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# taz.de -- Abgesagte Obdachlosenzählung in Berlin: Brauchen wir diese Zählun…
> Mittwochnacht sollte es die zweite Obdachlosenzählung geben. Mangels
> Freiwilliger wird sie verschoben. Brauchen wir sie echt noch? Ein Pro und
> Contra.
Bild: Obdachloser Mensch vor dem Eingang einer Kirche in Kreuzberg
Ja, sagt Bálint Vojtonovszki. Er leitet beim Verband für
sozial-kulturelle Arbeit das Projekt „Zeit der Solidarität“, zu dem auch
die Zählung und Befragung obdachloser Berliner:innen gehört:
„Klar war die Verschiebung eine schwere Entscheidung und natürlich sind
einige sauer und enttäuscht. Aber es waren einfach [1][nicht genug
Freiwillige], um das Projekt vernünftig durchzuführen. Wir hoffen jetzt,
dass das im Winter wieder anders wird.
Eigentlich war eine Sommerzählung vorgesehen und die wollen wir auch auf
jeden Fall noch machen. Aber erst einmal ist es – nach zwei Verschiebungen
– wichtig, dass der Abstand zur ersten Erhebung nicht zu groß ist. Die
Daten verlieren sonst ihre Aussagekraft.
Dass es jetzt nicht geklappt hat, hat Gründe, wir müssen das noch genauer
analysieren. Es ist gerade sehr schwer für alle Vereine, Freiwillige für
die Obdachlosenhilfe zu gewinnen. Im Sommer sind die Aufmerksamkeit und
Empathie und auch das Interesse der Medien geringer. Aber das wussten wir
und wollten gerade da auch Bewusstsein schaffen. Womit wir aber nicht
rechnen konnten, war der [2][Ukrainekrieg. Die Folgen binden viele
Freiwillige].
Kritik gab und gibt es schon die ganze Zeit, schon vor der ersten Zählung
im Januar 2020. Auch von Wohnungslosenselbstvertretungen. Da gibt es einmal
die Selbstvertretung wohnungsloser Menschen, mit denen wir
zusammenarbeiten. Sie sind Mitwirkende unserer Veranstaltungen, die trotz
der abgesagten Erhebung jetzt stattfinden. Sie sind nicht gegen die
Erhebung, aber sie üben Kritik an der Methodik. Darüber können wir
diskutieren. Manches haben wir auch schon berücksichtigt. Zum Beispiel sind
für die Erhebung nur noch Dreierteams geplant, weil zu große Gruppen für
obdachlose Menschen beängstigend sein könnten.
Dann gibt es noch die Wohnungslosenstiftung, die ist ziemlich neu, aber in
der Gründungsphase haben wir da auch Kontakt gesucht. Sie lehnen jede
Datenerhebung ab. Wir sind offen für Diskussionen, aber was soll man da
diskutieren?
Natürlich schaffen Daten allein keine Obdachlosigkeit ab. Aber die Politik
muss Daten haben, um Hilfsangebote bedarfsgerecht anzupassen. Auch die
Zivilgesellschaft kann die Daten nutzen, um Veränderungen voranzutreiben.
Niemand kann alle obdachlosen, geschweige denn wohnungslosen Menschen
zahlenmäßig erfassen, das ist auch nicht unser Anspruch. Aber wenn man
diese Erhebung regelmäßig macht, dann werden Trends erkennbar und das
liefert uns wertvolle Informationen über die Effizienz der Hilfsangebote
und Leistungen.
Die Statistik ist die Grundlage. Auch für [3][Projekte wie Housing First]:
Wie viele Wohnungen brauchen wir denn für obdachlose Menschen? 5.000 oder
10.000? Ohne Erhebungen wissen wir das nicht. Unsere Statistik aus der
Straßenzählung ist dabei nur ein Teil. Wir würden uns sehr freuen, wenn
endlich auch die übrigen Gruppen von wohnungslosen Menschen erfasst würden.
Sinn macht das Projekt nur langfristig. Im Moment gibt es eine Finanzierung
bis 2024 über die Lottostiftung. Spätestens danach muss es verstetigt
werden, im Haushalt ist dafür schon ein Posten – noch ohne Summe –
vorgesehen. Wir brauchen die Politik, aber es ist gut, dass die
Zivilgesellschaft die Verantwortung trägt. Wir sind vernetzt mit Vereinen
der Nachbarschaftshilfe und wollen uns so in den Kiezen verankern, so dass
sich Menschen langfristig engagieren. Wir wollen auch mehr Menschen mit
Obdachlosigkeitserfahrung einbinden.
Warum sollte diese Datenerhebung menschenunwürdig sein? Dieses Jahr ist
auch der Zensus, da werden Menschen an ihren Haustüren befragt. Unser
Projekt ist ähnlich.
Wir brauchen Daten und solidarisches Handeln, um Wohnungslosigkeit zu
bekämpfen. Unser Projekt steht für beides.“Protokoll: Manuela Heim
Nein, sagt Stefan Schneider von der neu gegründeten Wohnungslosenstiftung,
einem Netzwerk von und für (ehemals) wohnungslose und von Wohnungslosigkeit
bedrohte Menschen:
„Es war so einige Wochen vor [4][der ersten Zählung]: da wurde großer Unmut
laut unter wohnungslosen Menschen, die da nun gezählt werden sollten. Das
war der Beginn einer kritischen Position, die sich jetzt, in diesem Sommer,
im Prinzip noch einmal wiederholt. Und in dem Moment, wo es Gegenwind von
Obdachlosen gibt, wird deutlich: Da stimmt was nicht.
Das Narrativ zu dieser Zählung ist: Wir brauchen Zahlen, um dies und jenes
zu tun. Aber jeder, der in Berlin lebt und sich bewegt, der kommt an
Obdachlosigkeit gar nicht vorbei. Wir haben ein Problem mit
Obdachlosigkeit, und das Mittel dagegen sind Wohnungen. Wenn man die
bereitstellt, mit Housing First, dann würde sich die Obdachlosigkeit
nachhaltig verringern.
Dafür brauche ich keine genauen Zahlen. Man muss einfach mal richtig
loslegen und das konsequent durchziehen. Die Wartezeiten bei Housing First
sind mit Glück mehrere Monate. Diesen Spannungsbogen halten obdachlose
Menschen aber nicht aus. Da geht es um die nächste Nacht.
Diese Argumente, die da noch für die Zählung kommen: „Die Obdachlosen
brauchen mehr Aufmerksamkeit.“ Nein, sie brauchen eine Wohnung! Oder: „Wir
müssen mehr wissen über das Leben auf der Straße.“ Nein, müssen wir nicht,
das Leben auf der Straße ist scheiße, und das macht keiner gern freiwillig.
Das machen die Leute, weil die Angebote noch beschissener sind.
Die ganzen Gängeleien in den Notunterkünften, das Schlafen in Bettensälen
oder Wärmehallen, aus denen man morgens um 8 Uhr wieder raus sein muss, die
längerfristigen Unterkünfte, die auch nicht mehr sind als Verwahrstationen
ohne Perspektiven …
Über diese haltlosen Zustände müssen wir reden, und dafür brauchen wir
keine Zählung. Mal ehrlich, das ist so ein beschwichtigendes Kümmern von
Menschen, die eine Wohnung haben. Aber das hat keinen Nutzen, keinen
Mehrwert für die obdachlosen Menschen selbst.
Bestimmt gibt es Obdachlose, die sich dadurch auch mal gesehen fühlen. Das
ist wie mit der Suppe, die kostenlos verteilt wird. Die stillt kurz den
Hunger, aber grundlegend verändert sich nichts. Was hat sich denn seit der
ersten Zählung geändert? Fragen Sie doch mal unter Obdachlosen herum!
Wenn man wirklich mehr Aufmerksamkeit für den Kampf gegen Obdachlosigkeit
haben will, dann schickt die Leute los und lasst sie leerstehende Häuser
und unbebaute Brachen zählen. Ja, wir sollten dafür sensibilisieren, wo
Platz für Wohnungen ist, statt in einem menschenunwürdigen und methodisch
fragwürdigen Vorgang Obdachlose zu zählen. Und dann lasst uns Mechanismen
entwickeln, diese Räume auch zu nutzen, und wir werden sehen, wie schnell
die Obdachlosigkeit zurückgeht.
Das wurde doch auch während Corona deutlich, als leerstehende Hotels
angemietet wurden für Obdachlose. Die Leute, die das begleitet haben, haben
gesagt: Es ging den Leuten von heute auf morgen besser, ohne den Stress der
Straße. Die Menschen fingen wieder an, darüber nachzudenken, wohin ihr
Leben gehen soll. Das ist das, was wir brauchen. Auch im Sinne der
EU-Vorgabe, die Obdachlosigkeit bis 2030 zu überwinden.
Lasst uns reden, ja. Wie wir Obdachlosigkeit wirklich bekämpfen. Aber
vorher sagt diese Zählung ganz ab. Die Ablehnung der Zählung ist eine
Chance, die zahlreichen unzumutbaren Angebote der Kältehilfe und
Wohnungslosenhilfe in Frage zu stellen. Darüber sollten die endlich
nachdenken, die sich so stark für die Obdachlosenzählung einsetzen und
jetzt gescheitert sind.“ Protokoll: Manuela Heim
22 Jun 2022
## LINKS
[1] /Wissenschaftlerin-zu-Obdachlosenzaehlung/!5857868
[2] /Integration-ukrainischer-Gefluechteter/!5845074
[3] /Housing-First-in-Norddeutschland/!5845137
[4] /Wohnungsnot-und-Verelendung/!5658789
## AUTOREN
Manuela Heim
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Elke Breitenbach
Obdachlosigkeit
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