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# taz.de -- Hilfsbereitschaft gegenüber Obdachlosen: Gib dem Bettler nichts
> Natürlich kann man so tun, als sei es Güte, Bettelnden nichts zu geben.
> Aber man sollte nicht erwarten, dass es irgendjemand überzeugt.
Bild: Gleichgültigkeit als Güte zu verkaufen, ist nicht die Lösung
Kürzlich besuchte ich einen Stimmbildungskurs in der Volkshochschule. Ich
erhoffte mir davon eine Stimme, die bei größeren Konferenzen und gegenüber
tobenden Schulkindern durchdringen könnte, aber die Kursleiterin machte mir
keine falschen Hoffnungen. „Man muss viel üben“, sagte sie, und dann sagten
wir Zungenbrecher in halsbrecherischem Tempo auf. Der Kurs war ausgebucht
mit Frauen, die ihre Nervosität beim Sprechen hinter sich lassen wollten,
und wenigen Männern, denen Unsicherheit fremd schien. Aber vielleicht
verbargen sie die auch nur sehr routiniert.
Es war auch eine junge Frau dabei, die mit Obdachlosen arbeitete. Sie
erzählte, wie sie einmal dazu kam, als ihre Chefin einem Obdachlosen die
Füße wusch. Es hatte sie beeindruckt, es beeindruckte auch die
Stimmschüler:innen. Aber dann kam die Rede auf [1][Bettelnde und wie man
mit ihnen umging]. Einer der Männer sagte: Ich gebe ihnen nichts, weil sie
das Geld nur für Drogen ausgeben. Einmal, sagte der Mann, hätte er einem
Bettler angeboten, im nächsten Laden gemeinsam etwas zu essen zu kaufen,
aber der Bettler habe das abgelehnt. Der Nichtdrogenfinanzierer klang
zufrieden, vermutlich wegen der klugen Versuchsanordnung, seiner Klarsicht
und seiner Konsequenz. Niemand widersprach.
Auch ich schwieg und ging auf den Volkshochschulflur, wo ich auf den
Ethikrat stieß. Der Ethikrat, das sind drei ältere Herren von geringer
Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen praktischer Ethik geben. Der
Rat trug etwas Pyjama-Artiges und eines der Mitglieder, das in der Regel
schwieg, trat vor, machte einen wiegenden Schritt zurück, dann nach vorn
und streckte den rechten Arm aus. „Den Affen abwehren“, rief der
Vorsitzende.
Das schweigende Mitglied deutete eine Verbeugung an und der Rat
applaudierte. „Besuchen Sie auch einen Kurs?“, fragte ich. „Wir versprech…
uns mehr Beweglichkeit vom Qi Gong“, sagte der Vorsitzende. „Und Sie?“ �…
arbeite an meiner Stimme“, sagte ich. Aber könnten Sie mir vielleicht noch
einen argumentativen Hinweis geben?“
## Langsamer Tod im Gebüsch
Der Rat nickte und ich beschrieb ihm die Nichtdrogenfinanzierungsthese.
„Und es stimmt doch“, sagte ich, „dass man manchmal aus Bequemlichkeit
etwas tut, was gar nicht hilft, zum Beispiel …“ Ich überlegte. „Zum
Beispiel, wenn ich unserem Kater halbtote Vögel entreiße: Es beruhigt mein
Gewissen, aber meine Anteilnahme reicht nicht so weit, dass ich mit ihnen
zum Tierarzt führe. Stattdessen sterben sie langsam im Gebüsch.“
Ich schwieg, das Beispiel war schlecht. „Erst dachte ich, ich könnte dem
Nichtgeber entgegenhalten, dass er keine Alternative anbietet, aber ich
vermute, dass er dann sagen würde: Es gibt ja genügend staatliche Stellen,
die sich kümmern. Und mehr tun, als nur die Drogensucht zu verlängern.“
Der Ethikrat stellte sich in einer Dreierreihe auf und begann, einige
unsichtbare Affen zu vertreiben. „Wir sollten uns an dieser Stelle an
Senecas Kennzeichen des fortschreitenden Philosophen erinnern“, sagte der
Ratsvorsitzende, während er einen Affen abwehrte: „,Er macht niemand
Vorwürfe und spricht nicht von sich, als bedeute oder wisse er was'.“
Der Vorsitzende holte kurz Luft. „Er beleidigt nicht unsere
Auffassungsgabe, indem er Gleichgültigkeit als Güte verkauft.“ Er wandte
sich mir zu: „Beschreiben Sie doch den Mann, von dem die Rede war.“
„Dunkles Haar, Bart“, begann ich und stockte kurz. Ich hatte den Rat noch
nie so aufgebracht gesehen. „Sicher ist Ihnen Plutarchs Überlegung, wie man
den Zorn besiegt, geläufig“, sagte ich. „Sicher“, sagte der Vorsitzende.
„Es ist Raum 47“, sagte ich. „Der Nicht-Fortschreitende sitzt ganz rechts…
12 Feb 2024
## LINKS
[1] /Hilfe-fuer-Obdachlose/!5946235
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Kolumne Ethikrat
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