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# taz.de -- Betteln im Bahnhof: „Geh doch arbeiten“
> Eine Hamburger Amtsrichterin verurteilte einen Obdachlosen, weil er
> wiederholt im Hauptbahnhof schlief. Manche Bahn-Kund:innen begrüßen das.
Bild: Ganz klar im Bild zu erkennen: Das größte Problem im Hamburger Hauptbah…
Die Frau hat nur darauf gewartet, dass er sie anspricht in seinem
weinerlich-unterwürfigen Tonfall, [1][wie ihn nur Junkies] drauf haben.
„Darf ich Sie etwas fragen, bitte?“ Diese Frage hatte er gerade jemand
anderem auf dem Bahnsteig gestellt, direkt vor der Bank, auf der die Frau
und ich auf unseren Zug im Bremer Hauptbahnhof warten.
Sie ist vielleicht 70, klein, mit rot gefärbten Haaren und sie lauert auf
die nächste Frage, damit sie ihm ihre Antwort entgegengiften kann. „Ja,
fragen Sie nur“, antwortet sie ausgesucht höflich. „Hätten Sie vielleicht
etwas Kleingeld für mich“, sagt er und schiebt noch ein paar Sätze
hinterher, die in einer Minute erklären sollen, wie er in diese missliche
Lage geraten ist und warum er sich natürlich nur etwas zu Essen kaufen
werde.
Er hat noch nicht zu Ende gesprochen, da faucht sie ihn schon an: „Gehen
Sie arbeiten! Da unten …“ – sie gestikuliert in Richtung Treppe, die
hinunter führt zu Geschäften und Fressbuden – „… gibt es lauter Jobs, d…
suchen alle, es gab noch nie so viele offene Stellen!“
Mir platzt augenblicklich der Kragen und jetzt bin ich diejenige, die
keift: „Nicht alle können arbeiten, manche sind psychisch krank!“,
schleudere ich ihr entgegen, woraufhin sie mich anpampt, sie habe trotz
Schwerbehinderung 45 Jahre gearbeitet. „Na, wenn es Ihnen gut getan hat,
ist das ja schön für Sie“, sage ich und referiere zu den Folgen von in der
Kindheit erlebtem sexuellen Missbrauch und anderer Gewalt. „Ach, hören Sie
auf“, sagt sie und macht eine abfällige Geste mit der Hand, um mich zum
Schweigen zu bringen. Sie muss aber noch etwas loswerden: „Überall wird man
angebettelt“, sagt sie, und jetzt klingt sie weinerlich.
Ich bin leider viel zu wütend, um ihr zu erklären, dass der Bettler genauso
Opfer dieses Schweinesystems ist wie sie und sie ihre Wut lieber gegen
diejenigen richten sollte, die dafür verantwortlich sind, dass so viele
Menschen unter die Räder geraten und sie mit Schwerbehinderung arbeiten
muss.
Allerdings hätte ich ihr nicht erklären können, wen ich damit meine, weil
„die da oben“ zwar nicht ganz falsch ist, aber auch nicht ganz richtig, und
sie würde damit wahrscheinlich Politiker:innen meinen und alle, die
nach ihrer Vorstellung mit ihnen in einem Boot sitzen, also
Journalist:innen wie mich und andere vermeintliche Angehörige einer
Elite, während ich vage an Produktionsmittelbesitzer:innen denke.
Also steige ich in den Zug und ärgere mich darüber, die Gelegenheit
verpasst zu haben, einen Menschen zum Nach- oder sogar Umdenken zu bringen.
Der Junkie hat sich in der Zwischenzeit verkrümelt und kommt jetzt noch
einmal zu mir, um sich zu bedanken, was ich gar nicht will, weil ich bei
allem Verständnis Männer wie ihn meide, wegen ihres Geruchs, ihrer latenten
Aggressivität und vor allem, weil sie mich daran erinnern, dass ich die
himmelschreienden Ungerechtigkeiten längst akzeptiert habe, anstatt auf der
Stelle die Weltrevolution auszurufen.
## Verurteilt wegen Schlafens
Wenige Tage später [2][lese ich in der Süddeutschen Zeitung], dass eine
Hamburger Amtsrichterin einen 32-jährigen Obdachlosen zu einer Geldstrafe
verurteilt hat, weil er im Hamburger Hauptbahnhof gebettelt und geschlafen
hat. Der Autor zitiert aus dem Urteil die Lebensgeschichte des Mannes.
Alkohol- und drogenabhängiger Vater, der das Kind verprügelte, schwere
Verhaltensstörungen, abgeschoben in ein Heim für „schwer Erziehbare“,
eigene Alkoholabhängigkeit schon als Minderjähriger, Drogen, suizidal.
Die Live-Vorführung solcher Lebensgeschichten möchte die Deutsche Bahn
denen ersparen, die im Hamburger Hauptbahnhof nicht überleben, sondern zum
Shoppen dort sind oder zum Zugfahren, [3][und zeigt die Obdachlosen deshalb
an]. Dabei hat nun ausgerechnet der stets überfüllte Hamburger Hauptbahnhof
größere Probleme – und wenn ich noch einmal mit Kindern und/oder Fahrrädern
dort umsteigen muss, zeige ich hinterher die Bahn an, wegen fahrlässiger
Körperverletzung.
3 Jun 2023
## LINKS
[1] /Obdachlosigkeit-und-Aufbruch/!5931604
[2] https://www.sueddeutsche.de/leben/hauptbahnhof-hamburg-deutsche-bahn-obdach…
[3] /Repressive-Drogenpolitik-in-Hamburg/!5902050
## AUTOREN
Eiken Bruhn
## TAGS
Drogenhilfe
psychische Gesundheit
Obdachlosigkeit in Hamburg
Obdachlosigkeit
Psychische Erkrankungen
Kolumne Ethikrat
Wohnungslosigkeit
Housing First
Lesestück Recherche und Reportage
Hannover
Polizei Hamburg
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