Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Im Zeichen der Unendlichkeit: Die Furcht vorm Klassentreffen
> Unsere Autorin will nicht zum Jubiläum ihrer Journalistenschule gehen.
> Wieder mal ein Fall für den Ethikrat.
Bild: Die Punks sind auch nicht mehr das, was sie waren
Vor ein paar Wochen bekam ich die Einladung zum Jubiläum meiner
Journalistenschule. Im Programm sind Veranstaltungen mit all denen
angekündigt, die berühmt und wichtig geworden sind, und ich gehöre ganz
sicher nicht dazu. Ich war noch nie bei einem Klassentreffen, außer dem
meiner Grundschulklasse, und das ist sehr lange her.
Ist es kleinmütig oder klug, nicht hinzugehen, fragte ich mich und dann
dachte ich, dass ich den Ethikrat fragen sollte. Der Rat, das sind drei
ältere Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Hinweise in Fragen
praktischer Ethik geben. [1][Zuletzt hatte ich sie in einem Friseursalon
getroffen], den sie in einem Moment philosophischen Ungenügens übernommen
hatten.
Das Schild „Schöne Schnitte von philosophischer Hand“ hing noch immer im
Fenster und zu meiner Überraschung war ein Kunde dort. Der Ratsvorsitzende
stand in einem weißen Kittel neben einem Friseurstuhl, in dem ein Punk mit
Irokese saß.
„Was habt ihr so“, fragte er und zeigte auf ein Schild, das neben dem Stuhl
hing: „Nur hier: Philosophische Symbole gegen geringen Aufpreis“. „Wie w�…
es mit dem Unendlichkeitszeichen?“, bot der Ratsvorsitzende an. „Das Runde
ist nicht so meins“, sagte der Punk und strich prüfend über die Spitzen
seines Irokesen. „Dann vielleicht eine Gleichung“, schlug der Vorsitzende
vor. „Wie wäre: kleiner gleich größer, da würden Sie ein Bekenntnis zur
Nachhaltigkeit mit eckigen Formen verbinden.“ „Aber kommen wir da in die
Höhe, da ist doch wenig Drama drin“, sagte der Punk unzufrieden. „Mal mir
das doch mal auf.“ Der Ratsvorsitzende sah ihn unfroh an. Vielleicht war
der Rat doch nicht fürs Dienstleistungswesen geschaffen. „Haben Sie Papier
bei sich, Frau Gräff?“, wandte er sich an mich.
## Selbst konstruiertes Szenario
„Bestimmt“, sagte ich und gab ihm einen verknitterten Einkaufszettel. „Ka…
ich Sie nebenbei etwas fragen?“ „Natürlich“, sagte der Ratsvorsitzende.
„Wenn das jetzt nicht ewig dauert“, meinte der Punk, „ich hab auch noch
Termine.“ „Ich bin zu einem Klassentreffen eingeladen“, sagte ich, „aber
ich möchte nicht hin, weil ich fürchte, dass alle, so ganz nebenbei,
erzählen, dass sie Korrespondentleitungsmoderator:indings
geworden sind, während ich im Regionalnirgendwo stagniere.“ „Halten Sie es
für möglich, dass Sie selbst ein solches Konkurrenzszenario konstruieren“,
sagte der Vorsitzende, während er ein ˂=˃ auf meinen Einkaufszettel
schrieb.
Der Punk sah kritisch auf den Zettel. „Da fehlt mir die Spannung“, sagte
er. „Man könnte es vertikal spiegeln, um mehr Dramatik zu erreichen“,
schlug der Ratsvorsitzende vor und drehte den Zettel. „Sorry“, sagte der
Punk, „ich fühl das nicht.“ Die Punks sind auch nicht mehr das, was sie mal
waren, dachte ich. Ich dachte zurück an das eine Klassentreffen, das ich
besucht hatte. Die Jungs, die mich früher mit allen Schikanen niedergemacht
hatten, waren von unwirklicher Freundlichkeit gewesen, ebenso wie das
Mädchen, mit dem sich meine Schwester auf dem Spielplatz geprügelt hatte.
Warum, dachte ich, hat sich der Kleinmut bei mir eingenistet wie die Quecke
bei uns im Garten und überwuchert alles andere?
„Ich möchte Ihnen Epiktet in Erinnerung rufen“, sagte der Ratsvorsitzende.
„Nicht die Tatsachen selbst beunruhigen die Menschen, sondern die Meinungen
darüber.“ In diesem Moment öffnete sich die Tür und eine sehr kleine alte
Dame mit weißen Zöpfen betrat den Laden. „Ich suche die Absolventen des
Jahrgangs 29 für ein Jubiläumstreffen der Philosophischen Fakultät“, sagte
sie und betrachtete nachdenklich den Ratsvorsitzenden. „Man sagte mir, ich
solle hier nachforschen.“ „Bedauerlicherweise sind sie verreist“, sagte d…
Vorsitzende, ohne zu erröten. „Aber ich könnte Ihnen einen
Unendlichkeitszopf anbieten.“
23 Apr 2024
## LINKS
[1] /Misslungene-Frisuren-und-andere-Probleme/!5994436
## AUTOREN
Friederike Gräff
## TAGS
Kolumne Ethikrat
Schwerpunkt Stadtland
wochentaz
Handy
Kolumne Ethikrat
Buch
Schwerpunkt Stadtland
Kolumne Ethikrat
Kolumne Ethikrat
Schwerpunkt Stadtland
## ARTIKEL ZUM THEMA
Ethikrat: Tausche Schleich-Pferd gegen Handy
Was tun, wenn das Kind die Freude an Design-Handys entdeckt? Der Ethikrat
setzt pädagogische Maßstäbe, die man fast nur verfehlen kann.
Unerfreuliche Begegnungen: Über das Zurückweichen
Was tun, wenn dich jemand vor den Augen deiner Kinder aggressiv angeht? Die
Antwort weiß vielleicht der Ethikrat.
Über Lieblingsbuchhandlungen: Wie ich einmal Hass auf mich zog
Ein Geschenkgutschein für eine große Buchhandelskette, oh, mein Gott! Was
bloß tun? Unsere Kolumnistin steckt in einem Dilemma – und schreibt
darüber.
Bargeldwüste in den Niederlanden: Nur Bares ist Wahres
Wenn die Karte funktioniert, ist ja alles gut. Wenn nicht, steht man dumm
da. In der Provinz wie in der Großstadt. Über Bargeld – und die
Niederlande.
Misslungene Frisuren und andere Probleme: Vom Ungenügen, mittelmäßig zu sein
Wenn selbst der Ethikrat an der eigenen Unzulänglichkeit verzweifelt, wird
es schwierig. Wer soll einem dann den Weg aus der Misere weisen?
Hilfsbereitschaft gegenüber Obdachlosen: Gib dem Bettler nichts
Natürlich kann man so tun, als sei es Güte, Bettelnden nichts zu geben.
Aber man sollte nicht erwarten, dass es irgendjemand überzeugt.
Platzfragen bei einer Fahrt im Zug: Die Beschämung in den Sitzreihen
Im Zug kommt man anderen Menschen oft nahe. Natürlich geht es auch dabei um
das Aushandeln von Dissonanzen im öffentlichen Raum, sagt der Ethikrat.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.