Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Wahrheit: Hirnloser Bullshit im Hochformat
> Intrusive Gedanken: Ein neues extrem krudes Phänomen geistert durch
> sämtliche Medien, vor allem aber durch das bei Gedankenlosen beliebte
> Tiktok.
Bild: Irgendetwas ist bei TikTok längst im Eimer
Neuerdings ist überall von „intrusiven Gedanken“ zu lesen. Sämtliche
Leitmedien berichten darüber: Zeit Online, Bild der Frau, gofeminin.de,
aber vor allem: Tiktok. Der Hashtag #intrusivethoughts zählt gut eine
Milliarde Aufrufe auf jener App, mit deren Hilfe die Chinesen uns alle dazu
zwingen, restlos zu verblöden.
Das Problem: Die Tiktoker haben mal wieder überhaupt keine Ahnung und
machen damit alles noch schlimmer. „Dieser Tiktok-Trend verharmlost
psychische Probleme“, schreibt etwa das Psychologiefachmagazin Glamour.de.
Wegen Tiktok weiß derzeit niemand mehr so richtig, was intrusive Gedanken
eigentlich sind.
Bei intrusiven Gedanken handelt es sich um abgründige und verstörende
Einfälle, die jäh ins Bewusstsein dringen. Nicht selten geht es dabei um
Sex, Gewalt und Selbstzerstörung. Wer hat nicht schon mal an einem
Bahnsteig gestanden, hat auf den wie immer verspäteten Zug gewartet und
sich dann bei dessen Einrollen plötzlich vorgestellt, einen Schritt nach
vorne aufs Gleis zu machen, obwohl man eigentlich gar nicht lebensmüde ist.
Oder hat ein Baby hochgeworfen und sich ausgemalt, es nicht aufzufangen.
Oder hat kurz daran gedacht, mit einem Mann zu schlafen, obwohl man gar
keiner von diesen skurrilen Schwulen ist, sondern eine Person, wie Gott sie
gewollt hat, nämlich eine ganz normale gesunde glückliche Lesbe.
Die gute Nachricht: Wer beim Denken intrusiver Gedanken von sich selbst
erschrocken ist, macht keinen Fehler. Die Empörung zeugt davon, den
Gedanken eher nicht verwirklichen zu wollen. Das Gehirn rechnet lediglich
verschiedene Szenarien durch. Das Denken der Gedanken ist gedankenloses
Denken.
## Keinerlei Gehirnaktivität
Laut einer Studie haben neun von zehn Menschen intrusive Gedanken.
Eigentlich müssten es wohl zehn von zehn sein, aber wie man bei der Studie
ebenfalls herausfand, haben manche Menschen bedauerlicherweise gar keine
Gedanken. Diese Leute zeigen den Auswertungen zufolge meist keinerlei
Gehirnaktivität, nur ab und zu erzeugt ihr Frontallappen eines dieser zwei
noch nicht entschlüsselten Geräusche: entweder „Öffl-öffl, zoinker-zoink�…
oder „Utschi-utschi-utschi – pjuff!“ Dazwischen wählen sie AfD.
Den bereits geschilderten Gedanken, bei dem man imaginiert, die
Durchschlagskraft eines heranrauschenden Zuges mal am eigenen Hüftknochen
zu erspüren, hatten übrigens alle denkenden Menschen, wenn sie am Bahnhof
Göttingen warteten, weil der Bahnhof – Zitat aus der Studie – „selbst aus
neutral-wissenschaftlicher Sicht wirklich erstaunlich hässlich ist“.
Der intrusive Gedanke ist dabei per definitionem ein nicht willkommener
Gedanke. Der Denkende denkt ihn gegen seinen Willen. Üble rassistische
Beleidigungen etwa, die einem im Leben nicht über die Lippen kommen würden,
schießen dann gern mal als intrusive Gedanken in den Sinn. Sollten diese
Gedanken allerdings gar nicht unwillkommen sein, oder jemand neigt sogar
dazu, diese offen auszusprechen und sich selbst als Rassist zu feiern, so
sollten Betroffene laut Einschätzung der Wissenschaftler nicht zum Arzt,
sondern sterben gehen.
Außerdem ist ein intrusiver Gedanke gemeinhin ein für die ihn denkende
Person ungewöhnlicher Gedanke. Das heißt: Eine spontane Idee wie „Der
hirnverbrannteste und menschenverachtendste Bullshit, der wo mir justament
einfällt, den lad ich doch direkt mal in die sozialen Medien rein!“ dürfte
für die meisten von uns ungewöhnlich sein und damit intrusiv. Völlig normal
hingegen ist er für Boris Palmer und Oliver Pocher.
Die Tiktoker aber haben mittlerweile so gut wie jeden Gedanken zu einem
intrusiven Gedanken erklärt. Auf Tiktok gilt es als intrusiver Gedanke,
Lust auf ein viertes Bier zu verspüren, obwohl man am nächsten Tag früh zur
Arbeit muss. Das ist selbstverständlich Unsinn. In diesem Fall handelt es
sich nicht um einen intrusiven Gedanken, sondern wie bei uns allen einfach
nur um ein völlig gesundes Alkoholproblem.
Nicht zu verwechseln sind intrusive Gedanken mit dem Krankheitsbild des
Konservatismus: Menschen, die an Konservatismus leiden, nehmen nicht nur
intrusive Gedanken als verstörend war, sondern jeden neuen Gedanken.
## Brennende Visionen
Niemand sollte sich deshalb von Konservatismuspatienten etwas einreden
lassen: Es ist in Ordnung, ab und zu einen eigenen Gedanken zu denken. Hat
jemand etwa jeden Montagabend die wiederkehrende Vision, sich einen
Kanister Öl über den Kopf zu gießen und brennend durch die Innenstadt zu
rennen, ist das kein Grund zur Sorge und liegt mit hoher Wahrscheinlichkeit
nur daran, dass derjenige gerade „hart aber fair“ schaut.
Intrusive Gedanken an sich sind also erst mal kein Problem. Ein solches
besteht erst, wenn jemand beginnt, intrusive Gedanken in die Tat umzusetzen
oder seine geheim-perversen Dunkelgedanken versehentlich in einen Artikel
wie diesen hineinzuschreiben. Eigentlich könnte ich doch eine militante
Untergrundtruppe gründen, die Jagd auf Vermieter macht und als Visitenkarte
stets das Schreiben der letzten Mieterhöhung zurücklässt. Werden derartige
Verhaltensweisen bei sich oder anderen bemerkt, gilt es, schleunigst
professionelle Hilfe aufzusuchen.
Anders verhält es sich, wenn man sich bei einem Gedanken ertappt wie: „Also
dieser Friedrich Merz spricht mir wirklich aus dem Herzen!“ Auch dann muss
zwar noch keiner einen Psychiater aufsuchen, schleunigst jedoch einen
Kardiologen.
In besonderem Maße erschreckend können auch intrusive Gedanken sein wie
„Mist, es ist Sonntag, und ich hab vergessen einzukaufen, aber ich könnte
ja das Meerschweinchen von unserer Kleinen verputzen, die ist bis Dienstag
bei Oma und merkt es gar nicht, wenn ich mir jetzt den kleinen Mister
Quitschie auf den Elektrogrill lege und morgen schnell ein Ersatztier
kaufe, mit ein bisschen Salat und der geilen Chilisauce vom Asia-Shop
schmeckt das sicher wie Hühnchen!“
Doch selbst dieser Gedanke macht niemanden zum Fall für die
Nervenheilanstalt. Brenzlich würde es erst, wenn Dinge gedacht werden wie
„Ach, vielleicht geb ich ihr doch noch eine Chance und wähl dieses Jahr mal
wieder SPD!“ Einen dermaßen abwegigen intrusiven Gedanken halten die
Studienleiter jedoch selbst bei hochaktiven Tiktok-Nutzern für
ausgeschlossen.
5 Jan 2024
## AUTOREN
Cornelius Oettle
## TAGS
TikTok
Denken
Soziale Medien
Bier
Jürgen Klinsmann
Slowenien
Bahnfahren
Christen
## ARTIKEL ZUM THEMA
Die Wahrheit: „Ich bin der Mario Barth der Musik“
Das große Wahrheit-Interview mit dem erfolgreichsten KI-Musiker
Deutschlands Franz Krauder, der mit seinem Hit in der Party-Szene aneckt.
Die Wahrheit: „Nie wieder Pjöngjang!“
Das Wahrheit-Interview: Erstmals nach seiner Entlassung als südkoreanischer
Nationaltrainer äußert sich Jürgen Klinsmann öffentlich.
Die Wahrheit: Bärenschwere Slowenen
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Zur „Slowenischen Woche“ darf
man sich an einem Poem über hungrige Buchmessengäste erfreuen.
Die Wahrheit: Brechend volle Bananenbahn
Eine Zugfahrt, die ist nicht lustig – zumindest wenn es mit dem „Západní
expres“ von München nach Prag geht und der Gott der Eisenbahn abwesend ist.
Die Wahrheit: Christenkommen
Donnerstag ist Gedichtetag auf der Wahrheit: Heute darf sich die geneigte
Leserschaft über gleich zwei treffende Poeme zum Kirchentag erfreuen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.