# taz.de -- Recht auf analoges Leben: Digital first und trotzdem Bedenken | |
> Drei Millionen Menschen in Deutschland haben noch nie das Internet | |
> genutzt, viele wollen kein Smartphone. Warum Digitalzwang ein Problem | |
> ist. | |
Bild: Für viele nicht wegzudenken, für andere ein Ärgernis: Smartphone-Apps | |
Worum geht es? | |
Meike Bischoff, 40, hat ein Problem. Deshalb hat sie an die taz | |
geschrieben. Bischoff hat kein Smartphone. Bisher war das beim Bahnfahren | |
keine große Sache, sie hat eine BahnCard, die sie jedes Jahr als | |
Plastikkarte per Post bekommt. Jetzt hat die Deutsche Bahn angekündigt, | |
[1][BahnCards ab dem 9. Juni nur noch digital] in der Smartphone-App, dem | |
DB Navigator, anzubieten. „Für mich als Kundin ohne Smartphone bedeutet das | |
eine Verschlechterung des Bahn-Services“, sagt Bischoff. „Ich bin der | |
Meinung, die Bahn spart hier am falschen Ende – nämlich bei Nutzerinnen | |
und Nutzern.“ | |
Was ist da los bei der Deutschen Bahn? | |
Der Staatskonzern will die Digitalisierung anschieben: Laut DB nutzen 60 | |
Prozent der Bahnfahrenden die BahnCard schon jetzt in digitaler Form in | |
der App. 85 Prozent der Tickets würden digital auf bahn.de oder im DB | |
Navigator gekauft. Grund genug, die BahnCard bald nur noch digital nutzbar | |
zu machen, sagt das Unternehmen. Außerdem will die Bahn Plastik sparen, um | |
die Umwelt zu schonen. „Wie wäre es zum Beispiel mit einer BahnCard als | |
Ausdruck am Automaten oder aus recyceltem Material?“, kontert Meike | |
Bischoff, die als Journalistin arbeitet. Mit ihrem Problem ist sie nicht | |
allein. | |
Vor Kurzem hat ein Bündnis aus 28 zivilgesellschaftlichen Organisationen, | |
darunter der Verkehrsclub Deutschland (VCD) und der Deutsche Blinden- und | |
Sehbehindertenverband (DBSV), einen offenen Brief an Bahnchef Richard Lutz | |
geschrieben. Das Bündnis spricht sich explizit nicht gegen die | |
Digitalisierung aus – fordert aber, dass analoge Angebote für BahnCards und | |
Sparpreise bestehen bleiben, ohne Digitalzwang. | |
Jana Mattert, die beim DBSV für digitale Barrierefreiheit zuständig ist, | |
erklärt, dass etwa blinde und sehbehinderte Menschen besonders auf die Bahn | |
angewiesen seien, um mobil zu sein. Digitalisierung könne Bahnservices | |
für einige Menschen zugänglicher machen, zum Beispiel, weil sich Schrift in | |
digitalen Formaten einfacher vergrößern lasse. „Das darf aber nicht mit | |
dem Abbau analoger Angebote einhergehen, sonst werden wiederum Menschen | |
ohne digitale Geräte ausgeschlossen“, sagt Mattert. | |
Dann sind Apps das Problem, nicht die Digitalisierung an sich, oder? | |
Der App-Zwang ist besonders populär – nicht nur bei der Bahn. Der App-Zwang | |
hat in nahezu allen Fällen die Folge, dass die Nutzer:innen Google oder | |
Apple verwenden müssen. Denn es gibt kaum Anbieter, die ihre Apps außerhalb | |
der App-Stores der beiden Platzhirsche anbieten. Wer also ein Smartphone | |
hat und die App einer Krankenkasse installiert oder vielleicht eine | |
Gesundheitsapp, die bei der Behandlung einer bestimmten Krankheit | |
unterstützen soll, oder auch nur die App eines regionalen | |
Mobilitätsdienstleisters, verrät Google beziehungsweise Apple eine Menge | |
über sich selbst. | |
In einem etwas milderen Digitalzwang gibt es immerhin noch die Möglichkeit, | |
den Dienst über einen Computer zu nutzen. Das ist etwa bei der | |
[2][elektronischen Patientenakte] der Fall, wo zahlreiche Krankenkassen | |
nicht nur Apps, sondern auch Software für Computer bereitstellen. Manche | |
Kassen stellen dabei jedoch nur Programme für Windows und MacOS zur | |
Verfügung. Doch selbst wenn es nicht um den Zwang zur Nutzung einer App | |
geht, sondern der entsprechende Dienst auch über den Browser nutzbar ist: | |
Digitale Wege setzen mehr Technik und Wissen voraus als die analogen | |
Varianten. | |
Sparpreistickets der Bahn lassen sich zum Beispiel auch ohne App über die | |
DB‑Website buchen, aber nicht mehr ohne E-Mail-Adresse oder Handynummer. | |
Laut Zahlen des Statistischen Bundesamts (Destatis) waren im vergangenen | |
Jahr gut 5 Prozent der Menschen in Deutschland im Alter zwischen 16 und 74 | |
Jahren sogenannte Offliner – sie haben noch nie das Internet genutzt. Das | |
entspreche 3,1 Millionen Menschen in Deutschland. | |
In welchen Bereichen haben analoge Menschen noch Nachteile? | |
Wer heute ein Konto eröffnet, braucht dafür in den meisten Fällen ein | |
Smartphone. Denn Konten ohne Online-Banking sind rar und teuer geworden und | |
für das Online-Banking braucht es in den meisten Fällen eine App für den | |
Empfang der Transaktionsnummern (TAN). Eine Marktübersicht des | |
Verbraucherzentrale Bundesverbandes (vzbv) ergab bereits vor zwei Jahren, | |
dass die meisten Anbieter auf Apps für den TAN-Empfang setzen. Einige | |
bieten als Alternative TAN-Generatoren an – für die müssen die Kund:innen | |
dann aber extra zahlen. | |
Rena Tangens vom [3][Verein Digitalcourage, der diese Woche eine Petition | |
für die Aufnahme eines Rechts auf analoges Leben in Grundgesetz gestartet | |
hat], nennt ein weiteres Beispiel: „Was viele Leute verzweifeln lässt, ist, | |
dass es immer seltener möglich ist, einen Arzttermin per Telefon zu | |
bekommen.“ Praxen würden zunehmend auf Terminvermittlungsportale wie | |
Doctolib verweisen – und den Telefonhörer höchstens sporadisch abnehmen. | |
Hilft es, gegen Digitalzwang zu klagen? | |
Es gibt einzelne Fälle, in denen Betroffene oder Verbände gegen | |
verschiedene Varianten des Digitalzwangs geklagt haben – mit | |
unterschiedlichen Ausgängen. Erfolg hatte der Verbraucherzentrale | |
Bundesverband (vzbv) vor drei Jahren mit einer Klage gegen den | |
Stromanbieter Lichtblick. Der hatte Verträge angeboten, in denen er | |
festlegte, dass die Kommunikation zwischen Verbraucher:in und | |
Unternehmen ausschließlich elektronisch erfolgt. Der Verband klagte und das | |
Landgericht Hamburg gab ihm recht: Es sei unzulässig, eine Kündigung oder | |
einen Widerruf des Vertrags per Brief auszuschließen. | |
In einem anderen Fall erstritt ein Physiotherapeut vor Gericht das Recht, | |
seine Steuererklärung auch analog abgeben zu dürfen. Eigentlich ist das für | |
Selbständige auf elektronischem Wege vorgeschrieben. [4][Das Finanzgericht | |
Berlin-Brandenburg folge der Argumentation des Betroffenen, wonach die | |
elektronische Übermittlung für ihn unzumutbar sei, da er sich nur dafür | |
ein Endgerät und einen Internetanschluss anschaffen müsse]. Andererseits | |
hat der Bundesfinanzhof bereits 2012 entschieden, dass er die elektronische | |
Übermittlungspflicht grundsätzlich für verfassungsgemäß hält. In dem Fall | |
ging es um die Abgabe der Umsatzsteuer-Voranmeldungen. | |
In Baden-Württemberg scheiterte 2018 ein Bürger mit seinem Vorgehen gegen | |
einen Gemeinderatsbeschluss, der vorsah, dass künftige Gremiumssitzungen | |
digital bekannt gegeben werden und ein Aushang nur freiwillig erfolgt. | |
Was würde sich ändern, wäre ein Recht auf analoges Leben im Grundgesetz | |
verankert? | |
„Dann gäbe es ein einklagbares Recht auf einen alternativen analogen Weg“, | |
sagt Rena Tangens. Nicht zuletzt gegenüber der Privatwirtschaft: „Auch | |
Facebook oder Google müssen sich an Grundrechte halten.“ Aktuell | |
Betroffenen rät Tangens: „Es ist wichtig, sich bei den entsprechenden | |
Institutionen oder Firmen zu beschweren, das kann man auch per Brief | |
machen.“ Hilfreich sei auch, die lokalen Bundestagsabgeordneten zu | |
kontaktieren, damit diese auf politischer Ebene Druck machten. | |
25 May 2024 | |
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[1] /Aenderungen-bei-der-Deutschen-Bahn/!5975891 | |
[2] /Gesetz-zu-Gesundheitsdaten-verabschiedet/!5980352 | |
[3] /Organisation-fuer-ein-Leben-ohne-Apps/!6012019 | |
[4] https://www.bundesfinanzhof.de/de/entscheidung/entscheidungen-online/detail… | |
## AUTOREN | |
Svenja Bergt | |
Nanja Boenisch | |
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