren haben sie es aus dem | |
| Radio. Die beiden sind alte Kämpen der Stadtteilarbeit in St. Georg, | |
| positionieren sich seit Jahrzehnten gehen die Verdrängung von Obdachlosen | |
| aus dem öffentlichen Raum. Und auch diesmal betonen sie, einer Verteilung | |
| in St. Georg stehe grundsätzlich nichts im Weg. Doch die Aktion des Bezirks | |
| sei vorschnell und unüberlegt, sagt Joho, und sie widerspreche „einem | |
| ungeschriebenen Gesetz“, sozial belastete Orte nicht zusätzlich zu | |
| überlasten. | |
| Und der Hansaplatz ist so ein Ort. Immer wieder ist die Stadt dort gegen | |
| Trinker- und Drogenszene vorgegangen, hatte zeitweise dauerhaft Polizei | |
| stationiert, hat Sitzgelegenheiten demontiert und zuletzt eine neuartige, | |
| [3][KI-gestützte Videoüberwachung] installiert. | |
| „Warum sollte, was vor dem Bahnhof nicht zumutbar ist, hier zumutbar | |
| sein?“, fragt Diesener. Auch wenn im öffentlichen Diskurs gerade von einer | |
| Verschärfung der Obdachlosigkeit die Rede ist, sei das nicht mit den | |
| brisanten 90er-Jahren vergleichbar, sagt er. Kinder hätten nicht auf den | |
| Spielplatz gekonnt, ohne mit Heroinspritzen in der Hand zurückzukommen. | |
| Damals gab es einen runden Tisch mit der Polizei, bei dem ein inoffizielles | |
| Abkommen entstanden sei: Die Polizei habe in eine weniger repressive Praxis | |
| eingelenkt. Das Ziel war Entzerrung und Integration statt Verdrängung. Mit | |
| Erfolg: Das „Drob Inn“, eine Drogenberatungsstelle mit Konsumraum am | |
| Hauptbahnhof, sei ein Ergebnis, so Joho. Ein ähnliches Vorgehen wünscht er | |
| sich auch heute. Wenn weiterhin ohne Rücksicht auf die Anwohner*innen | |
| entschieden werde, wird es „eine böse Welle an Frust und Enttäuschung | |
| geben“. | |
| ## Bezirksamt in der Kritik | |
| Das Bezirksamt Hamburg Mitte muss von allen Seiten Kritik einstecken: | |
| „Stadt will Helfer verdrängen“ titelte die Hamburger Morgenpost, | |
| „Bezirksamt geht gegen Verteilaktion vor“ der NDR, „Probleme löst das | |
| nicht“ schrieb Die Zeit. Das Aus für die Obdachlosenhilfe auf dem | |
| Heidi-Kabel-Platz, direkt vor dem Ausgang des Hauptbahnhofs, passte allzu | |
| gut zum Vorhaben der Stadt, den [4][Bahnhof als Visitenkarte] Hamburgs in | |
| ein besseres Licht zu rücken. Seit dem 1. Oktober ist ein [5][Waffenverbot | |
| für den gesamten Hauptbahnhof] in Kraft, ein Alkoholverbot soll im | |
| kommenden Jahr folgen. | |
| Der Hamburger Hauptbahnhof ist Aufenthaltsort von zahlreichen obdachlosen, | |
| alkohol- und drogenkranken Menschen. Für sie hat sich über viele Jahre eine | |
| Art „Hilfeszene“ entwickelt, mehrere Vereine und Initiativen verteilen | |
| Spenden und beraten die Menschen. | |
| Mitte September kam es zur polizeilichen Räumung der Verteilaktion von | |
| „Schau’ nicht weg“ auf dem Heidi-Kabel-Platz, da der Verein keine gültige | |
| Genehmigung hatte. Das Bezirksamt Mitte teilte mit, die Verlegung auf den | |
| Hansaplatz sei auf Vorschlag von „Schau’ nicht weg“ selbst zustande | |
| gekommen. Der Verein dagegen war von einer vorläufigen Duldung seiner | |
| Vergabe ausgegangen. Er beschreibt die Verlegung als „zwangsweise“ und | |
| bemüht eine Petition und rechtliche Schritte dagegen. | |
| Ein Grund dafür findet sich schon im Namen des Vereins: Die unmittelbare | |
| Hilfe ist nur eines seiner Ziele, gleichzeitig will er auf Obdachlosigkeit | |
| als politisches Problem aufmerksam machen. Und das geht eben dort am | |
| besten, wo möglichst viele Menschen zusammenkommen. Daraus entstehen | |
| Nutzungskonflikte, die das Bezirksamt mit der Verlegung entschärfen wollte. | |
| Im dem Konflikt steht „Schau’ nicht weg“ allein. Von den sechs Initiative… | |
| die rund um den Hauptbahnhof Spenden verteilen, stehe der Großteil seit | |
| Jahren in gutem Kontakt mit dem Bezirksamt und sei auch aktuell zu | |
| Gesprächen bereit, heißt es von dessen Pressestelle. Die Initiative | |
| „Zwischenstopp Straße“ etwa stehe problemlos regelmäßig mit Spenden vor … | |
| Saturn-Filiale gegenüber dem Bahnhof. Mehrere Initiativen koordinierten | |
| ihre Arbeit über eine Whatsapp-Gruppe, sagt eine Freiwillige. „Schau’ nicht | |
| weg“ sei jedoch nicht dabei. | |
| Durchaus beabsichtigt: Ihre Klientel bestehe hauptsächlich aus | |
| Rentner*innen, sagt die Vereinsvorsitzende Jule Wennmacher. Eine | |
| Verteilung näher am Drob Inn und zusammen mit Drogenabhängigen komme daher | |
| für ihren Verein nicht infrage. | |
| ## Rechte Posts auf Facebook | |
| Auch politisch gibt es Differenzen: „Schau’ nicht weg“ hat im September in | |
| Facebook-Einträgen behauptet, Geflüchtete erhielten weiterreichende | |
| Sozialleistungen als „in Armut lebende Deutsche“, wie das Hamburger | |
| Abendblatt berichtete. Die Einträge waren kurz darauf schon wieder | |
| gelöscht. Für die Engagierte einer der anderen Initiativen ist jedoch klar: | |
| „Die eine Not hat mit der anderen nichts zu tun.“ Die Aussagen Wennmachers | |
| seien „rechtsradikales Gerede“, in dem Geflüchtete gegen deutsche | |
| Rentner*innen und Obdachlose ausgespielt würden. | |
| Ihre Postings seien missverstanden worden, meint Wennmacher zur taz. Ihren | |
| Verein als rechts einzuordnen, findet sie „vollkommen absurd“. Schließlich | |
| arbeiteten auch „Flüchtlinge“ bei den Verteilaktionen mit. | |
| Im gleichen Atemzug benennt Wennmacher Migration als ein Thema, „mit dem es | |
| bestimmte Probleme gibt“. Sie findet, dass in Deutschland Ankommende das | |
| Recht haben, versorgt zu werden, betont aber wiederholt, dass | |
| Rentner*innen und Wohnungslose zum Beispiel bei der Wohnungssuche | |
| „gegenüber Flüchtlingen benachteiligt“ würden. Eine Einschätzung, die in | |
| ihren Augen „nicht bedeutet, dass ich rechtsgerichtet denke“. Wennmacher | |
| betont auch, sie nehme bei der Hilfeleistung keine Differenzierung nach der | |
| Herkunft der Bedürftigen vor; weder bevorzuge sie Deutsche, noch | |
| benachteilige sie Ausländer. | |
| Am Dienstag dann ein neuer Post: „Rumänische, Bulgarische, etc. Banden“, | |
| die „Geschäfte“ am Hauptbahnhof betreiben würden, seien keine Gäste bei | |
| „Schau’ nicht weg“, betont der Verein darin. | |
| Der Experte für anti-osteuropäischen Rassismus, [6][Jannis Panagiotidis], | |
| von der Universität Wien sieht in dem Post das Bild des „stereotypisierten | |
| süd-osteuropäischen ‚Armutsmigranten‘ bedient, der angeblich nur nach | |
| Deutschland kommt, um den Sozialstaat auszunutzen – oder halt gleich | |
| kriminell ist“. Für ihn ein klarer Fall von anti-osteuropäischem Rassismus | |
| und Antiziganismus. | |
| Transparenzhinweis: Wir haben den Text um Wennmachers Äußerung ergänzt, | |
| dass sie bei der Gewährung von Hilfe nicht nach der Herkunft der | |
| Bedürftigen unterscheide, weil dieser Eindruck sonst irrtümlicherweise | |
| entstehen könnte. Die Redaktion | |
| 14 Oct 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://ev-stgeorg.de/ | |
| [2] https://gw-stgeorg.de/ | |
| [3] /Ueberwachung-von-Drogenszene/!5933508 | |
| [4] /Polizei-vertreibt-Bettler-aus-Innenstadt/!5921450 | |
| [5] /Unerwuenschte-Klientel/!5960136 | |
| [6] https://www.zeit.de/zett/politik/2021-04/jannis-panagiotidis-rassismus-weis… | |
| ## AUTOREN | |
| Hellen Kachler | |
| Amira Klute | |
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