# taz.de -- Ethikrat: Tausche Schleich-Pferd gegen Handy | |
> Was tun, wenn das Kind die Freude an Design-Handys entdeckt? Der Ethikrat | |
> setzt pädagogische Maßstäbe, die man fast nur verfehlen kann. | |
Bild: Die elfjährige Tochter möchte ein Designerhandy: Ist sie nicht immun ge… | |
Kürzlich kam ich aus einem Paketshop, als ich den Ethikrat auf einer Bank | |
auf der anderen Straßenseite sitzen sah. Der Ethikrat, das sind drei ältere | |
Herren von geringer Größe, [1][die mir gelegentlich Hinweise in Fragen | |
praktischer Ethik geben]. Als ich näher kam, sah ich, dass der Vorsitzende | |
neben einem winzigen Greis saß. Der Greis trug einen Hut, unter dem er | |
nahezu verschwand, und der Ratsvorsitzende hielt seine Hand. Neben der Bank | |
stand ein Rollator von der Größe eines Puppenwagens. | |
„Darf ich Ihnen meinen Vater vorstellen“, sagt der Vorsitzende und wies auf | |
mich. „Das ist Frau Gräff.“ Der Greis lächelte und zog seinen Hut. „Gut… | |
Tag“, sagte ich geehrt und verlegen. Ratsmitglieder, Kolleg:innen oder | |
Feinde in ihrer Eigenschaft als Familienmitglieder zu sehen ist erhellend, | |
es macht sie in etwa so verletzlich wie Leute, die man beim Schlafen | |
betrachtet. | |
„Ich möchte Sie nicht aufhalten“, sagte ich, aber der Ratsvorsitzende | |
wehrte ab: „Keinesfalls“, sagte er. „Vielleicht möchten Sie uns eine | |
philosophische Fragestellung vorlegen?“ Ich war überrascht, weil der | |
Vorsitzende oft nur am Rande an meinen Fragen interessiert war, aber dann | |
sah ich den wohlwollenden Blick, mit dem der Greis auf seinen Sohn sah, und | |
raffte mich zusammen. „Ich habe gerade das Päckchen weggebracht, in dem | |
meine Tochter ihre Schleich-Pferde verkauft“, sagte ich. „[2][Sie möchte | |
Geld verdienen, um ein Handy zu kaufen, das wir ihr nicht bezahlen]. Aber | |
weil man als Elfjährige nicht kellnern kann, bleibt nur etwas bei uns zu | |
Hause als Einnahmequelle. Ich möchte sie aber nicht fürs ganz normale | |
Helfen bezahlen. Und extra gibt es nicht viel zu tun.“ | |
## „Man nennt es wohl Selbstwirksamkeit“ | |
Ich stoppte. Meine Fragestellung war zu banal, um das Attribut | |
philosophisch zu verdienen. „Was ich meine, ist: Ich möchte unseren | |
Haushalt nicht in eine kleinkapitalistische Geldmaschine verwandeln. Aber | |
ich sehe auch, dass das Kind die Möglichkeit haben sollte, etwas zur | |
Erfüllung eines Wunsches beizutragen. Man nennt es heute wohl | |
Selbstwirksamkeit.“ | |
Der Ratsvorsitzende nahm eine große Tasche, aus der er eine karierte | |
Wolldecke zog, die er sorgfältig über die Beine seines Vaters legte. Dann | |
wandte er sich mir zu. „Ich möchte Sie an Epiktet erinnern“, sagte er. „… | |
Erfordernisse des Leibes wie Essen, Trinken, Kleidung, Wohnung nimm dich | |
an, soweit das einfache Bedürfnis reicht, was aber dem Schein und dem | |
Wohlleben dient, das streiche ganz.“ Er lächelte, und vermutlich war es | |
das, was mich auf die Palme brachte. „Wollen Sie sagen, dass ich zu wenig | |
Anstrengungen unternehme, um mein Kind immun gegen Statussymbole zu | |
machen?“, fragte ich. „Und ist nicht andererseits digitale Abstinenz das | |
Statussymbol eines verunsicherten Bildungsbürgertums?“ | |
Der Ratsvorsitzende schien das Interesse an der Fragestunde zu verlieren. | |
„Möchtest du etwas Tee, Vater?“, wandte er sich an den Greis und holte eine | |
Thermoskanne aus seiner Tasche. „Ich habe auch Kekse gebacken“, sagte er | |
und zog eine zerbeulte Dose hervor, in der dunkle Klumpen lagen. Ich fühlte | |
mich überflüssig und setzte mich auf eine Nachbarbank, um das Ausmaß von | |
Schein und Wohlleben in meiner Familie abzustecken. | |
Da hörte ich das Geräusch von schleifenden Rädern. Es war der Vater des | |
Ratsvorsitzenden, der sehr langsam mit seinem winzigen Rollator näher kam. | |
„Ich bitte um Nachsicht mit meinem Sohn“, sagte er und legte seine schmale | |
Hand auf meinen Arm. „Immer und immer sage ich ihm, dass er sich von | |
Epiktet lösen muss. Für die Ontologie der [3][Digitalität] braucht es einen | |
neuen Blick.“ Er zog einen Keksklumpen aus einem Fach des Rollators und bot | |
ihn mir an. „Danke“, sagte ich. „Er meint es ja gut.“ | |
25 Jun 2024 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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