# taz.de -- Obdachlosigkeit in Berlin: Die Zeit für Solidarität ist vorbei | |
> Nach der abgesagten Obdachlosenzählung sollte ein Projekt die | |
> Vorstellungen von Wohnungslosen ermitteln. Doch das dafür eingeplante | |
> Geld wurde gestrichen. | |
Bild: Ein Anzeichen von Obdachlosigkeit | |
BERLIN taz | In Berlin leben 50.000 Menschen ohne Wohnung. Eine | |
erschreckend hohe Zahl: Bei einer Einwohner*innenzahl von 3,85 | |
Millionen Menschen ist das jede 77. Person. Darüber hinaus ist sie ungenau. | |
Wer zum Beispiel zeitweise bei Freund*innen oder Bekannten unterkommt, | |
ist in dieser Statistik nicht erfasst, ebenso nur ein Teil der | |
Asylsuchenden, die ohne Unterkunft sind. Die größte Unkenntnis herrscht in | |
der Berliner Politik bislang über die Gruppen obdachloser Menschen, die im | |
öffentlichen Raum leben. Die Größenordnung der Obdachlosigkeit ist unklar | |
und die Anliegen der betroffenen Menschen wurden in die Stadtpolitik wenig | |
integriert. | |
Der [1][„Berliner Masterplan zur Überwindung der Wohnnungslosigkeit bis | |
2030“], erarbeitet unter dem vergangenen rot-grün-roten Senat unter | |
Federführung der damaligen Sozialsenatorin Elke Breitenbach (Linke), wollte | |
das ändern. Die großen Ziele: akute Wohnungs- und Obdachlosigkeit beenden | |
und keine neue entstehen lassen. Dazu sollten bestehende Zahlen zum Ausmaß | |
der Obdachlosigkeit ergänzt und die Versorgung verbessert werden. | |
Im aktuellen Koalitionsvertrag der schwarz-roten Regierung ist das | |
Vorhaben, Obdachlosigkeit bis 2030 zu beenden, weiterhin festgeschrieben. | |
Unter anderem sollen durch ein geschütztes Marktsegment insgesamt 2.500 | |
Wohnungen bereitgestellt werden. | |
Um die Ziele der Senatsverwaltung aus dem Masterplan von 2021 zu | |
unterstützen, war im August 2021 das Projekt [2][„Zeit der Solidarität“] | |
gestartet. Getragen wurde das Projekt vom Verband für sozial-kulturelle | |
Arbeit (VskA) in Kooperation mit der Senatsverwaltung für Integration, | |
Arbeit und Soziales und der Freiwilligenagentur Marzahn-Hellersdorf. | |
Finanziell gefördert wurde das Vorhaben von der Lotto-Stiftung Berlin. | |
Nachdem im Juni dieses Jahres bekannt wurde, dass diese Förderung | |
unerwartet ausläuft, sind die Mitarbeitenden mit Fragen der Finanzierung | |
beschäftigt. | |
Sozialsenatorin Breitenbach hatte mit dem Projekt [3][„Nacht der | |
Solidarität“] bereits 2020 einen ersten Versuch unternommen, | |
Straßenobdachlosigkeit auch in Zahlen zu fassen. In der Nacht vom 29. auf | |
den 30. Januar 2020 waren zu diesem Zweck rund 3.000 Freiwillige in kleinen | |
Teams unterwegs gewesen. Sie konnten etwa 2.000 obdachlose Menschen in | |
Notübernachtungen oder im öffentlichen Raum ausmachen. Auch diese Zählung | |
gibt nur einen Hinweis auf die tatsächliche Zahl. Und es gab auch Kritik am | |
Vorgehen der Senatsverwaltung, unter anderem von einer überregionalen | |
Plattform der Selbstvertretung wohnungsloser und ehemals wohnungsloser | |
Menschen, „Wohnungslosentreffen“. „Statt auszuschwärmen und die Stadt zu | |
durchsuchen, wäre es sinnvoller, einladende Anlaufpunkte zu schaffen, in | |
denen obdachlose Menschen freiwillig ihre Bedarfe und Wünsche und | |
Vorstellungen äußern können“, hieß es damals im Januar 2020 in einer | |
Stellungnahme. | |
## „Zeit der Solidarität“ | |
Genau dies hätte Teil des Folgeprojekts „Zeit der Solidarität“ sein solle… | |
welches außerdem die Zählungen wiederholen sollte. Insgesamt waren dazu ab | |
2021 drei Jahre vorgesehen, die Lotto-Stiftung Berlin hatte entsprechende | |
Mittel zugesagt. Dann aber fanden sich für die Zählung im Juni 2022 nicht | |
genug Helfende, sie musste abgesagt werden. Also passte das Projektteam in | |
Absprache mit der Senatsverwaltung die Methode an. Statt möglichst viele | |
Teilnehmende nach bestimmten Daten zu fragen, wurde mit dem neuen | |
Projektbaustein „Zeit für Gespräche“ eine qualitative Befragung | |
organisiert, die den Befragten Raum für ihre Themen lassen sollte. | |
Dies erforderte einige Vorbereitung: Mehr als 100 Freiwillige lernten in | |
einer Schulung, solche Interviews zu führen. Etwa die Hälfte von ihnen | |
blieb dabei. Sie vereinbarten Termine mit Einrichtungen und suchten auch | |
Kontakt zu obdachlosen Menschen direkt in der Nachbarschaft. Neun Fragen, | |
für alle die gleichen, sollten die Teilnehmenden anregen, über ihre | |
Lebenssituation, Gründe für den Verlust der Wohnung, Schwierigkeiten im | |
Alltag zu sprechen. Auch über Diskriminierungserfahrungen wurde erzählt und | |
Wünsche für die Zukunft und Forderungen an die Politik formuliert. | |
Die bisherigen Ergebnisse von Zeit der Solidarität sind die ersten | |
offiziellen Dokumentationen ihrer Art. Sie zeigen dringenden | |
Verbesserungsbedarf auf: Zum Beispiel braucht es aus Sicht der Betroffenen | |
nicht nur mehr Räume zum Übernachten, sondern andere als jetzt. Für trans | |
und inter Menschen sowie Menschen, die offen nichtbinär oder queer leben, | |
sind solche Unterkünfte ausschließend oder werden als besonders unsichere | |
Räume erfahren. | |
„Das Vorgehen war aufwendig und erforderte viel Initiative seitens der | |
Freiwilligen. Und natürlich von den Befragten. Sie haben sich viel Zeit | |
genommen und uns zum Teil sehr Privates und auch Berührendes anvertraut. | |
Das war sicher nicht einfach und sehr wertvoll“, erzählt Stella Kunkat von | |
Zeit der Solidarität der taz. Um Themen zu fokussieren, trafen sich das | |
Projektteam, einzelne Freiwillige und ein Teil der Befragten zwischen | |
Februar und Mai dieses Jahres noch mehrere Male. So niedrigschwellig diese | |
Treffen in den Nachbarschaftshäusern auch angesetzt waren, bedeuteten sie | |
doch vor allem für die wohnungslosen Teilnehmenden einigen Aufwand, die in | |
ihrem Alltag unter erschwerten Bedingungen schon jede Menge organisieren | |
müssen. Trotz dieser Hürden ist aus den Treffen auch eine neue | |
Selbstvertretung hervorgegangen, die [4][Union für Obdachlosenrechte | |
Berlin], kurz UfO Berlin. | |
Im Sinne einer Wohnungslosenpolitik, die sich für die Bedarfe der | |
Betroffenen interessiert, ein Erfolg. Im Unterschied zur Verwaltung, die | |
vor allem die Platzvergabe und Zuständigkeiten der Notunterkünfte regelt, | |
soll Obdachlosigkeit aus Perspektive der Nachbarschaftlichkeit angegangen | |
werden. „Wir wollen die Abgrenzung zwischen behausten Menschen, also denen, | |
die eine Wohnung haben, und denen, die keine haben, nicht stehen lassen. | |
Unser Ansatz ist, alle als Menschen einer Nachbarschaft anzusprechen und | |
damit auch Solidarität mit obdachlosen Menschen zu stärken“, so Kunkat. Der | |
Kontakt und die Gespräche hätten vielen der behausten Freiwilligen erst | |
klargemacht, wie schnell es in einer Stadt wie Berlin gehen kann, die | |
Wohnung zu verlieren. Durch Mietschulden zum Beispiel oder einfach eine | |
Kündigung wegen Eigenbedarf oder eine Räumungsklage, die man nicht abwenden | |
kann. Das kann jemanden zwingen, die Wohnung zu verlassen, ohne dass man | |
eine neue feste Bleibe gefunden hat. | |
## Eine gravierende Veränderung | |
Die Tatsache, dass Zeit für Solidarität die Art der Befragung an die | |
Gegebenheiten angepasst hat, scheint in den Augen des Geldgebers, der | |
Lotto-Stiftung Berlin, eine gravierende Veränderung zu sein. Jedenfalls | |
wurde der Abruf für bereits verplante Gelder bei einer Stiftungsratssitzung | |
im Winter 2022/23 nicht genehmigt. „Diese Nachricht hat uns spät erreicht | |
und auch überrascht“, sagt Kunkat. Da die Senatsverwaltung das Projekt von | |
Anfang an unterstützte und auch die Änderungen guthieß, sei man nicht davon | |
ausgegangen, dass es ein solches Problem geben könnte. Auf Anfrage der taz | |
bestätigte die jetzige Senatsverwaltung diese Unterstützung. Im gleichen | |
Schreiben heißt es, der Charakter des Projekts habe sich deutlich | |
verändert. Letztlich entscheidet der Stiftungsrat der Lotto-Stiftung über | |
die Vergabe der Gelder. Protokolle über die Abstimmung sind nicht | |
einsehbar. | |
Immerhin konnte eine Kampagne der neu gegründeten UfO Berlin Spenden | |
einwerben und darf außerdem zumindest die Kosten für das laufende | |
Förderjahr, bis Ende August, bei der Lotto-Stiftung Berlin abrechnen. Damit | |
sei großer Schaden für die Projektpartner abgewendet worden, heißt es in | |
einer Presseerklärung. Wie es nun weitergeht für UfO Berlin, steht | |
unterdessen noch nicht fest. Derzeit würden Verhandlungen mit anderen | |
Trägern laufen, sagt Kunkat. | |
Im Mai 2023 veröffentlichte unterdessen die Bezirksverwaltung Neukölln | |
einen „Leitfaden Obdachlosigkeit im öffentlichen Raum“. Dieser modelliert | |
das komplexe Problem zu einer ordnungsrechtlichen, polizeilich lösbaren | |
Aufgabe um. Sozialstadtrat Falko Liecke (CDU) sieht laut Pressemitteilung | |
in unregulierter „freiwilliger Obdachlosigkeit“ eine Gefahr der | |
öffentlichen Sicherheit und Ordnung. Im Leitfaden werden Räumungen und auch | |
„Rückführung“, also die Abschiebung obdachloser Menschen, als vermeintlic… | |
Lösungen präsentiert. | |
9 Aug 2023 | |
## LINKS | |
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## AUTOREN | |
Lisa Bor | |
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