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# taz.de -- Digitalisierung der deutschen Verwaltung: Im Land der Digital Naives
> Eigentlich sollte die deutsche Verwaltung schon Ende 2022 digital laufen.
> Das hat, nun ja, nicht ganz geklappt. Die nächste Zielmarke: Ende 2024.
Bild: Deutschland geht weiter stempeln: Noch sind wenige Verwaltungsleistungen …
taz | [1][Eine Baugenehmigung kann nervenaufreibend sein]. Oft sind
ordnerweise Formulare auszufüllen und Gutachten abzugeben. Fehlt eine
Kleinigkeit, kann der ganze Prozess ins Stocken geraten. Für jeden weiteren
Schritt müssen die Antragsteller:innen höchstpersönlich aufs Amt
marschieren, um gedruckte Formulare abzugeben, Unterschriften zu leisten
oder Informationen nachzutragen. Digitalisierung leider Fehlanzeige. Manche
Bauprojekte ziehen sich so mehrere Jahre bis zu ihrer Genehmigung.
Das ist nicht gerade hilfreich in einem Land, in dem dringende
Infrastrukturprojekte lange auf sich warten lassen. Brücken, Bildung,
Breitband: Die Ampelkoalition wollte da ran. [2][Anfang September
formulierte Bundeskanzler Scholz im Bundestag den „Deutschland-Pakt“] als
eine Art bürokratisches Beschleunigungsversprechen. Wichtige
Transformationsprozesse wie die Energiewende oder der Ausbau von
Breitband-Internet sollen vorankommen, indem Genehmigungen schneller
erteilt werden. Ein entscheidender Bremsklotz laut Scholz: die mangelnde
Digitalisierung der deutschen Verwaltung.
Von Online-Behördengängen können viele Deutsche bis heute nur träumen. 2017
hatte die Große Koalition das Onlinezugangsgesetz (OZG) beschlossen, nach
dem bis Ende 2022 alle Verwaltungsleistungen auch digital zur Verfügung
stehen sollten. Heute, im September 2023, ist nur ein Bruchteil der
Leistungen tatsächlich schon digitalisiert. Und das längst noch nicht
deutschlandweit.
Als Ende vergangenen Jahres das Scheitern der Gesetzesziele absehbar war,
nahm die Ampel einen neuen Anlauf: das OZG 2.0. Was futuristisch klingt, so
als würde jetzt wirklich alles von Kopf bis Fuß durchdigitalisiert, ist
eigentlich nur ein Eingeständnis von Realismus. Immerhin 15
Fokusleistungen, also besonders wichtige Verwaltungsprozesse, sollen jetzt
bis Ende 2024 online verfügbar sein. Gleichzeitig schärft das Gesetz, das
am Mittwoch zum ersten Mal im Bundestag beraten wurde, noch einige andere
strittige Punkte rund um die Digitalisierung der Verwaltung nach. Dokumente
sollen Bürger:innen nur noch bei einer Behörde einreichen müssen,
überflüssige Prozesse sollen nicht digitalisiert, sondern abgeschafft
werden. Die einzelnen Fokusleistungen sollen nach dem
„Einer-für-alle“-Prinzip zunächst nur einem Bundesland oder einer
Bundesbehörde digitalisiert und dann von allen anderen Ländern übernommen
werden.
## Einer macht, keinen interessiert es?
Verpflichtend ist das aber laut dem aktuellen Entwurf nicht, was während
der Bundestagsdebatte am Mittwoch Abgeordnete von Regierungs- und
Oppositionsfraktionen in seltener Einmütigkeit kritisierten: „Es gibt keine
Konsequenzen, wenn man sich nicht an die Vorgaben hält. Das muss sich
ändern“, forderte beispielsweise Misbah Khan (Grüne). „Lassen Sie die
Länder machen“, konterte hingegen die bayerische Staatsministerin für
Digitales, Judith Gerlach, die als Vertreterin des Bundesrats anwesend war.
Volker Redder (FDP) zweifelt daran, dass sich die Länder auf einheitliche
Standards einlassen würden. Bayern zum Beispiel wolle die vom Bund
bereitgestellte Lösung zur digitalen Identifikation nicht übernehmen.
Gleiches gilt auch für viele der einzelnen Fokusleistungen.
[3][Für die digitale Umsetzung von Baugenehmigungen ist zum Beispiel
Mecklenburg-Vorpommern zuständig.] Als man sich dort für die Fokusleistung
gemeldet hatte, sei erst mal ein Raunen durch die Runde gegangen, berichtet
Christoph Vollmer. Er ist im Landesinnenministerium als Projektleiter für
den digitalen Bauantrag zuständig: „Eines der kleinsten Bundesländer
übernimmt die größte Leistung, da waren die anderen Bundesländer anfänglich
erstaunt“. Das sei Vollmer zufolge heute anders: „Die digitale
Baugenehmigung ist ein Musterbeispiel für umfassende Digitalisierung aus
dem OZG-Kontext.“
Doch wie umfassend das Online-Angebot den Bürger:innen tatsächlich zur
Verfügung steht, darauf haben die Entwickler:innen keinen Einfluss.
Denn keine Behörde ist verpflichtet, die digitale Entwicklung einer anderen
zu übernehmen. „Von unserer Seite aus ist der Rollout in den bereits
eingerichteten Kommunen nahezu abgeschlossen. Alle eingerichteten Behörden
sind in der Lage, die digitale Baugenehmigung live zu schalten. Wann es
dann in den einzelnen Bauämtern tatsächlich so weit ist, wird vor Ort
entschieden.“ Es gehe nun vor allem darum, den Livebetrieb mit ausgewählten
Anträgen zu testen, damit die Sachbearbeiter sich einarbeiten können.
Dabei bleibt ihnen nicht mehr viel Zeit: Im Zuge seines Deutschland-Pakts
hat Bundeskanzler Scholz die digitale Lösung bei Bauanträgen bis Ende 2023
angekündigt. Vollmer hält diese Frist prinzipiell für realistisch, wenn in
den Ländern alle Beteiligten dieses Ziel verfolgen. Das bedeute nicht
unbedingt, dass zu diesem Zeitpunkt in ganz Deutschland flächendeckend das
digitale Angebot aus Mecklenburg-Vorpommern eingesetzt werde, sondern
lediglich, dass es überall ein digitales Angebot für die Antragstellung
geben werde. Denn obwohl der aktuelle Gesetzentwurf der Bundesregierung zum
OZG 2.0 am „Einer-für-alle“-Prinzip festhalten will, möchten zum aktuellen
Zeitpunkt nur zehn Bundesländer die Baugenehmigung aus Schwerin übernehmen.
Mit vier weiteren Ländern sei man in Gesprächen, berichtet Vollmer. Es habe
aber vielerorts schon vor der Verabschiedung des ersten OZG eigene
Entwicklungen für digitale Baugenehmigungen gegeben.
## Berlin hisst die weiße Fahne
Obwohl also noch einige Fragen offen sind, sind die Aussichten in
Mecklenburg-Vorpommern deutlich besser als bei vielen anderen
Fokusleistungen. Bei zehn von 15 gibt es zumindest schon eine digitale
Antragstellung und digitale Bescheide, wie ein Sprecher des
Bundesinnenministeriums der taz sagte. Ob dabei die gesamten Prozesse in
den Behörden selbst schon digital ablaufen, konnte ein Sprecher des
Ministeriums nicht beantworten. Die Zuständigkeit hierfür liege in der
Verantwortung von Ländern und Kommunen.
Flächendeckend im Einsatz ist bislang nur eine einzige Leistung als quasi
16. Fokusleistung: Der Energiezuschuss für Studierende, den die Ampel nach
Beginn des Ukraine-Kriegs beschlossen hatte, wurde komplett digital
abgewickelt. Besonders düster sieht es bei der Digitalisierung des
Passwesens aus. Die sollte eigentlich das Land Berlin bis Ende 2024
umgesetzt haben. Doch im Mai zeigte eine schriftliche Anfrage des
Grünen-Abgeordneten Stefan Ziller, dass der Senat die Aufgabe ans
Bundesinnenministerium abgegeben hat.
Inhaltlich ergibt die Arbeitsteilung durchaus Sinn, da das Innenministerium
ohnehin für Teile des Passwesens verantwortlich ist. Doch mit der Zusage,
einen Verwaltungsprozess zu digitalisieren, übernimmt ein Bundesland auch
immer die Verantwortung für den langfristigen Betrieb des digitalen Systems
für alle anderen Länder. Auch hierfür fühlt Berlin sich nun aber nicht mehr
zuständig. Bislang sei die Suche nach einem anderen Bundesland, das den
Betrieb übernehmen könne, vergeblich verlaufen – Ausgang ungewiss.
Die Posse rund um den Personalausweis ist ein Symptom für einen
grundlegenden Fehler in der Architektur der deutschen
Verwaltungsdigitalisierung, den Fachleute schon lange kritisieren. Anders
als beispielsweise [4][das Digitalisierungsmusterland Estland] verzichtete
Deutschland darauf, der digitalen Verwaltung im ersten Schritt ein solides,
technisches Fundament, ein sogenanntes Backend, zu schaffen. Estland hat
schon 2001 begonnen, sichere Kommunikationswege zwischen Behörden und
Bürger:innen, eine verlässliche Möglichkeit, sich online auszuweisen und
eine grundlegende IT-Infrastruktur zu schaffen, an die alle einzelnen
digitalen Prozesse angeschlossen wurden – die beste Garantie, dass alle
Systeme am Ende auch zusammenpassen.
Deutschland jedoch fängt bei vielen einzelnen Leistungen gleichzeitig an zu
digitalisieren. Der Nachteil: In Ländern und Kommunen wurden vielerorts
eigenständig Prozesse digitalisiert – unter unterschiedlichen technischen
Voraussetzungen. Für jedes einzelne Projekt muss nun sichergestellt werden,
dass sie mit den verschiedenen technischen Systemen, die in den Behörden
zum Einsatz kommen, zusammenpassen. Das für die einheitlichen
Digitalprojekte des Bundes sicherzustellen, beispielsweise die
Online-Ausweisfunktion, ist noch relativ einfach.
Doch technisch gesehen ist die deutsche Behördenlandschaft ein
Flickenteppich. Eine Änderung, die an einem Projekt in einem Bundesland
vorgenommen wird, kann dazu führen, dass es in einem anderen Land mit
anderen technischen Voraussetzungen nicht mehr funktioniert und mühsam
angepasst werden muss. Das Innenministerium verweist auf die
verfassungsrechtliche Autonomie der Länder, die es nötig gemacht habe, auch
bereits bestehende Lösungen mit einzubinden. Im Verlauf der Umsetzungen des
OZG solle aber auch die „Konsolidierung hin zu einem einheitlichen Backend“
stattfinden, so ein Sprecher.
21 Sep 2023
## LINKS
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## AUTOREN
Jana Ballweber
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Digitalisierung
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Bürokratie
Schwerpunkt Stadtland
Kai Wegner
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Bauen
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