| # taz.de -- Revolution der Wohnungslosenhilfe: Nicht nur Gast in der Welt | |
| > Engagierte Sozialarbeiter und die Berliner Sozialsenatorin planen | |
| > grundlegend Neues bei der Wohnungslosenhilfe. Housing First soll Prinzip | |
| > werden. | |
| Bild: Living Room, Berlin 2020/2021 | |
| BERLIN taz | Wenn ich keine Bleibe hatte“, sagt Carl_a, „dann bin ich durch | |
| die Nacht gelaufen.“ Ohne Schlaf. „Ich existierte im Dazwischen.“ Heute | |
| aber sitzen wir auf einer Parkbank, die mal weiß war, am Boxhagener Platz | |
| in Berlin. Alle paar Minuten beugt sich einer über den Mülleimer neben der | |
| Bank, eine Menge Flaschensammler sind unterwegs. „Come as you are“ | |
| schrabbelt jemand irre laut auf der E-Gitarre. Auf der Wiese zwischen | |
| historischem Klohaus und Spielplatz feiern die Leute die letzten starken | |
| Sonnenstrahlen des Jahres. | |
| Carl_a ist 35, war sieben Jahre wohnungslos und kennt die Heime und | |
| Notunterkünfte für Obdachlose. Carl_a ist nichtbinär, daran haben sich | |
| schon einige gestoßen und auch das ist Teil der Geschichte. Er_sie trägt | |
| hier einen anderen Namen als da draußen. | |
| Weil Berlins linke Sozialsenatorin Elke Breitenbach [1][den Umgang mit | |
| Obdachlosigkeit revolutionieren will], hat Carl_a jetzt eine Wohnung – die | |
| erste eigene in Berlin. Aber zunächst „war es auch das System, das mich | |
| obdachlos gemacht hat“. Berlin und andere Großstädte verpulvern Millionen | |
| in die Verwaltung von Obdachlosigkeit: in Notunterkünfte, Wohnheime, | |
| Kleiderstuben, Essensausgaben, Duschmobile – Lösungen auf Zeit, die Elend | |
| mildern aber auch verlängern. Der Kreislauf erhält sich selbst. Die meisten | |
| bleiben Jahre und Jahrzehnte darin gefangen, bis sie daran zugrunde gehen. | |
| Seit einigen Jahren schwappt in kleinen, zaghaften Wellen ein Gedanke nach | |
| Deutschland, der all das in Frage stellt. Was wäre, wenn wir Menschen, die | |
| keine Wohnung mehr haben, [2][einfach genau diese wieder verschaffen?] | |
| Diese so banale wie revolutionäre Idee ist 30 Jahre alt und wurde in einer | |
| Stadt geboren, in der täglich Zehntausende Menschen unter Brücken und in | |
| Hauseingängen aus dem American Dream erwachen. Die Idee kommt also aus New | |
| York und wir sollten uns ihren Namen merken, denn sie wird in aller Welt | |
| diskutiert: Housing First. Berlin könnte als erste deutsche Stadt Housing | |
| First zum Grundprinzip der Obdachlosenarbeit erklären. Das wäre die | |
| Revolution. | |
| Wir rücken zusammen auf der Parkbank, die E-Gitarre dröhnt und Carl_as | |
| Stimme ist leise. Er_sie trägt die Haare kurz, Hose und Pulli sind weit, | |
| weiße Chucks an den Füßen. Die dicke Jacke liegt über der Bank, fast könnte | |
| man T-Shirt tragen in der Oktobersonne. Carl_a dreht eine Tüte und fängt an | |
| zu erzählen. | |
| In den letzten Jahren der DDR ist Carl_a geboren, in einer kleinen Stadt | |
| bei Berlin. Die Mutter schuftet in der Landwirtschaft, der Vater auf dem | |
| Bau. Geheiratet hatten sie nur wegen der staatlichen Wohnungsvergabe und | |
| hielten es nicht lange miteinander aus. Die neuen Partner der Mutter sind | |
| selten ein Gewinn für Carl_a und die kleine Halbschwester. „‚Die Brut‘ h… | |
| uns der Letzte immer genannt.“. Viel getrunken wird in der Familie, die | |
| Mutter verschuldet sich. Und die Kinder: „chronisch vernachlässigt“. | |
| Aber Carl_a trägt schon da einen Kosmos an Möglichkeiten in sich. „Das | |
| schlaue Kind kam in der Schule gut klar“, sagt Carl_a über sich. Selbst als | |
| er_sie mit 14 zum Kinder- und Jugendnotdienst geht, weil es zu Hause nicht | |
| mehr geht, selbst als die Depression ihre ersten Schatten wirft: Die Schule | |
| läuft. Auf einem ehemaligen Jugendwerkhof wird Carl_a zunächst | |
| untergebracht, zieht dann zu den Großeltern. Da säuft zumindest nur der | |
| Opa. „Ich war besser aufgehoben, wenn ich mich nicht auf meine Mutter | |
| verlasse.“ Mit 15 kommt die Musik ins Leben und die erste queere Beziehung. | |
| Das Abi besteht Carl_a mit einem Schnitt von 2,1. | |
| Doch die Depression fordert mehr Raum: „Da war so viel Müdigkeit.“ | |
| Vielleicht ist das Dazwischen schon damals Carl_as Zuhause. Eigentlich will | |
| er_sie studieren, aber es ist das Los der Arbeiterkinder, sich am | |
| Praktischen festhalten zu müssen. Also die Ausbildung in einer Arztpraxis: | |
| eigene Kohle, erste eigene Wohnung in der kleinen Stadt bei Berlin. Eine | |
| Krise endet in wochenlanger Krankschreibung und schließlich der Kündigung. | |
| Aber Risse lassen immer auch Licht rein: Carl_a zieht zur Partner_in nach | |
| Berlin und beginnt ein geisteswissenschaftliches Studium. „Ich habe mich | |
| immer wieder aufgemacht.“ Er_sie arbeitet im Verlagswesen und später im | |
| Musikgeschäft. Die Depression, die immer da ist, therapiert die tägliche | |
| Ration Marihuana. | |
| Als die Beziehung scheitert, zieht Carl_a aus, hangelt sich von | |
| Zwischenmiete zu Zwischenmiete. Nirgendwo kommt er_sie dauerhaft unter, die | |
| Kommunikation in Hausprojekten und WGs gelingt einfach nicht. Carl_a fühlt | |
| sich unverstanden: als Arbeiterkind, als queere Person und als eine_r, | |
| der_die irgendwie anders tickt, „eigentlich schon immer“. | |
| Irgendwann ist Carl_a nur noch Gast auf wechselnden Sofas, das Studium kurz | |
| vor Schluss abgebrochen, die Selbstständigkeit in der Musikbranche bringt | |
| kein Geld. Auch die Depression verraucht nicht. Den letzten Stoß aus der | |
| Gesellschaft führt das Jobcenter aus und zahlt vier lange Monate keine | |
| Regelleistungen. „Von allen Seiten lief die Energie aus mir raus.“ | |
| So landet Carl_a das erste Mal in der Notunterkunft, im Hilfesystem. | |
| Seit fünf Jahren ist Elke Breitenbach Sozialsenatorin. Ob sie es auch in | |
| der neuen Regierung noch sein wird, ist ungewiss, gerade wurde neu gewählt. | |
| Jedenfalls hat Breitenbach kürzlich vorgerechnet: Weit über 300 Millionen | |
| Euro gibt Berlin für die Notversorgung obdachloser und wohnungsloser | |
| Menschen aus. Jedes Jahr. Seit Breitenbachs Amtsantritt sind die Ausgaben | |
| noch einmal deutlich gestiegen. „Wir geben hier unglaublich viel Geld aus, | |
| was richtig ist, weil es um das Leben und die Gesundheit von Menschen | |
| geht“, sagt Breitenbach bei einer Strategiekonferenz im Juni. Sie sagt aber | |
| auch: „Wir müssen uns fragen: Ist dieses Geld gut angelegt?“ | |
| ## Die Logik der Leistungsgesellschaft | |
| Das traditionelle System der Wohnungslosenhilfe basiert auf einem | |
| Stufenmodell: Wer sich bewährt, bekommt einen Platz in einem Wohnheim, | |
| vielleicht zeitweise im betreuten Einzelwohnen und dann irgendwann auch | |
| wieder die Chance auf eine Wohnung. Doch der Weg dahin ist voller | |
| Anforderungen: Sich regelmäßig melden, Tagesplänen folgen, abstinent sein, | |
| nicht auffällig werden. | |
| Fehlverhalten sanktionieren, Wohlverhalten belohnen – das mag in der Logik | |
| der Leistungsgesellschaft stimmig sein. Allein: In der Arbeit mit Menschen, | |
| die mit harten Suchtproblemen, Ängsten, Psychosen, Depressionen ganz unten | |
| gelandet sind, funktioniert es einfach nicht. Das ist frustrierend für die | |
| Obdachlosen und für die vielen engagierten Sozialarbeiter:innen | |
| gleichermaßen. „Wir verwalten die Obdachlosigkeit nur“, sagt | |
| Sozialsenatorin Elke Breitenbach. Und das kann nicht genug sein. | |
| Am Boxhagener Platz zündet Carl_a die Tüte wieder an. Das hilft auch gegen | |
| den Gestank von Pisse, der aus dem Klohaus herüberweht. „Dass ich Hilfe | |
| brauchte, war mir klar.“ Carl_a wendet sich an ein Projekt für obdachlose | |
| Frauen. In Zimmern am Rande der Stadt wird er_sie untergebracht. Auf der | |
| Straße hat Carl_a nur Kontakt zu den paar queeren Personen der Szene. „Man | |
| lernt sich kennen.“ Die Ausgrenzungserfahrung verbindet. | |
| Es gibt auch Beratung – zu den Bedingungen der Hilfeeinrichtung. „Dir wird | |
| ein zeitlicher Rahmen aufgedrückt, du musst dich der Institution | |
| unterordnen.“ Carl_a lehnt Hilfen ab, eckt damit an. „Mein Schutz vor Scham | |
| war es, mich vor unreflektiertem Paternalismus fernzuhalten, der mir etwas | |
| vorschreiben will.“ Die persönliche Freiheit gehört zu den letzten Dingen, | |
| die ein Mensch auf der Straße zu verlieren hat. Daran hält Carl_a fest. | |
| Aber allein nach einem Zuhause zu suchen: „Dafür fehlte die Kraft.“ | |
| ## Ein Anfang mit zwei Projekten | |
| Mit zwei Housing-First-Projekten hat Berlin 2018 angefangen, eines davon | |
| nur für Frauen. In einem der Büros hängen auf blauem Papier die | |
| Grundprinzipien von Housing First. „Wohnen ist Menschenrecht“ steht da ganz | |
| in der Mitte. Es ist der Abschied vom Stufenmodell der traditionellen | |
| Wohnungslosenhilfe, bei dem sich obdachlose Menschen erst als „wohnfähig“ | |
| beweisen müssen. Housing First – Wohnung zuerst – der Name sagt es ja | |
| schon. Es geht nicht um ein Zimmer im Wohnheim, auch nicht um eine Wohnung, | |
| in der obdachlose Menschen als Zwischenlösung für ein paar Monate | |
| unterkommen. Es geht um die eigene Wohnung mit eigenem, unbefristetem | |
| Mietvertrag. | |
| Mehr als 80 Wohnungsschlüssel sind durch Housing First in Berlin seit 2018 | |
| übergeben worden. An Menschen, die vorher in Zelten und unter Brücken | |
| campierten. Menschen mit schweren Suchterkrankungen und psychischen | |
| Beeinträchtigungen. An Großmütter und an Menschen, die noch nicht lange | |
| erwachsen sind. Zwei Bedingungen stellt das Programm: Die Person muss | |
| ansprechbar sein und die Wohnung selbst bezahlen können – in der Regel aus | |
| Sozialleistungen. | |
| Ein weiterer Grundsatz: Housing First ist nicht Housing Only. „In dem | |
| Augenblick, in dem die Wohnung da ist, beginnen wieder die Probleme, die | |
| schon einmal dazu geführt haben, dass die Person auf der Straße lebte“, | |
| sagt eine Psychologin aus dem Projekt. Ohne Ansprechpartner und Betreuung | |
| geht es also nicht – auch nicht für die Vermieter:innen, sowohl städtische | |
| Wohnungsgesellschaften als auch private Immobilienkonzerne. „Die haben | |
| Angst, dass sie sonst mit einer zugemüllten Wohnung und Mietrückständen | |
| allein dastehen“, sagt ein Mitarbeiter, der ausschließlich dafür da ist, | |
| die Wohnungen für Housing First auf dem angespannten Berliner Mietmarkt | |
| zusammenzusammeln. | |
| Es ist ein Miteinander, das die Macht zwischen Obdachlosen und ihren | |
| Betreuer:innen anders verteilt. „Ich sage gern, die Klientinnen sind | |
| unsere Arbeitgeberinnen“, erklärt die Leiterin des Projekts für Frauen. Die | |
| Sozialarbeiter:innen, Psychologinnen und Sozialbetreuer:innen | |
| unterstützen bei der Suche nach Therapieplätzen, Entschuldung, beraten beim | |
| Putzen und Einkaufen, bei der Wohnungseinrichtung und Vernetzung mit | |
| anderen ehemaligen Obdachlosen. | |
| Aber: Ohne Druck und ohne Sanktionen. Auch das steht auf den blauen Zetteln | |
| im Housing-First-Büro. Es ist nicht allzu erstaunlich, dass es dieses | |
| umgekehrte Machtgefüge vielen einfacher macht, Hilfen anzunehmen und auch | |
| einzufordern. Manche rufen täglich an und kommen wöchentlich im Housing- | |
| First-Büro vorbei. Andere melden sich ein halbes Jahr nicht. Die | |
| Klient:innen bestimmen das Tempo. | |
| „Kann ich die mitnehmen?“ Eine leere Club-Mate-Flasche wandert in die | |
| Tasche eines Flaschensammlers. Carl_a blinzelt müde gegen die tiefe Sonne, | |
| aber von der eigenen Wohnung muss er_sie noch erzählen. | |
| Eine Sozialarbeiterin hatte Carl_a auf die Warteliste von Housing First | |
| setzen lassen. „Eine eigene Wohnung habe ich überhaupt nicht in Betracht | |
| gezogen“, sagt er_sie. Ein Jahr nach dem Einzug ist der Schlaf tiefer | |
| geworden, der Stress des Überlebenskampfs fällt ab und das Gefühl der | |
| Kontrolle kehrt zurück. Unterstützung ist annehmbar – beim Gang ins | |
| ungeliebte Amt zum Beispiel. Und die vielen Interessen, die Musik: All das | |
| findet wieder mehr Raum. | |
| „Ich werde meine eigene Institution“, sagt Carl_a, der_die sich ungern | |
| einordnet, die Freiheit braucht. Nur selbstbestimmt gibt er_sie ein | |
| Stückchen dieser Freiheit auf, um die eigenen Ziele zu erreichen. Gerade | |
| hat Carl_a eine Weiterbildung begonnen. | |
| So wie Carl_a leben nach drei Jahren Modellprojekt noch 75 der insgesamt 82 | |
| Klient:innen in ihren Housing-First-Wohnungen. Die Erfolgsquote von über | |
| 90 Prozent ist auch wissenschaftlich bestätigt. Was bleibt da übrig von dem | |
| Glaubenssatz, man müsse erst wohnfähig sein, bevor man es in einer Wohnung | |
| schaffen kann? Auch die Ängste der Vermieter:innen haben sich bislang | |
| nicht bestätigt. Bis auf verpasste Handwerkertermine habe es kaum Probleme | |
| gegeben, heißt es aus dem Projekt. Auf der Anfrageliste der beiden Berliner | |
| Housing-First-Projekte stehen 900 Menschen. | |
| „Wir müssen einen gesellschaftlichen Konsens haben, dass wir | |
| Obdachlosigkeit nicht mehr nur verwalten, sondern abschaffen“, sagt | |
| Sozialsenatorin Breitenbach. In Berlin ist die Modellphase von Housing | |
| First Ende September ausgelaufen. Nun soll es Stück für Stück ausgeweitet | |
| werden, zum neuen Grundprinzip der Wohnungslosenhilfe. Teurer als bisher | |
| sei das nicht, aber nachhaltiger. | |
| In einem Masterplan zur Überwindung von Wohnungs- und Obdachlosigkeit | |
| erklärte Breitenbach im September auch, wie sie das Problem des knappen | |
| Wohnraums lösen will: Zehn Prozent der Wohnungen, die die landeseigenen | |
| Wohnungsgesellschaften neu vermieten, sollen künftig an Housing First | |
| gehen. Außerdem sollen Notunterkünfte und Wohnungslosenheime mit | |
| staatlicher Förderung in Wohnungen umgebaut werden. Um Wohnungslosigkeit | |
| gar nicht erst entstehen zu lassen, soll mehr Geld und Engagement in die | |
| Vermeidung von Wohnungsverlust fließen. | |
| Für die große Anzahl von obdachlosen Menschen ohne Leistungsanspruch, viele | |
| davon EU-Bürger:innen, müsse der Bund eine Lösung finden, sagt Breitenbach. | |
| „Wir können nicht alle Probleme gleich lösen, aber wir müssen anfangen.“ | |
| Jetzt muss sich zeigen, ob auch die neue Berliner Regierung dafür den | |
| Willen aufbringt. Sind wir uns wirklich einig, dass wir Obdachlosigkeit in | |
| dieser Stadt nicht länger ertragen? | |
| Am Boxhagener Platz schrabbelt Nirvana zum zweiten Mal über die | |
| Gitarrensaiten. Die Sonne schafft es nicht mehr über die Häuser, | |
| Oktoberkälte kriecht in die Kleider. Die Nächte werden jetzt schon bitter: | |
| gerade mal drei Grad über null. Carl_a hat die dicke Jacke angezogen, beim | |
| Abschied zögert er_sie kurz. „Ich muss erst überlegen, wo ich jetzt | |
| hingehe.“ Vielleicht läuft er_sie auf Berlins Straßen noch ein Stück durch | |
| den Abend. Vielleicht geht Carl_a auch einfach in die eigene Wohnung. „Hier | |
| draußen ist ganz schön viel Scheiß, vor dem man sich zu Hause verkriechen | |
| kann.“ | |
| 17 Oct 2021 | |
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