Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Obdachlosigkeit im Winter: Zurückgeschickt in den Schnee
> Die Obdachlosenunterkünfte sind voll, viele Menschen werden abgewiesen.
> Immobilien für Notunterkünfte sind immer schwerer zu finden.
Am Kottbusser Tor in Kreuzberg unter der Hochbahn sitzen am Mittwochmittag
zwei Männer zusammengekauert auf dem Boden. Sie zittern vor Kälte, einer
versucht, eine Crack-Pfeife zu stopfen. Warum sie nicht im U-Bahnhof
Unterschlupf suchen? „Kein Bock auf den Stress“, sagt der eine. Da seien
immer so viele Leute, die Ärger machten, sagt er und zeigt auf seine
Pfeife. Abends kämen viele Obdachlose unter die Brücke, wo er gerade sitzt.
Er selbst schlafe bei seiner Frau, die habe eine Wohnung.
Sein Freund erzählt, er übernachte im U-Bahnhof. Er habe keine Adresse und
glaubt fälschlicherweise, deshalb nicht in eine Notunterkunft gehen zu
können. Mitarbeiter*innen der Kältehilfe hätten sie noch nie gesehen.
Auch Mario, der rauchend neben seinem Zelt ein paar Meter weiter steht,
geht abends nicht in eine Notunterkunft. Dort habe er schon öfter Ärger
gehabt – auch weil er schlecht Deutsch spreche. „Hier können wir zu zweit
sein und es gibt keine Probleme.“
Der Winter hat Berlin fest im Griff und der Mangel an Notschlafplätzen wird
immer offenkundiger. Zwar wirbt die Sozialverwaltung auf Twitter für die
Kältehilfe mit dem Slogan [1][„Unser Motto: Wer ein Bett braucht, bekommt
auch eins!“] Doch zumindest aktuell stimmt dies offensichtlich nicht.
„Seit einigen Tagen können unsere Fahrer ab 23 Uhr abends die Menschen
nicht mehr in Kältehilfeeinrichtungen unterbringen, weil alles voll ist“,
berichtet Barbara Breuer, Sprecherin der Stadtmission, am Mittwoch der taz:
„Sie müssen sie auf der Straße mit heißem Tee und Schlafsäcken versorgen.…
Die Stadtmission betreibt mehrere Notübernachtungen und zwei Kältebusse,
die nachts herumfahren und Obdachlose versorgen und in die Notschlafstellen
fahren.
Auch Elisa Lindemann vom AK Wohnungsnot, einem Zusammenschluss von
Einrichtungen der Wohnungslosenhilfe, berichtet, dass es derzeit immer
wieder vorkomme, „dass Personen von Notübernachtungen und Nachtcafés
aufgrund fehlender Platzkapazitäten abgewiesen werden müssen, regelmäßig
leider auch ohne Alternativen in anderen Einrichtungen“.
## Dramatische Überbelegung der Unterkünfte
Laut Sozialverwaltung gab es in der vergangenen Woche im Mittel 1.030
Notübernachtungsplätze in der Kältehilfe, von denen im Schnitt 996 belegt
waren. Eine Woche zuvor waren es noch [2][1.079 Plätze, von denen
durchschnittlich 1.007 belegt] waren. Mitten im Kälteeinbruch fallen also
sogar Notschlafplätze weg. Zudem musste vorige Woche eine reguläre
24/7-Obdachloseneinrichtung mit 88 Plätzen schließen.
Dieses Jahr sei es wirklich „dramatisch“, bestätigt Sebastian Peters,
Sprecher der LIGA Berlin, einem Zusammenschluss der freien
Wohlfahrtsverbände. „Wir haben eine flächendeckende Überbelegung, nicht wie
sonst nur in der Innenstadt.“ Wo es geht, würden Schlafplätze aufgestockt,
„aber wir kommen an unsere Grenzen.“ In der größten Einrichtung der
Stadtmission in der Lehrter Straße in Mitte gibt es 125 Plätze – inzwischen
schliefen dort jede Nacht 150 bis 160 Menschen, berichtet Breuer.
Das Problem hatte sich schon zu Beginn der Kältehilfesaison angekündigt: Es
werde Jahr für Jahr schwieriger, Immobilien für Notunterkünfte zu finden,
sagte Ende September die Geschäftsführerin der LIGA, Ursula Schoen. „Wir
erleben es in nahezu allen Bereichen von Jugend- bis Eingliederungshilfe,
dass der soziale Immobilienmarkt an Grenzen stößt.“ Dadurch funktioniere
die Winternothilfe praktisch nicht mehr.
Davon weiß auch Breuer von der Stadtmission ein Lied zu singen: „Viele
Gebäude sind zu teuer oder marode und müssten erst aufwändig saniert
werden.“ Stefan Strauß, Sprecher von Sozialsenatorin Cancel Kiziltepe (SPD)
erklärt, dass der Senat andauernd neue Objekte suche, die für
Notübernachtungen in der Kältehilfe geeignet sind. Elf Stück habe man
dieses Jahr geprüft, „übrig geblieben sind zwei Objekte, die anderen
erwiesen sich als ungeeignet“.
Neue Unterkunft soll öffnen
Eine gute Nachricht hat Strauß dennoch zu verkünden: In
Charlottenburg-Wilmersdorf soll noch vor Weihnachten eine Unterkunft mit
140 Plätzen eröffnen, barrierearm und mit acht Plätzen für Menschen im
Rollstuhl. Eine weitere Unterkunft mit 20 Notschlafplätzen für obdachlose
Frauen solle im Dezember eröffnen.
Für Rollstuhlfahrer sei die Lage besonders schwierig, sagt Breuer, denn für
sie gebe es keine geeigneten Unterkünfte in der Kältehilfe. Die
Traglufthalle in Lichtenberg sei immerhin „barrierearm“, aber auch dort
könnten Rollstuhlfahrer, die sich nicht selbst versorgen können, nicht
untergebracht werden. „Diese Menschen müssen unsere ehrenamtlichen Helfer
leider abweisen, was ihnen sehr schwer fällt.“
Was also tun? Die Linke fordert, bis die Kältehilfe ihre Plätze aufgestockt
habe, solle die BVG nachts „einige“ U-Bahnhöfe öffnen – wie sie es bis …
jeden Winter getan hatte. Die BVG lehnt dies ab: Das sei zu gefährlich
wegen des Starkstroms im Gleisbett, auch gebe es keine sanitären Anlagen,
sagte ein Sprecher.
7 Dec 2023
## LINKS
[1] https://twitter.com/SenASGIVA/status/1732380630342570205
[2] https://twitter.com/SenASGIVA/status/1729799320235294939
## AUTOREN
Lilly Schröder
Susanne Memarnia
## TAGS
Obdachlosigkeit
Kältehilfe
Berliner Stadtmission
Kältehilfe
Obdachlosigkeit
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
Obdachlosigkeit
Notunterkunft
Schwerpunkt Obdachlosigkeit in Berlin
## ARTIKEL ZUM THEMA
Kältehilfe Caritas in Berlin: Die Charity Lady vom Bundesplatz
Die Wärmestube der Caritas am Bundesplatz ist bei Menschen, die von Armut
betroffen sind, sehr beliebt. Das liegt auch an Angelika Kaljic.
Obdachlose im Winter: Die Kälte überleben
Für Menschen auf der Straße sind Minusgrade lebensgefährlich.
Sozialarbeiter:innen tun, was geht. Vor allem aber darf Wohnen kein
Luxus sein.
Obdachlosigkeit: Leere kleine Häuser
taz-Serie „Was macht eigentlich …“: In Friedrichshain-Kreuzberg stehen
mehrere Wohnboxen für obdachlose Menschen. Aber das Projekt liegt auf Eis.
Obdachlosigkeit im Winter: Die soziale Kälte
Der Winter kann für Obdachlose schnell tödlich sein. Hilfe für Betroffene
wäre möglich – aber dafür müsste die Politik es wollen.
Notunterkunft geschlossen: Auszug ins Ungewisse
Eine von zwei „24/7-Notunterkünften“ für Wohnungs- und Obdachlose schlie�…
eine Alternative ist gescheitert. Die Stadtmission weist Kritik zurück.
Obdachlosigkeit in Berlin: Mehr als ein Bett
In einer 24/7-Unterkunft in Berlin-Kreuzberg können Frauen auch tagsüber so
lang bleiben, wie sie wollen. Trotz Erfolg ist das Projekt gefährdet.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.