| # taz.de -- Die Wahrheit: Brechend volle Bananenbahn | |
| > Eine Zugfahrt, die ist nicht lustig – zumindest wenn es mit dem „Západní | |
| > expres“ von München nach Prag geht und der Gott der Eisenbahn abwesend | |
| > ist. | |
| Bild: Fehlte nur noch, dass die tschechische Polizei den Zug stürmt | |
| Wer seinem Umfeld erzählt, ein Frühlingswochenende mit drei Freunden in | |
| Prag verbringen zu wollen, bekommt überschwängliche Reaktionen. Der Jubel | |
| ähnelt jenen euphorischen Reiseberichten, die in dutzenden deutschen | |
| Tageszeitungen zu lesen sind: Allein die Zugfahrt sei wunderschön! Man | |
| tingele bei Sonnenschein in stilvoll-gemütlichen tschechischen Speisewägen | |
| von Berlin über Dresden an der Elbe entlang in die Goldene Stadt, auf den | |
| Tellern güldene Bratkartoffeln und noch güldenere Knödel nebst | |
| schmackhaftem Lendenbraten. Dazu ein frisch gezapftes Bier, freilich | |
| ebenfalls gülden. Der Tagesspiegel spricht von „Tschechiens kulinarischem | |
| Wunder“, und die FAZ schwärmt: „Der Gott der Eisenbahn muss ein Tscheche | |
| sein.“ Drum freut man sich auf diese Reise wie ein kleines Kind, das schon | |
| Pilsner Urquell trinken darf. | |
| Was sie einem nicht erzählen: Reist man nicht von Berlin, sondern mit dem | |
| in München startenden „Západní expres“, so gestaltet sich der Trip etwas | |
| anders. Diesen Zug muss Ozzy Osbourne gemeint haben, als er vom „Crazy | |
| Train“ sang. | |
| Steigt man in Schwandorf bei Nürnberg zu, kurz vor der tschechischen | |
| Grenze, gewahrt man schon am Gleis, dass die Realität der den vollmundigen | |
| Versprechungen entsprungenen Vorstellung nicht ganz gerecht werden dürfte: | |
| Zwischen den Regenpfützen warten hier im Mittagsgrau nicht nur ein, zwei | |
| fränkische Junggesellenabschiedsgruppen, sondern auch alle anderen aus ganz | |
| Europa. | |
| Noch beschissener als das Wetter ist nur das, was aus der am Bahnsteig | |
| installierten satten 500.000-Watt-Bassmaschine dröhnt, um die sich eine | |
| Traube verhaltensauffälliger Männer bildet, die „Trinken ist auch Sport“ | |
| grölen, sofern zwischen Rülpsen und Furzen gerade noch Luft bleibt. | |
| Totalschaden um zwölf Uhr mittags. Dagegen gleicht jeder Flug nach Mallorca | |
| einem Meditationsseminar. | |
| ## Fäulnis und Verderben | |
| Genauso brechend voll wie die zum Bass torkelnden Trunkenbold-Troopers sind | |
| die Abteile im Zug. „Brechend voll“ wortwörtlich. Fäulnis und Verderben | |
| wabern durch die dicke Luft. Sämtliche Toiletten sind bereits kurz nach | |
| Abfahrt defekt. Nur eine letzte wackere Schüssel in vier Waggons | |
| Entfernung, wie der vage Flurfunk meldet, lasse sich nicht unterkriegen. Da | |
| die Fahrt inklusive Verspätung gut vier Stunden dauert, wird man früher | |
| oder später diesen Prozessionsweg antreten müssen. | |
| Wer einen Sitzplatz reserviert hat, was aufgrund bekannter technischer | |
| Unzulänglichkeiten der Bahn nicht jedem Passagier möglich war, darf sich im | |
| Zug immerhin niederlassen. So platziert man sich neben einem Trio | |
| bayerischer Bilderbuch-Boomer, die ebenfalls reserviert haben und die | |
| Reisezeit mit Geschichten aus der CSU-Kreisvorstandssitzung versüßen. Und | |
| mit Sätzen, die man unironisch noch nie zuvor gehört hat: „Der Söder macht | |
| des ja gut, find i.“ | |
| Wer hingegen stehen muss, kann immerhin nicht umfallen. Dicht an dicht | |
| drängt sich’s im Gang. Damit die Sitzenden aber nicht zu viel Spaß haben, | |
| kriegen sie in ihren Beinbereich noch sämtliche Koffer gestellt, die nicht | |
| mehr auf die Ablagen unterm Zugdach passen. Hier empfiehlt sich ein | |
| wasserfestes Modell, wird das Gepäck doch sonst durchtränkt von einem | |
| Aperol-Sekt-Bier-Jägermeister-Cola-Gemisch, da schon nach wenigen Minuten | |
| der erste Volltrunkene über der auf dem ausklappbaren Tischchen vor sich | |
| aufgebauten Minibar einnickt und mit seinem herabstürzenden Kopf vier | |
| Becher und zwei Flaschen abräumt, deren Inhalt gemächlich durchs Abteil | |
| mäandert. Zeit, aufs Klo zu gehen. | |
| Vorbei an Sabbernden und Schlafenden im ersten Abteil passiert man im | |
| zweiten Waggon tanzende Technotypen und schwankende Ballermänner, ehe man | |
| im dritten einem jungen Herrn begegnet, der sich gerade eine Zigarette | |
| ansteckt. „Riecht immerhin besser als der ganze Schweiß hier“, konstatiert | |
| ein auf seinem Schlafsack am Boden kauernder und katatonisch ins Nichts | |
| starrender Backpacker, der längst alle Hoffnung hat fahren lassen. | |
| Vor der Toilettentür warten bereits zehn Bechernde. Reiht man sich ein, | |
| offenbart sich in der Bauchtasche des Vordermanns eine kleine Kochbanane. | |
| „Wir haben so ein JGA-Punktesystem für unseren Ausflug: Wer das ganze | |
| Wochenende eine Banane sichtbar mit sich führt, bekommt einen Punkt.“ | |
| Richtet sich der mitleidvolle Blick auf das schon reichlich angebräunte | |
| Obst, so kommentiert der Bananenträger: „Die war heute Morgen noch | |
| knallgelb. Fürchte, die wird morgen schon richtig schimmlig sein.“ | |
| Mindestens 142 Mal betätigt man beim Warten auf der Wagenübergangsbrücke | |
| den Türöffnungsknopf, um nicht von den Schiebetüren eingequetscht zu | |
| werden, ehe Turbulenzen die Warteschlange durchschütteln. Abermals gehen | |
| dabei ein oder zwei Getränke zu Boden, eines davon direktemang in den | |
| eigenen Schuh, wo es den darin befindlichen Socken flutet, was aber kaum | |
| wahrzunehmen ist, fällt einem doch gleichzeitig der zum Getränk gehörige | |
| 100-Kilo-Junggeselle in den Arm und testet so die Elastizität des | |
| Ellenbogengelenks. | |
| Noch schlimmer erwischt es nur den Kochbananenmann, der vor Schmerz | |
| schreit, weil seine Finger zwischen der sich schließenden Tür und der Wand | |
| verschwinden. Zum Glück drückt der Hintermann mit alkoholbedingt leicht | |
| verschlepptem Reflex den rettenden Knopf aber gerade noch rechtzeitig zum | |
| 143. Mal und erlöst die Hand des Kochbananenmanns im letzten Moment: Der | |
| stark Betrunkene ist nur leicht verletzt. Zur Strafe donnert er der Tür mit | |
| der Faust eine Delle ins Blech. Unbeeindruckt schließt diese zum 144. Mal. | |
| ## Pinkeln und Stehen | |
| Bevor man selbst in die gelobte Toilettentür treten darf, drängelt sich | |
| noch eine junge Dame vorbei, der selbstredend keiner in der Männerschlange | |
| abschlagen kann, nach vorn zu dürfen, allein schon, weil alle ahnen, wie es | |
| hinter der Pforte vermutlich aussieht und wie es sein muss, in dieser | |
| Situation nicht ganz so leicht im Stehen pinkeln zu können. | |
| Sobald das Toilettenportal wieder öffnet, wird man Zeuge eines | |
| spektakulären Kung-Fu-Tritts: Die Frau, die ihre Notdurft erfolgreich | |
| verrichtet hat, tritt mit dem Fuß gegen die Spülung, weil sie | |
| nachvollziehbarerweise rein gar nichts in diesem heillos überstrapazierten | |
| Klobereich mit den Fingern berühren will. Bedauerlicherweise geht dabei der | |
| Spülmechanismus zu Bruch. Nun gilt es, schnell zu sein und nicht zu jenem | |
| Auserwählten zu avancieren, der mit seiner Erleichterung das „Fass“ | |
| endgültig zum Überlaufen bringen wird. | |
| Nach etwa 40 Minuten kehrt man schließlich vom Klogang zurück zu seinen | |
| Bilderbuch-Boomern, die noch immer auf „die Grüüünen“ schimpfen. Dabei | |
| blickt man in die zwar längst toten, aber trotzdem noch immer | |
| verurteilenden Augen der drei mitreisenden Freunde, denen man vorab von der | |
| legendären Behaglichkeit tschechischer Züge vorgeschwärmt hatte. | |
| Kann man nach so einer Anreise tatsächlich noch Spaß in Prag haben? Kann | |
| man überhaupt jemals wieder Freude empfinden? „Mental wounds not healing, | |
| life’s a bitter shame“, um es mit Ozzy Osbournes „Crazy Train“ zu sagen. | |
| 26 Jun 2023 | |
| ## AUTOREN | |
| Cornelius Oettle | |
| ## TAGS | |
| Bahnfahren | |
| Bayern | |
| Tschechien | |
| Jürgen Klinsmann | |
| Denken | |
| Schwerpunkt Stadtland | |
| Slowenien | |
| Christen | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| Kolumne Die Wahrheit | |
| ## ARTIKEL ZUM THEMA | |
| Die Wahrheit: „Nie wieder Pjöngjang!“ | |
| Das Wahrheit-Interview: Erstmals nach seiner Entlassung als südkoreanischer | |
| Nationaltrainer äußert sich Jürgen Klinsmann öffentlich. | |
| Die Wahrheit: Hirnloser Bullshit im Hochformat | |
| Intrusive Gedanken: Ein neues extrem krudes Phänomen geistert durch | |
| sämtliche Medien, vor allem aber durch das bei Gedankenlosen beliebte | |
| Tiktok. | |
| Platzfragen bei einer Fahrt im Zug: Die Beschämung in den Sitzreihen | |
| Im Zug kommt man anderen Menschen oft nahe. Natürlich geht es auch dabei um | |
| das Aushandeln von Dissonanzen im öffentlichen Raum, sagt der Ethikrat. | |
| Die Wahrheit: Bärenschwere Slowenen | |
| Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Zur „Slowenischen Woche“ darf | |
| man sich an einem Poem über hungrige Buchmessengäste erfreuen. | |
| Die Wahrheit: Christenkommen | |
| Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte | |
| Leserschaft über gleich zwei treffende Poeme zum Kirchentag erfreuen. | |
| Die Wahrheit: Bayern hat ein #Biergate | |
| Neubayern glauben, alle Insassen des Freistaats saufen. Doch es gibt ja | |
| noch Markus Söder und Hubert Aiwanger – die Nüchternbayern. | |
| Die Wahrheit: Runterspringen und Rauflaufen | |
| Recklinghausen ist kein gutes Pflaster. In Bayern jedoch kommt man hoch | |
| hinaus. Wie auch immer. |