| # taz.de -- Frei von Smartphone: Mein Leben ohne Äppärät | |
| > Unsere Autorin surft das Web wie ein Profi. Aber eine Welle reitet sie | |
| > nicht mit – die des Smartphones. Damit ist sie nicht allein. | |
| Neulich, in einer lauen Spätsommernacht, empfing ich ein Signal aus der | |
| Zukunft. Ich sah ein Schild, mitten in Berlin, an der Torstraße, wo | |
| App-Entwickler ihre Spesen mit ApplePay bezahlen, während Uber-, Bolt- und | |
| Lieferando-Fahrer wie ausgehungerte Wespen um den Block kreisen, allzeit | |
| bereit, über ein Samsung Galaxy, ein Sony Xperia oder ein Xiaomi für einen | |
| Auftrag angepingt zu werden; wo formschöne Influencer, rummelplatzlustige | |
| Tik-Toker und Insta-Touris ihre Storys drehen: Ich, wie ich wieder einmal | |
| sehr viel Fun habe und mega cute wirke dabei, und Tinder-Opfer auf ihre | |
| Wisch-und-weg-Dates warten. Dort, zwischen all den elektrisch blau | |
| beleuchteten Gesichtern, sah ich also das Schild, und das Schild sah mich, | |
| und wir beide wussten: Etwas kippt gerade. Etwas wird sich ändern. | |
| Das Schild flimmerte nicht und machte keinerlei Geräusch, man konnte sich | |
| nicht mit ihm unterhalten. Es befand sich auch kein QR-Code darauf. Es | |
| handelte sich um eine schlichte Schiefertafel, sie stand vor einem Lokal, | |
| jemand hatte mit Kreide drauf geschrieben: „Wir haben kein WLAN! Redet | |
| miteinander! Tut so, als wäre es 1995!“ | |
| Vor Rührung blieb ich kurz stehen. Dieses Schild war wie ein Trost. Nein, | |
| es war viel mehr, es war wie eine lang ersehnte Bestätigung: Ich hatte | |
| recht gehabt, die ganze Zeit, all die updatehysterischen Jahre über. | |
| Die Sache ist die: Ich lebe ohne Smartphone. Stur, stolz und schon immer. | |
| Eigentlich dürfte es jemanden wie mich gar nicht mehr geben. Deshalb | |
| reagieren viele Menschen irritiert auf diese Information, und aus diesem | |
| Grund schicke ich drei Punkte lieber gleich mal voraus. | |
| Erstens: Ich habe nichts gegen das Internet, im Gegenteil. Junge Leute, die | |
| zwischen 1995 und 2012 zur Welt kamen, werden in den Medien jetzt als | |
| „iGen“ bezeichnet, als „iGeneration“ – „i“ wie iPhone. Menschen w… | |
| zwischen 1965 und 1980 geboren, gelten als „Generation X“, wobei das X | |
| symbolisch auf Restspuren von Punk, auf eine „Indie-Kultur“ verweisen soll. | |
| Fakt ist: Wir sind die Pionier:innen des Internets, diejenigen, die es | |
| überhaupt erst zum Laufen gebracht haben, damals, in den Tiefen der | |
| Neunziger. Meine Altersgruppe war es, die Wikipedia oder Youtube mit ersten | |
| Inhalten füllte, und auch heute schalte ich „das Netz“ noch beinahe tägli… | |
| ein und mache mich bei Instagram interessanter, als ich bin, wie Millionen | |
| andere auch. | |
| Zweitens: Ich bin von progressivem Temperament, halte etwa das Elektroauto, | |
| die neuartigen mRNA-Impfstoffe und die digitale Steuererklärung für | |
| wertvolle zivilisatorische Errungenschaften. | |
| Drittens: Ich bin in keinster Weise religiös, und das Wort „Achtsamkeit“ | |
| löst einen unangenehmen Juckreiz bei mir aus. Weder will ich predigen noch | |
| irgendwen zu meiner Lebensweise bekehren. Vernünftigerweise müsste ich | |
| sogar davon abraten, denn der Alltag ohne Smartphone ist über die Jahre | |
| immer beschwerlicher geworden. | |
| Wovon ich hier erzählen will, das ist eben dieses Kreideschild vor dem | |
| Lokal in Berlin-Mitte. Vielmehr das, was vorne drauf steht: „Redet | |
| miteinander! Tut so, als wäre es 1995!“ | |
| Ich warf einen Blick in das Lokal und sah dort ausschließlich junge Leute, | |
| viele waren 1995 vermutlich noch nicht mal geboren. Während ich 1995 schon | |
| 25 war und gerade meinen ersten „Home PC“ hochfuhr, mit einem klobigen | |
| „Tower“, einem Bildschirm mit grüner Schrift auf schwarzem Grund, einem mal | |
| röchelnden, mal kreischenden Modem und einer 12-stelligen | |
| Compuserve.com-E-Mail-Adresse. Ich war, im Tech-Jargon gesprochen, ein | |
| „early adopter“. | |
| Heute bin ich in den Augen der 25-Jährigen eine alte Frau. Das nehme ich | |
| ihnen nicht übel, etwas anderes erscheint mir viel wichtiger: Qua Alter | |
| könnte ich ihre Mutter sein, aber über tausend Umwege auf der | |
| „Datenautobahn“ (*LOL*) werden wir womöglich gerade zu Geschwistern im | |
| Geiste. | |
| Das Schild ist nämlich nur ein Indiz von vielen. Es mehren sich die | |
| Hinweise, dass sich gerade eine kleine Welle formiert: eine | |
| Anti-Smartphone-Bewegung. Das Erstaunliche ist: Die meisten sind noch keine | |
| 30, manche, von denen ich noch erzählen werde, haben gerade erst den 17. | |
| Geburtstag hinter sich, sind im rosigen Snapchat-Alter. | |
| Von einer sich ausbreitenden „Ernüchterung gegenüber allgegenwärtigen | |
| digitalen Seinsformen“ spricht etwa das Wirtschaftswissenschaftsduo Mariam | |
| Humayun und Russell Belk. Die Kanadierin und der Amerikaner glauben, den | |
| Anbruch einer „postdigitalen Ära“ festgestellt zu haben, und sammeln seit | |
| 2020 Anzeichen für einen „[1][subtilen Widerstand gegen die ständige | |
| Beschleunigung des Lebens]“. | |
| Von einem „No-Smart-No-Surf-Movement“ reden andere, und auch der | |
| Informatikprofessor und Internetphilosoph Cal Newport konstatiert einen | |
| lebendigen „Aufmerksamkeitswiderstand“. | |
| ## Vom Digitalen Minimalismus und Neo-Ludditen | |
| Newport ist der bekannteste Vertreter des „[2][Digitalen Minimalismus]“. Er | |
| rät, die angeblich so smarten Phones öfter mal links liegen zu lassen oder | |
| sie, noch besser, zu entsorgen und durch ein altmodisches Tastenhandy zu | |
| ersetzen – der seelischen Gesundheit wegen. Besonders beliebt hat er sich | |
| mit dieser Idee nicht gemacht. „Aber mein ganzes Leben steckt da drin!“, | |
| habe ich Smartphone-Besitzer:innen schon jaulen hören. Niemand will sich | |
| sagen lassen, dass er eventuell in einer toxischen Beziehung steckt, in | |
| einer einseitigen Love Affair mit einem Gebrauchsgegenstand. Niemand will | |
| sich belehren lassen, dass es – theoretisch – auch anders ginge. | |
| Etliche Jungerwachsene probieren nun genau das aus: ein Leben ohne | |
| Smartphone. Manche nennen sich „Unplugger“, „Abschalter:innen“. Andere | |
| [3][bezeichnen sich als „Neo-Ludditen“], moderne „Maschinenstürmer“. D… | |
| Namen haben sie von einer Arbeiter:innenbewegung aus dem 19. | |
| Jahrhundert geborgt, von den „Ludditen“, die, angeführt von dem Briten Ned | |
| Ludd, ihre Proletarierrechte gegen die Konkurrenz von Industriemaschinen | |
| verteidigen wollten. | |
| Die „Neo-Ludditen“ verabschieden sich nun von ihren Smartphones und | |
| besorgen sich tatsächlich einfache Tastenhandys, in Amerika „Flipphones“ | |
| genannt. Manche löschen gleich auch noch ihre Social-Media-Konten aus ihren | |
| Laptop-Browsern, einige versuchen sogar, gänzlich offline zu gehen. Nicht | |
| nur in Berlin und Brooklyn, auch in Linz, London oder Lissabon treffen sie | |
| sich in WLAN-freien Parks, Cafés oder Bars, um sich über ihre Erfahrungen | |
| mit dem Abgeschaltetsein in einer rund um die Uhr angeschalteten Welt | |
| auszutauschen. In Zeitungsartikeln erzählen sie [4][von ihrer Überforderung | |
| und Abneigung] gegen das ständige Angepieptwerden, in nachdenklichen Essays | |
| machen sie „[5][Werbung für die Realität]“, wie die 1991 geborene Autorin | |
| Birthe Mühlhoff. | |
| Gerade eben ist nun auch der erste deutschsprachige Anti-Smartphone-Roman | |
| erschienen: „Zeiten der Langeweile“ heißt er, geschrieben hat ihn die | |
| Kulturwissenschaftlerin Jenifer Becker, Jahrgang 1991. Die angeblich so | |
| sozialen Medien sind für die Romanheldin zu einem Geschwulst, zu einem | |
| „Teratom mit Zähnen und Haaren“ geworden, „das mich von innen aufzufress… | |
| drohte“. Sie ist es leid, sich über ihr iPhone „Inhalte in den Kopf zu | |
| gießen, die ich mittlerweile als Müll bezeichnete“. Also trennt sie sich | |
| von dem Gerät. „Auf einmal erstreckte sich der Tag vor mir wie eine fünfte | |
| Dimension, die ich eigentlich irgendwann in meiner Kindheit verlassen | |
| hatte“, sagt die Romanfigur, bevor sie merkt, wie unbeliebt sie sich damit | |
| bei vielen macht – und dann wiederum von ihrem Außenseiterinnentum | |
| überfordert ist. | |
| Die jungen Smartphone-Skeptiker:innen führen einleuchtende Argumente an, | |
| warum sie sich von ihren immer wachen Geräten trennen: Weil sie nicht von | |
| früh bis spät mit Skandalen, Stars und Sonderangeboten belästigt werden | |
| wollen. Weil sie längst nicht mehr an den Zauber des Social-Media-Märchens | |
| glauben. Weil sie sehr genau wahrnehmen, wie künstliche Intelligenz sich | |
| immer weiter ins Spiel drängelt, Bots, Deep-Fakes und Ähnliches, und wie | |
| autoritäre Tendenzen sich weltweit verstärken, weshalb sie nicht jeden | |
| ihrer Schritte auf irgendeinem Server – wer weiß schon wo und von wem und | |
| zu welchem Zweck – gespeichert wissen wollen. | |
| Zugegeben: Sie mögen nur eine winzige Mikrosubkultur sein, sehr süß – und | |
| komplett machtlos. Doch sie betrachten die Welt aus einem ähnlichen | |
| Blickwinkel wie ich, und das tut mir gut. | |
| In meinem beruflichen und privaten Umfeld bin ich der Freak. Dieses eine | |
| lästige Huhn, das partout keine Whatsapp-Sprechblasen empfangen kann. Die | |
| anstrengende Tante, die nur per SMS erreichbar ist, der man E-Mails | |
| schreiben oder die man umständlicherweise sogar anrufen muss, wenn man | |
| etwas von ihr will. Ob ich zum Schlafen einen Aluhut aufsetze, wurde ich | |
| schon gefragt. Ob ich meinen Weltuntergangsbunker mit Kunstrasen ausgelegt | |
| hätte. „Sorry, aber diese Technikskepsis ist strukturell rechts“, sagte | |
| einmal ein Freund zu mir, und seine Unterlippe bebte, ob vor Ungeduld oder | |
| aus Zorn, vermag ich nicht zu sagen. | |
| Seit auch mein Vater, ein schlauer Mann von gesunden 76 Jahren, sich ein | |
| Smartphone zugelegt hat und die Gifs und Sprachnachrichten zwischen ihm und | |
| meinem Bruder nur so hin- und herfliegen, frage ich mich in zunehmender | |
| Häufigkeit, woher mein Starrsinn rührt. Vielleicht ist es gar kein Trotz? | |
| Vielleicht bin ich moderat verrückt? | |
| Beim „Unplugging“ handele es sich keineswegs nur um eine Teenagerlaune, | |
| sagt die prominenteste amerikanische „Maschinenstürmerin“, eine 17-jährige | |
| Highschoolschülerin namens Logan Lane, [6][in einem Podcast der New York | |
| Times]. Mit einem Dutzend Gleichaltriger hat sie in Brooklyn einen | |
| „Ludditen-Club“ gegründet: Alle haben ihre Smartphones abgeschafft, wenn | |
| sie sich treffen, sprechen sie über Bücher, zeichnen, hören Musik. Lane | |
| geht davon aus, dass es andernorts ähnliche Cliquen gibt, sie | |
| prognostiziert: „Da ist etwas Größeres im Gange.“ | |
| Und ich, ich bin dabei! – jubelte ich innerlich, als ich erstmals davon | |
| las. Endlich bin ich wieder einmal ganz vorn dabei! | |
| Wenn ich die vergangenen 15, 16 Jahre auf meinem inneren Flatscreen Revue | |
| passieren lasse, kommen sie mir vor wie ein schriller Film – mit mir als | |
| supersympathischer Indie-Heldin, wie aus einem Jim-Jarmusch-Movie. | |
| Am 9. Januar 2007 stellte Steve Jobs in San Francisco das erste iPhone vor. | |
| Rasch legten sich die Ersten in meinem Umfeld so ein Teil zu, und fast alle | |
| der Schnelleinsteiger:innen waren in den Medien tätig, viele im | |
| Segment „Lifestyle-Journalismus“, wo sich in den Nullerjahren noch obszön | |
| viel Kohle für unfassbar heiße Luft verdienen ließ. Zunächst diente das | |
| iPhone vor allem als Distinktionsmerkmal, als Statussymbol für Menschen, | |
| die damit prahlten, ab und an „beruflich in New York“ zu tun zu haben. | |
| „Typisch“, dachte ich, „verzapfen ihre hohlen, Trend-Newsletter' und nehm… | |
| sich selbst viel zu wichtig.“ | |
| 2007 war auch das Jahr, in dem die Große Koalition in Berlin die | |
| Mehrwertsteuer von 16 auf 19 Prozent und das Renteneintrittsalter von 65 | |
| auf 67 anhob. Während die Unternehmensteuern erstmals seit Jahrzehnten | |
| gesenkt wurden, und das nicht zu knapp. Derweil wurde bekannt, dass die | |
| zwei reichsten Menschen der Welt, Bill Gates und Warren Buffett, mehr Geld | |
| besaßen, als die 45 ärmsten Länder der Welt in einem Jahr erwirtschafteten. | |
| Im Juni kam es beim G8-Gipfel in Heiligendamm zu heftigen | |
| Auseinandersetzungen zwischen Demonstrant:innen und der Polizei, im | |
| August platzte eine irre Immobilienblase, die globale Finanzkrise begann, | |
| was den Dow-Jones-Index nicht daran hinderte, zügig einen neuen Höchststand | |
| zu erklimmen. | |
| „Neoliberalismus“ wurde das alles genannt. Das iPhone war das coole | |
| Maschinchen zur eiskalten Zeit. Und dementsprechend teuer. Selbst wenn ich | |
| es sexy gefunden hätte, hätte ich es mir nicht leisten können, und | |
| wahrscheinlich wurzelt hier meine Verachtung für das Smartphone an und für | |
| sich: Es war das metallisch schimmernde Sinnbild meines Klassenneids. | |
| Mein Tasten-Nokia aus den frühen 2000ern und ich, wir kamen weiterhin gut | |
| miteinander klar, an meinem Heim-PC startete ich eine vielversprechende | |
| Myspace-Karriere mit fünf Fantasieprofilen auf einmal. 2008 büffelte ich | |
| HTML-Codes und meldete meine eigene Webseite an, was allerdings kaum | |
| jemanden interessierte, denn zur gleichen Zeit platzte Twitter in die Welt. | |
| 2009 besaßen dann schon fast alle in meinem näheren und weiteren Umfeld | |
| eines der nagelneuen Phones, ein Blackberry, ein Samsung Omnia, was weiß | |
| ich. Erinnert sich noch jemand daran, wie die Leute ihre schicken Telefone | |
| damals streichelten, mit verzücktem Blick, wie frisch verliebt? Das hielt | |
| ein paar grauenerregende Jahre an, mindestens bis 2011. | |
| „Und du – zögerst? Ausgerechnet du, die immer bei allem mitreden will?“, | |
| wurde ich von da an öfters gefragt. „Immer schön mit der Ruhe“, antwortete | |
| ich, „man weiß doch, dass neue Erfindungen so ihre Macken haben, ich mache | |
| mich doch nicht zur unbezahlten Beta-Testerin fürs Silicon Valley.“ Ich | |
| weiß noch genau, wie die anderen belustigt ihre Köpfe schüttelten. | |
| Vielleicht schwang schon damals Mitleid mit, Mitleid mit mir, die sich zum | |
| Hinterherhinken entschlossen hatte. | |
| Inzwischen weiß ich, dass 2009 erstmals der „Day of Unplugging“, der„Tag | |
| des Aussteckens“ ausgerufen wurde, dass sich schon damals Widerstand regte | |
| gegen das, was schlaue Leute bis heute „Die kalifornische Ideologie“ nennen | |
| – die Macht des Metaversums und von Google/Alphabet, die Datenfresserei in | |
| Palo Alto und Mountain View. Mein PC gab den Geist auf, ich organisierte | |
| mir ein Laptop und legte mir ein Facebook-Konto zu. Wie Twitter, nur | |
| weniger hektisch, so stellte ich es mir vor und schrieb „My phone is | |
| smarter than yours“ in mein Profil. | |
| Derweil tat sich in Bonn und München Spannendes: Drei deutsche | |
| Netzintellektuelle, Jörg Blumtritt, Benedikt Köhler und Sabria David, | |
| schalteten sich zusammen und schrieben am Neujahrstag 2010 einen Text, der | |
| binnen weniger Tage um die Welt ging: [7][das „Slow Media Manifest“]. | |
| Technische Errungenschaften werden darin ausdrücklich begrüßt – aber nicht | |
| wahllos: „Gerade durch die Beschleunigung in zahlreichen Lebensbereichen | |
| werden Inseln der bewussten Langsamkeit möglich, aber auch | |
| überlebenswichtig. Slow Media sind kein Gegensatz zur Geschwindigkeit und | |
| Gleichzeitigkeit von Twitter, Blogs und Social Networks, sondern eine | |
| Haltung und Art, sie zu nutzen.“ Die Mit-Autorin Sabria David trug als eine | |
| der Ersten den Begriff „digitale Resilienz“ in die deutsche Öffentlichkeit. | |
| Gemeint ist das Prinzip „weniger ist mehr“. | |
| Anders als viele Smartphone People bekam ich damals aber nichts davon mit. | |
| Eigentlich absurd: Sie, denen nichts schnell genug gehen konnte, schickten | |
| sich das „Slow Media Manifest“ auf ihren flotten Scheibchen hin und her, | |
| während ich an meinen schwerfälligen Apparaten weitgehend ahnungslos zur | |
| Expertin für gepflegte Langsamkeit reifte. | |
| Ich sah und sehe überhaupt keinen Reiz darin, ständig das ganze Internet | |
| mit mir herumzutragen – was für eine Last! Ich wollte und will nicht | |
| twentyfourseven auf x Kanälen erreichbar sein – was für eine Qual! | |
| ## Lifehacks für „Digital Detox“ | |
| Ich hatte auch nie das Gefühl, etwas zu verpassen, keine Spur von FOMO bei | |
| mir. Der digitale „Müll“, von dem Jenifer Becker in ihrem Roman schreibt: | |
| Ich glaube, ich weiß, was sie damit meint. Manchmal kam ich am Laptop ins | |
| Driften und erschrak, dass ich mir drei Stunden am Stück kotzende Katzen | |
| und missglückte Brust-OPs angesehen hatte. Das war wie eine Tüte | |
| Schaumzucker essen, danach ist einem etwas schlecht, man ist irgendwie | |
| voll, aber zugleich auch ganz leer. | |
| Cal Newport spricht von „sozialem Fast Food“: Konzerne wie Meta errichten | |
| Algorithmen-gesteuerte Aufmerksamkeitsfallen, die die User möglichst lange | |
| bei der Stange halten sollen, so wie Burgerketten ihre Kundschaft mit | |
| Geschmacksverstärkern fesseln wollen. Newports Recherchen zufolge konnte | |
| Facebook seine Umsätze durch die mobile Nutzung gehörig steigern. Über | |
| Apps bleiben die User sehr viel länger hängen als im Browser, belegen | |
| internationale Studien. | |
| Push-News schubsten weltweit Menschen aus ihrem bitter nötigen Schlaf – | |
| mich nicht. Applikationen wurden downgeloadet, verhakten sich mit anderen | |
| Applikationen, wurden wieder gelöscht oder löschten ihrerseits ganze | |
| Kontaktdatenbanken – ich schnappte die Dramen bloß vom Hörensagen auf. | |
| 2011 wurde das Smartphone plötzlich für eine Menge Menschen | |
| überlebenswichtig: Im Arabischen Frühling nutzten Hunderttausende ihre | |
| Phones, um sich für Aufstände gegen ungeliebte Machthaber zu vernetzen. | |
| Erstmals sah ich einen überzeugenden Sinn in diesem Gerät. | |
| Gleichzeitig nahmen in meiner vergleichsweise heilen Welt die Probleme zu – | |
| bei den anderen, nicht bei mir. Erste „Digital Detox“-Programme wurden | |
| angeboten, Lifehacks zur „digitalen Entgiftung“. Je mehr Apps die Leute | |
| sich herunterluden, desto trauriger und schlapper schienen sie zu werden. | |
| Als Außenseiterin konnte ich das Elend gut beobachten, in der U-Bahn, in | |
| den Mittagspausen: Wie sie auf ihren Maschinchen rauf- und runterscrollen, | |
| jede und jeder für sich, mit hängenden Köpfen. Welke Tulpen sah ich – | |
| während die Tulpen mich nicht sahen. So wie sie auch sonst kaum etwas | |
| wahrzunehmen schienen in ihrer dreidimensionalen Umgebung. | |
| Leute schienen plötzlich massenhaft Selbstgespräche zu führen – ich | |
| brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass das die neue Art des | |
| Telefonierens war: Man hat Stöpsel im Ohr, die Hände frei und plappert umso | |
| freier frei von der Leber weg auf das elektrische Scheibchen ein. Der | |
| Handelsvertreter, der im ICE-Abteil ungehemmt in sein Phone blökt, wurde | |
| zur Witzfigur, und Gary Shteyngart veröffentlichte den genialen Roman | |
| „Super Sad True Love Story“, in dem er das Smartphone als „Äppärät“ | |
| karikiert, an dem die User hängen wie Crystal-Junkies an ihren Pfeifchen. | |
| Das Wort „Alienation“ ist mein liebstes englisches Wort, es bedeutet | |
| „Entfremdung“, und es gefällt mir, weil das Wort „Alien“ drinsteckt. I… | |
| wenn ich in einem Magazin oder Podcast auf einen Report der Sorte „Wie ich | |
| einen ganzen Monat ohne Smartphone verbrachte und es unverletzt überlebte“ | |
| stieß, wirkte es auf mich wie Satire; wie eine der | |
| Social-Science-Fiction-Storys, die Autor:innen wie Margaret Atwood, | |
| William Gibson und [8][Ray Bradbury] sich im 20. Jahrhundert ausgedacht | |
| hatten: grell überzeichnete Szenen aus einer maschinengesteuerten | |
| Massenpsychose. | |
| 2014 startete #metoo, eine weitere digitale politische Bewegung, und ich | |
| las, wie schon beim Arabischen Frühling, am Laptop mit. Derweil versuchten | |
| manche Menschen, Tracking-Apps auf die Phones ihrer Liebsten zu schmuggeln, | |
| um deren Wege zu kontrollieren, andere steigerten sich in eine | |
| Häkchen-Hysterie, wenn ihr Schwarm ihre Whatsapp-Nachricht zwar gelesen, | |
| aber noch nicht beantwortet hatte. „Digitale Eifersucht“, „Digitaler | |
| Burnout“, „Shit Storms“, „Hatespeech“: All diese Psycho-Phänomene ta… | |
| erst mit dem Smartphone auf, und die Leute kamen bald kaum noch hinterher | |
| mit den Worterfindungen für all den Ärger, den sie sich in ihre | |
| Hosentaschen gesteckt hatten. | |
| Und so ging es weiter und weiter, und immer musste ein neues Update her. | |
| „Länger als der Umfang des Äquators und fünf Mal so schwer wie der Berliner | |
| Fernsehturm“: So beschrieb der Branchenverband Bitkom jüngst die [9][Masse | |
| des Elektroschrotts]. 210 Millionen Phones haben die Deutschen in den | |
| vergangenen Jahren verschlissen, zweieinhalb pro Bürger:in. | |
| Neun von zehn Deutschen besitzen laut Statistischem Bundesamt heute ein | |
| oder mehrere Smartphones. In der Einkommensklasse ab 5.000 netto im Monat | |
| sind es 97 Prozent, bei denen, die weniger als 1.250 Euro heimbringen, nur | |
| 70. Am stärksten ist die Smartphonedichte bei den als besonders | |
| „leistungsfähig“ geltenden 25- bis 34-Jährigen (99 Prozent), am dünnsten | |
| bei den tendenziell nicht mehr ganz so fitten über 80-Jährigen (52 | |
| Prozent). Grob zusammengefasst: Wer’s bringt – oder so tun will, als ob –, | |
| trägt so ein silbrig oder Darth-Vader-schwarz schimmerndes Ding mit sich | |
| herum. Der Alien bin eindeutig ich. | |
| ## Von wegen Dumbphone | |
| Mit der Zeit hat mein Nokia ein paar Schrammen abbekommen, auf dem Display | |
| sitzen schwarze Pixelspratzer, ansonsten läuft es seit rund 20 Jahren | |
| tadellos, mit Prepaid-Karte. Von Tech-Insidern wird so ein Gerät abfällig | |
| Dumbphone genannt, „dumb“ wie „dumm“, im Gegensatz zu „smart“ wie �… | |
| Ich aber denke – immer noch –, dass Leute, die so sprechen, dümmer sind als | |
| mein Dumbphone und ich zusammen. | |
| Gleichzeitig ahne ich, dass ich eines Tages wahrscheinlich meinen Frieden | |
| schließen muss mit der Gegenwart, wie sie nun mal ist. Es vergeht kaum noch | |
| ein Tag, an dem ich es nicht spüre: Die QR-Code-Schlinge zieht sich immer | |
| enger zu. Beim Fahrrad- oder Carsharing zum Beispiel: schöne Idee – ohne | |
| Smartphone keine Chance fürs Mitmachen. [10][Beim Onlinebanking] geht es in | |
| die gleiche Richtung. Viele Banken haben das SMS-Tan-Verfahren schon | |
| abgeschafft, es läuft nur noch über Apps. So wie auch die Kommunikation mit | |
| der Bundesagentur für Arbeit ohne Installation der „BA-Mobil“-App nur noch | |
| mühsam möglich ist. | |
| Fast ist es nun schon eine Staatsbürger:innenpflicht, sich einen Äppärät zu | |
| besorgen. Das 49-Euro-Ticket gibt es bekanntlich nur in digitaler Version, | |
| und wer im Alarmfall vom Katastrophenschutz gewarnt werden will, braucht | |
| ein [11][möglichst aktuelles Smartphone], keinesfalls darf es älter als | |
| fünf Jahre sein. | |
| Und dann ist da natürlich die Covid-App. Vielerorts genügte es nicht, die | |
| Impfungen mit dem fledderigen Büchlein aus gelbem Papier nachzuweisen, das | |
| digitale Zertifikat war ein Muss. | |
| ## Digitaler Mischkonsum im stationären Modus | |
| Und nun ja – an diesem Punkt ist es in diesem Text Zeit für eine kleinlaute | |
| Beichte: Ich bin längst eingeknickt. Ich besitze ebenfalls ein Smartphone. | |
| Sogar schon seit 2017. Aber ich schwöre: Ich benutze es nicht. Jedenfalls | |
| nicht so richtig. Es hat keine Sim-Karte, ist praktisch tot, und es | |
| befinden sich exakt zwei Apps darauf: zum einen die Covid-App, um keine | |
| Probleme zu bekommen, wenn ich meine Mutter im Pflegeheim besuche. | |
| Zum anderen die taz-App. 2017 hatte ich mich bei dieser Zeitung um eine | |
| Stelle beworben. Die taz war, wie alle Medienhäuser, dabei, ihre | |
| Digitalkanäle auszubauen. Den Job würde ich nicht kriegen, wenn herauskäme, | |
| dass ich eine Smartphone-Feindin bin, fürchtete ich. Also schloss ich | |
| hektisch einen einjährigen Providervertrag ab – nur um als Prämie ein | |
| veraltetes iPhone-Modell zu erhalten, dessen Sim-Karte ich niemals | |
| aktivieren würde, das ich beim Bewerbungsgespräch aber demonstrativ auf den | |
| Tisch legen konnte, direkt vor die Nasen der Chefredaktion. Ich habe | |
| gefaket – und den Job bekommen. | |
| Danach rührte ich das Ding monatelang nicht mehr an und verachtete nicht | |
| nur den Neoliberalismus noch ein bisschen mehr als ohnehin schon, sondern | |
| schimpfte auch mich selbst – fürs Kleinbeigeben. Ich war nicht mehr jung | |
| und brauchte das Geld: Damit habe ich mich dann zu besänftigen versucht. | |
| Als eines Tages mein kleiner digitaler Fotoapparat abschmierte, knickte ich | |
| ein weiteres Mal ein. Seither nutze ich das Smartdings für meine Selfies | |
| und Urlaubsfotos, bin dabei aber so langsam wie eh und je: Um die Bilder | |
| ins Internet zu hieven, überspiele ich sie per USB-Kabel aufs Laptop und | |
| lade sie von dort aus hoch, meist ein bis acht Tage nachdem sie entstanden | |
| sind. | |
| „Digitaler Mischkonsum im stationären Modus“: So könnte man meine Methode | |
| vielleicht bezeichnen – und mein nur selten berührtes Smartdings als | |
| „System-Kompromiss-Apparat“. | |
| Wenn ich sehe, wie die digitale Menschenkontrolle in China mittlerweile | |
| läuft, wenn ich lese, wie [12][der Paypal-Gründer Peter Thiel] das | |
| Donald-Trump-Lager sponsert oder wenn ich den neuesten | |
| [13][Weltbeherrschungstraum von Elon Musk] aufschnappe, wird mir angst und | |
| bang. | |
| Andererseits will ich nicht so klingen wie eine „Anti-Globalistin“, wie | |
| eine der neuen (alten) Rechten, die gegen alles hetzen, was ihre Hutschnur | |
| übersteigt. Schon gar nicht will ich klingen wie Ted Kaczynski, der | |
| glühende Selbstversorger und Anti-Zivilisations-Anarchist, der in den | |
| 1990ern als Una-Bomber bekannt wurde, nachdem er 16 Paketbomben quer durch | |
| die USA geschickt, 23 Menschen verletzt und drei getötet hatte – aus Hass | |
| auf den technischen Fortschritt. Gelegentlich komme ich mir selbst schon | |
| verdächtig vor. Sind es nicht immer Terroristen, immer die fiesesten | |
| Gangster aus „Aktenzeichen XY“, die sich über einfache Wegwerfhandys | |
| verabreden – mit Prepaid-Karten? | |
| ## Stalking und Bevormundung | |
| Aber: Ich hänge an meinem Nokia. Ohne Navigationsapp verlaufe ich mich | |
| gelegentlich, doch dabei erfahre ich sehr viel von der Welt, wenn ich mal | |
| nach dem Weg fragen muss, komme ich mit Fremden ins Gespräch. Ich will | |
| nicht immer schon vorher wissen, „was andere User von x oder y halten“, | |
| will mich überraschen lassen und verschwinden können. Will nicht, dass | |
| Algorithmen mir ständig einflüstern, was „gut für mich“ ist. Das wirkt a… | |
| mich wie eine Mischung aus Stalking und Bevormundung. In der Psychologie | |
| gibt es den Begriff der „Nachbeelterung“. So heißt eine Therapieform für | |
| Menschen, die in der Beziehung zu ihren Eltern zu kurz gekommen sind – und | |
| genau so wirken manche Smartphone People auf mich: als ob sie rund um die | |
| Uhr nach Betreuung hungern. Und nach sofortiger Bedürfnisbefriedigung, | |
| alles wollen sie immer instantly haben. Ich weiß, dass die Smartphone | |
| People mich für kindisch halten. Dabei sind sie doch die ewigen Kinder. Das | |
| denke ich tatsächlich. | |
| Logan Lane, die 17-jährige „Neo-Ludditin“, sagt: „Keine Ahnung, wie die | |
| Welt in sechs Jahren aussieht. Ich hoffe, dass ich dann auch ohne | |
| Smartphone noch einen Job finden werde. Ehrlich gesagt, bin ich da aber | |
| ziemlich pessimistisch.“ | |
| Für Sabria David, die Autorin des „Slow Media Manifests“, liegt die junge | |
| Amerikanerin mit ihrer Einschätzung richtig. Für breiten Widerstand gegen | |
| „smarte“ Technik sei es zu spät, sagt David, als ich sie via Zoom | |
| kontaktiere, „die unreflektierte Nutzung ist einfach sehr verbreitet“. | |
| Eines dürfe man nicht übersehen: „Das ist schon auch ein kleiner Kreis – | |
| das sind selbstbewusste Jugendliche aus medienkritischen Elternhäusern oder | |
| Schulen, die gelernt haben, die Dinge zu hinterfragen.“ Ähnliches betonen | |
| auch Humayun und Belk, die zur „postdigitalen Ära“ forschen: Viele Menschen | |
| seien beruflich auf digitale Geräte angewiesen, vor allem in der Gig | |
| Economy, wo schlecht bezahlte Jobs auf Zuruf verteilt werden. Das | |
| Sich-ausklinken-Können gerate mehr und mehr „zu einem Luxus“, schreiben | |
| sie. | |
| Dennoch hält Sabria David die Anti-Smartphone-Bewegung für ein spannendes | |
| Phänomen: „Es ist schon interessant, dass es mehr als zehn Jahre brauchte, | |
| bis solche Stimmen laut werden.“ Aus ihrer Sicht lohnt es sich, über „ein | |
| Korrekturpendel“ für die schnellen digitalen Entwicklungen nachzudenken. Es | |
| sei wie bei der Eisenbahn: „Was hilft der stärkste Antrieb, wenn der Zug | |
| mit Tempo 300 ohne Halt durch den Bahnhof rast? Bremsen sind genauso | |
| wichtig wie der Motor – sonst entgleist das ganze Ding.“ | |
| Gleich nach unserem Zoom-Gespräch googele ich noch einmal „Digital Detox“ | |
| und stoße auf 37.800.000 Einträge. | |
| Am Abend treffe ich eine ehemalige Kollegin in einer Bar. Während ich auf | |
| sie warte, schreibe ich eine SMS an einen Freund, als die Kollegin | |
| auftaucht, liegt mein Nokia neben meinem Glas. „Ach“, sagt die Kollegin, | |
| „du hast jetzt also auch eins dieser neumodischen Hipster-Handys?“ | |
| 16 Sep 2023 | |
| ## LINKS | |
| [1] https://www.researchgate.net/publication/339273546_The_analogue_diaries_of_… | |
| [2] https://calnewport.com/ | |
| [3] https://www.nytimes.com/2022/12/15/style/teens-social-media.html | |
| [4] /Ueberforderung-durch-Social-Media/!5952739 | |
| [5] https://mikrotext.de/book/birthe-muehlhoff-werbung-fuer-die-realitaet-ein-e… | |
| [6] https://www.youtube.com/watch?v=ORG_K0Yt1q4&themeRefresh=1 | |
| [7] https://www.slow-media.net/manifest | |
| [8] /Autor-Ray-Bradbury-gestorben/!5092153 | |
| [9] https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Smartphones-Tablets-Laptops… | |
| [10] /Soziale-Ausgrenzung-bei-Digitalisierung/!5831441 | |
| [11] https://www.bbk.bund.de/SharedDocs/FAQs/DE/Cell-Broadcast/faq_cell-broadca… | |
| [12] /Hippe-Neoreaktionaere-in-New-York-City/!5939891 | |
| [13] /Elon-Musk-und-das-X/!5955322 | |
| ## AUTOREN | |
| Katja Kullmann | |
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