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# taz.de -- Ausstellung über Obdachlosigkeit: Ein Zuhause wie ein Lagerfeuer
> In der Ausstellung „Home Street Home“ porträtiert Fotografin Debora
> Ruppert Menschen, die den Weg aus der Obdachlosigkeit geschafft haben.
Bild: Blick in die Ausstellung „Home Street Home“ der Fotografin Debora Rup…
Berlin taz | Menschen stehen in ihrer Wohnung am Fenster und blicken nach
draußen. Manche von ihnen wohnen minimalistisch, andere haben es sich mit
bunter Bettwäsche oder Fußballschals an den Wänden gemütlich gemacht. Die
Küche von Ralf-Peter, 60 Jahre alt, ist blitzsauber. Er steht im
Schottenrock vor der Spüle und macht den Abwasch. Alle anderen Räume der
Wohnung sind nur in Ausschnitten zu sehen: Kaffee und Kekse auf dem
Esstisch, ein paar liebevoll arrangierte Kuscheltiere auf der Fensterbank.
Dabei entscheidet Ralf-Peter selbst, wie viel Einblick er in seine vier
Wände gewähren möchte.
Alle Menschen, die im Rahmen der aktuell im Paul-Löbe-Haus im Bundestag
laufenden [1][Ausstellung „Home Street Home“] vorgestellt werden, waren
jahrelang wohnungs- oder obdachlos. Die Fotografin Debora Ruppert ist
monatelang durch Deutschland gereist, um sie zu porträtieren.
Ruppert lebt in Berlin und recherchiert und fotografiert seit über zwölf
Jahren zu Themen wie Obdachlosigkeit, Armut oder Flucht. Ihre Arbeitsweise
gilt als besonders sensibel und empathisch. Auch die Fotos aus „Home Street
Home“ zeugen von gegenseitigem Vertrauen und Respekt: Die Porträtierten
entschieden selbst, was sie von sich zeigen wollen – manchmal das gemachte
Bett, manchmal der überladene Kleiderständer oder die Küche, in der sich
das Geschirr stapelt. Einige haben sich für die Serie mit dem
Selbstauslöser fotografiert, während sie essen oder schlafen. Andere sind
gar nicht direkt zu sehen.
Bereits vor „Home Street Home“ stellte Ruppert im Rahmen der Ausstellung
„Kein Raum“ von 2017 bis 2021 eine Auswahl an Porträts von obdach- und
wohnungslosen Menschen in Berlin aus. „Home Street Home“ knüpft nun daran
an, indem sie Menschen nach der Obdachlosigkeit besucht. Während bei „Kein
Raum“ ausschließlich Schwarz-Weiß-Aufnahmen gezeigt wurden, setzt die
Ausstellung im Paul-Löbe-Haus auf Farbfotografien – für Ruppert ein großer
Schritt, den sie gehen wollte, um den Moment des Aufblühens zu betonen, wie
sie sie sagt.
## Housing First für viele die letzte Chance
Neben den Wohnungen wurden jedes Mal auch die Wohnungsschlüssel der
Porträtierten in Nahaufnahme fotografiert. Dafür wurden die Schlüssel in
der Farbe in Szene gesetzt, die die Protagonist*innen mit ihrem Zuhause
verbinden. Für Danny aus Saarbrücken ist das zum Beispiel ein warmes
Orange, weil ihm jedes Mal ein Lagerfeuer in den Sinn komme, wenn er an
Zuhause denke. Für Stefanella aus Veitsrodt in Rheinland-Pfalz ist es
Schwarz wie „das Zuhause, wo ich ganz viel Kaffee trinke“.
Während ihrer Recherche für „Home Street Home“ sprach Ruppert auch mit
Sozialarbeiter*innen, Aktivist*innen und Vereinen, die im Zusammenhang
mit [2][Housing-First-Projekten] tätig sind – ein sozialpolitischer Ansatz
aus den USA, bei dem zuallererst die Wohnungslosigkeit als zentrales
Problem behoben werden soll, bevor andere Probleme angegangen werden.
Studien bestätigen die [3][positive Wirkung von Housing First]. Auch in
Berlin wurden noch unter dem rot-rot-grünen Vorvorgängersenat von 2018 bis
2021 zwei Modellprojekte durchgeführt, bei denen 38 alleinstehenden,
langjährig obdachlosen Frauen und Männern die Anmietung einer Wohnung
ermöglicht wurde. Nach der dreijährigen Testphase betrug die Wohnstabilität
– also der Anteil der Menschen, die nach dieser Zeit noch in ihren
Wohnungen lebten – fast 100 Prozent. Mittlerweile ist Housing First fester
Bestandteil der Berliner Strategie gegen Obdachlosigkeit, [4][die bis 2030
abgeschafft] werden soll.
Auch Ralf-Peter aus Berlin hat seine Wohnung letztendlich über Housing
First erhalten. Durch einen Schufa-Eintrag sei die Wohnungssuche für ihn
bis dahin sehr schwierig verlaufen, erzählt er in einem Videointerview:
Denn während die Fotos intime Einblicke in den Alltag der Porträtierten
gewähren, werden ihre Lebensgeschichten in erster Linie über die Gespräche
greifbar, die mit allen Beteiligten geführt und aufgezeichnet wurden.
## Eigene Wohnung erst der Anfang
Beeindruckend ist dabei die reflektierte Selbsteinschätzung vieler
Porträtierten: Sie sind froh über die eigene Wohnung, wissen aber, dass sie
oft nur ein Anfang sein kann. „Eine Wohnung ist natürlich ein erster
Schritt, aber es löst natürlich nichts an der Problematik, die man ja mit
sich selber, mit dem Drogenproblem hat“, erklärt zum Beispiel Julia aus
Saarbrücken. Ilona aus Bremen sagt, dass sie die Straße manchmal vermisst:
„Ich habe alles, was ich brauche zum Leben, aber ich fühle mich manchmal
alleine.“
Das längste Interview wurde mit Maria geführt. Maria ist 20 Jahre alt, lebt
in Berlin und sagt von sich, vor der Obdachlosigkeit jahrelang eine gute
Bildung und ein sicheres Elternhaus genossen zu haben. Erst mit 14 wurde
Maria aufgrund von „großen Problemen“ aus der Pflegefamilie genommen und in
mehreren Notfallunterkünften und Kliniken untergebracht. Das habe nicht
funktioniert, weil Maria nicht ins System gepasst „und ganz andere Sachen“
gebraucht habe. Den Lebensmittelpunkt daraufhin irgendwann auf die Straße
zu verlegen sei eine „aktive Entscheidung“ gewesen.
Heute wohnt Maria in einer Wohnung in Berlin und macht das Abitur. Allein
in der eigenen Wohnung zu leben, das hätte Maria sich schon mit 14
zugetraut, sagt Maria. „Man hätte mir da mehr zuhören müssen, man hätte m…
da vertrauen müssen, dass ich weiß, was mir guttut“, so Maria.
## Einfühlsam und politisch
„Home Street Home“ will die Politik zum Handeln auffordern. Über 260.000
Menschen in Deutschland leben aktuell ohne Wohnung, rund 37.400 von ihnen
sind obdachlos. In Berlin gibt es schätzungsweise 50.000 wohnungslose
Menschen, bei einer Befragung Anfang Januar 2020 wurden rund 2.000
Obdachlose gezält. Expert*innen gehen jedoch davon aus, dass die
[5][tatsächliche Zahl] sehr viel höher liegen dürfte.
Auch die Porträtierten stellen Forderungen: Sie pochen auf die eigene
Wohnung als Menschenrecht, wollen Housing First weiter ausbauen oder die
Haftstrafe wegen „Schwarzfahrens“ abschaffen.
Mit diesen Forderungen an die Politik ist die Ausstellung im Paul-Löbe-Haus
zwar richtig angesiedelt, ein Besuch erfordert allerdings eine Anmeldung
zwei Tage im Voraus. Die vorherige Ausstellung „Kein Raum“ war dagegen in
mehreren Berliner Bezirken in den Rathäusern zu sehen und wurde bei der
Stadtmission am Bahnhof Zoo gezeigt.
Ralf-Peter aus Berlin ist heute überzeugt davon, dass es nichts gibt, was
ihn damals vor der Obdachlosigkeit hätte bewahren können. „Das kommt, wie
es ist. Du kannst von heute auf morgen obdachlos sein, da kannst du gar
nichts tun.“ Für ihn sei sein Zuhause jetzt ein Ort, wo man sich
zurückziehen und die Tür hinter sich zuziehen kann: „Und du kannst allen
sagen: ‚Ihr, Arschdreck, ihr könnt mich mal kreuzweise.‘“
„Home Street Home“ ist noch bis zum 17. November im Paul-Löbe-Haus zu
sehen, montags bis freitags von 9 bis 17 Uhr, dienstags bis 18 Uhr.
Anmeldung zwei Tage vor dem Besuch per E-Mail an [email protected]
23 Oct 2023
## LINKS
[1] https://www.bundestag.de/ausstellung-home-street-home
[2] /Revolution-der-Wohnungslosenhilfe/!5805697
[3] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5626627
[4] /Wohnungslose-in-Berlin/!5795305
[5] /Obdachlosigkeit-in-Berlin/!5951299
## AUTOREN
Clara Zink
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