# taz.de -- Platzfragen bei einer Fahrt im Zug: Die Beschämung in den Sitzreih… | |
> Im Zug kommt man anderen Menschen oft nahe. Natürlich geht es auch dabei | |
> um das Aushandeln von Dissonanzen im öffentlichen Raum, sagt der | |
> Ethikrat. | |
Bild: Beim Stehen hält man Abstand. So richtig nah kommt man sich im Zug oft e… | |
Kürzlich saß ich im Zug neben einem sehr dicken Mann. Ich hatte den Platz | |
neben ihm reserviert, und er stand in hohem Maß unfroh auf, um mich | |
durchzulassen. Ich klappte die Armlehne herunter, um zu verhindern, dass er | |
auf meinem Sitz hinüberragte, und während ich es tat, fragte ich mich, ob | |
ich den Mann damit beschämte. Er war unangenehm, aber seine Fülle war nicht | |
seine Schuld, und eigentlich verlangte sie nach eineinhalb Sitzen. | |
„Möchtest du zu mir kommen?“, fragte die Tochter des unangenehmen Mannes, | |
die auf der anderen Zugseite saß, ihren Vater, und ich fühlte mich wie ein | |
Paria. | |
Er blieb neben mir sitzen. „Es riecht schlecht“, sagte er kritisch ins | |
Unbestimmte. Ich fragte mich, ob an meinen Schuhen noch der Mist vom | |
Bergbauernhof klebte, auf dem ich geholfen hatte, aber ich konnte keine | |
Spuren entdecken. Vielleicht war es der Käse, den mir der Bauer zum Dank | |
geschenkt hatte. | |
„Wieso kann ich nicht eine Armlehne herunterklappen, ohne ans nächste | |
Schuldkreuz zu steigen“, dachte ich, „kein Wunder, dass mein Leben ein | |
großes Patt ist.“ „Die Fahrkarten bitte“, sagte da jemand, und als ich | |
aufsah, erkannte ich den Ethikrat. Der Ethikrat, das sind drei ältere | |
Herren von geringer Größe, die mir gelegentlich Handreichungen in Fragen | |
praktischer Ethik geben. Der Rat trug blaue Anzüge und Kappen, die | |
historisch wirkten, aber niemand schien daran Anstoß zu nehmen. | |
„Hier“, sagte der unangenehme Mann ohne aufzuschauen und hielt sein Handy | |
hoch. „Sicher ist Ihnen bewusst, dass im Gespräch das Anerkennen des | |
anderen als Gegenüber unter anderem durch Augenkontakt ermöglicht wird“, | |
sagte der Ratsvorsitzende und legte einen rostigen Kartenknipser beiseite. | |
Er nahm dem unangenehmen Mann das Handy aus der Hand und betrachtete es | |
unschlüssig. | |
## Beschämung als wichtiger Punkt | |
„Hier ist meine Fahrkarte“, drängte ich mich dazwischen. „Sind Sie | |
nebenberuflich hier?“, flüsterte ich dem Ethikrat zu. „Nein“, flüsterte… | |
Ratsvorsitzende zurück, „dies ist ein Feldversuch zum Aushandeln von | |
Dissonanzen im öffentlichen Raum.“ „Oh“, sagte ich, „ist da Beschämung | |
nicht ein wichtiger Punkt?“ „Sie haben vollkommen recht, Frau Gräff“, sa… | |
der Vorsitzende, und sein ungewohntes Lob ließ mich erröten. „Meine Cousine | |
erzählte einmal, dass sie in [1][Japan im öffentlichen Bad] versehentlich | |
nackt in den Männerbereich ging“, begann ich und dachte, dass das als | |
philosophische Hinführung unwahrscheinlich wirkte. | |
Der unangenehme Mann nahm dem Ratsvorsitzenden das Handy weg, aber der | |
Vorsitzende gab vor, es nicht zu bemerken. „Sie sagte“, fuhr ich hastig | |
fort, „dass keiner der Männer sich anmerken ließ, dass das nicht vorgesehen | |
war. Sie blieb sozusagen unsichtbar, weil man sie nicht beschämen wollte. | |
Ist das nicht eine großartige kulturelle Leistung, wenn eine Gesellschaft | |
sich genau das auf die Fahnen schreibt? Und das in Zeiten, wo die | |
Beschämung in den sozialen Medien Volkssport ist“, sagte ich und sah aus | |
den Augenwinkeln, dass der unangenehme Mann ein Video vom Kampf zweier | |
Sumoringer aufgerufen hatte. | |
Eine Mutter mit einem quengelnden Kleinkind vor dem Bauch tippte dem | |
Ratsvorsitzenden an die Schulter. „Können Sie mir etwas zum Anschluss in | |
Wuppertal sagen?“, fragte sie. „Gewiss“, sagte der Vorsitzende und zog ein | |
Kursbuch aus seiner Tasche. „Aber können Sie mir vorher vielleicht noch | |
sagen, wie man zwischen der Beschämung des anderen und der Behauptung der | |
eigenen Rechte abwägt?“, rief ich. Der unangenehme Mann sah plötzlich | |
interessiert von seinem Handy auf. Aber da betrat eine Schaffnerin das | |
Abteil und der Ethikrat entfernte sich eilig. | |
27 Nov 2023 | |
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## AUTOREN | |
Friederike Gräff | |
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