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# taz.de -- Obdachlosigkeit im Winter: Die soziale Kälte
> Der Winter kann für Obdachlose schnell tödlich sein. Hilfe für Betroffene
> wäre möglich – aber dafür müsste die Politik es wollen.
Bild: Geste gegen die Kälte
Wenn man am Abend in Frankfurt, Leipzig oder Berlin durch die
Business-Viertel spaziert und merkt, dass gut beheizte Büroräume leer
stehen, während Menschen auf der Straße bei Minusgraden um ihr Leben
bangen, versteht man schon, dass so einiges falsch läuft in dieser
Gesellschaft. Schneestürme und Minustemperaturen machen derzeit in ganz
Deutschland Tausenden von obdachlosen Menschen nicht nur Angst, der
Wintereinbruch bedroht ihr Leben. Wieder mal.
Hilfsorganisationen berichten, dass Notunterkünfte überbelegt sind.
Obdachlose drängen sich dort auf Böden und Bänken, um zu überleben. Lieber
unbequem als tot. Erst Ende des Monats schloss eine 24/7-Unterkunft in
Berlin-Mitte ersatzlos. Allein in [1][Berlin] fehlen laut der Liga der
Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege mehr als 400 Plätze für
Obdachlose. In anderen Städten sieht es proportional ähnlich aus. Dabei
gäbe es pragmatische Lösungen, die unverzüglich greifen würden, um die
Menschenwürde zu wahren.
Vereine und Initiativen, die sich um [2][Obdachlose in deutschen
Großstädten] kümmern, sind nicht ausreichend finanziert. Es kann nicht
sein, dass die Bereitstellung dieser überlebenswichtigen Infrastruktur auf
Spendengelder angewiesen ist. Ja, es ist Adventszeit. Viele Menschen öffnen
ihre Portemonnaies, um zu geben – und Spenden von der Steuer abzusetzen.
Geld- und Sachspenden können natürlich weiter geleistet werden, aber vor
allem die Landespolitik, die in Deutschland zu einem großen Teil den
sozialen Bereich zu verantworten hat, sollte dafür sorgen, dass
Obdachlosenhilfe ausreichend Mittel bekommt: um Personal zu bezahlen,
Gebäude anzumieten, Betten bereitzustellen, warme Mahlzeiten und
Gesundheitsversorgung anzubieten, Menschen zuzuhören und sie auch mal in
den Arm zu nehmen.
Für die abends und am Wochenende leer stehenden Büros gibt es ebenfalls
eine Funktion: In Paris – wo derzeit Obdachlose vertrieben werden, damit es
für Olympia 2024 schön aussieht – gibt es eine Initiative namens „bureaux
du cœur“. Sie vermittelt obdachlose Menschen an (Klein-)Unternehmen, die
ihre Räume außerhalb ihrer Geschäftszeiten als feste
Übernachtungsmöglichkeit anbieten. Endlich eine gute Idee, mit der sich
Unternehmen mal für etwas Gutes einsetzen können. In deutschen Städten
sollte es ebenfalls so ein Programm geben.
## Mehr Geld für soziale Projekte
Dass schnell und unbürokratisch Nothilfe geleistet werden kann, zeigte die
Deutsche Bahn vergangene Woche. Als der Münchner Hauptbahnhof wegen des
Wintereinbruchs seinen Betrieb einstellen musste, stellte sie beheizte Züge
bereit, in denen gestrandete Passagiere übernachten konnten. Wie wäre es,
wenn an jedem größeren Bahnhof so ein Zug oder vielleicht auch zwei
stünden, damit Obdachlose dort zumindest die Nacht verbringen könnten?
Kältebusse fahren schon durch die Städte und sammeln teilweise Menschen
auf, die bei –15 Grad auf dem Asphaltboden kauern.
Mehr Geld für Kältebusse anstatt sozialer Kälte bei Haushaltsdebatten würde
dieser Gesellschaft gut tun. Oft wird in Deutschland mit technischen und
juristischen Argumenten verhindert, dass Hilfe bereitgestellt wird. Dabei
sollte es eine Selbstverständlichkeit sein, Bahnhöfe, städtische
Sanitäranlagen oder leer stehende Wohnhäuser (oft Spekulationsobjekte des
menschenfeindlichen Immobilienmarkts) für obdachlose Menschen zu öffnen –
mit dem Verweis auf eine akute Notlage.
Mehr Geld für soziale Arbeit samt Sprachmittler*innen und Angebote für
verschiedene obdachlose Gruppen könnten nachhaltige Lösungen bieten.
Menschen, die aus den verschiedensten Gründen auf der Straße gelandet sind,
verdienen Respekt. Und es braucht eine Wohnpolitik, die pragmatisch
Wohnraum für alle bereitstellt. Es ist nicht zu spät, den Wohnraummangel zu
beseitigen und Wohnungen – auch für dann ehemals Obdachlose –
bereitzustellen.
4 Dec 2023
## LINKS
[1] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5951299
[2] /Wohnungslosigkeit-in-Deutschland/!5971851
## AUTOREN
Mohamed Amjahid
## TAGS
Obdachlosigkeit
Winter
soziale Ungleichheit
IG
Kolumne Zwischen Menschen
Obdachlosigkeit
Wohnungslosigkeit
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Lesestück Recherche und Reportage
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