# taz.de -- Obdachlosigkeit in Berlin: Es ist kalt am Stutti | |
> Am Stuttgarter Platz in Berlin-Charlottenburg dringt das Elend in die | |
> bürgerliche Komfortzone der Stadt. Der Politik wird Nichtstun | |
> vorgeworfen. | |
Bild: Nicht unbedingt nur die Wohlfühlzone: Stuttgarter Platz in Charlottenburg | |
BERLIN taz | Unter der Brücke reihen sich die Matratzenstapel, Zelte mit | |
Decken, Schlafsäcke, Einkaufswagen voller Plastiktüten, zerbeulten | |
Pappbecher. Auf ein paar zusammengeschobenen Plüschmöbeln sitzen vier | |
Männer mit Dreitagebärten, sie rauchen, trinken Bier, unterhalten sich laut | |
und machen Gesten der Hilflosigkeit, wenn sie auf Deutsch oder Englisch | |
angesprochen werden. Etwas weiter hat sich eine jüngere Frau auf einer | |
Matratze die Decke bis unter die Nase gezogen. Sie schüttelt den Kopf auf | |
die Frage, ob sie etwas sagen möchte. | |
Am Stuttgarter Platz im Berliner Stadtteil Charlottenburg haben sich unter | |
der Brücke an der Lewishamstraße etwa 30 bis 40 obdachlose Menschen ein | |
großes Lager zum Übernachten gebaut. Die Sonne scheint, der Himmel ist | |
blau, aber es ist bitterkalt an diesem Februarnachmittag. Direkt vor der | |
Brücke stehen zwei Kleinbusse des Drogenhilfevereins Fixpunkt, wie jeden | |
Montag bis Freitag zwischen 14 und 18 Uhr. | |
„Verwahrlosung am Stutti“, teilte kürzlich wieder die Berliner Lokalpresse | |
mit. Aber ist das wirklich wahr? | |
Der Stutti, wie er unter vielen Berliner*innen heißt, ist genau | |
genommen eigentlich gar kein Platz, sondern eine lang gezogene Straße. | |
Hier, am Bahnhof Charlottenburg, gehört er schon seit Jahrzehnten zu den | |
wilderen Ecken der Stadt. Vor wenigen Jahren standen dort am Abend noch | |
Prostituierte auf der Straße, heute gibt es nur noch wenige | |
Etablissements, die von dieser Geschichte erzählen. | |
## Von Nagelstudios und Internetcafés | |
Stattdessen bestimmen nun Billigshops für Handy- und Shisha-Bedarf das | |
Bild, Nagelstudios, Internetcafés und Co. Hier an der Ecke soll die | |
Berliner Currywurst erfunden worden sein, heißt es. [1][Die legendäre | |
Kommune 1] hatte hier zwischendurch mal eine Wohnung, um das andere | |
mögliche Leben auszuprobieren. Und in einer Bierkneipe geht die Legende, | |
dass die Wirt*innen jahrelang keinen Schlüssel für ihren Laden hatten. | |
Ein Anwohner, der sich gerade bei einem Gemüsehändler die schönsten Tomaten | |
aussucht, sagt: „Die tun doch keinem was.“ | |
In einem Hauseingang liegen ein paar Spritzen und ein benutztes Kondom | |
herum. Eine Verkäuferin, die gerade vor ihrem Laden raucht, sagt: „Es gibt | |
Schlimmeres.“ | |
Doch das ist nur die eine Seite des Stuttgarter Platzes. Nur hundert Meter | |
weiter westlich scheint die Gegend nicht mehr so ruppig, sondern plötzlich | |
bürgerlich, mondän, privilegiert. Auf einem Spielplatz sitzen zwei Mütter | |
neben ihren teuren Kinderwägen, schauen ihren Kindern beim Buddeln zu und | |
trinken etwas Heißes aus wiederverwendbaren Kaffeetassen. Das Café Lentz | |
gegenüber, seit Ewigkeiten für illustre Stammgäste wie den Schauspieler | |
Lars Eidinger und Satiriker und Politiker Martin Sonneborn berühmt, hat | |
seit Monaten geschlossen. Auch das Café nebenan hat zu, das macht aber | |
nichts. Erstens werden laut Auskunft der Betreiber*innen beide | |
Gaststätten wieder eröffnen, zweitens gibt es genug Ausweichmöglichkeiten | |
in der schönen Leonhardtstraße mit den breiten Bürgersteigen, die vom | |
Stutti abgeht. | |
Auf dieser Seite des Stuttgarter Platzes gibt es [2][ein kleines | |
Programmkino], das nach Jahren des Leerstands mitten in der Pandemie wieder | |
eröffnet hat. Eine französische Brasserie wirkt wie ein Hologramm aus | |
Paris. In einem japanischen Lokal lässt man sich gerade Zutaten in großen | |
braunen Papiertüten liefern. Bei einem Feinkostladen bestellt eine junge | |
Frau mit neongelber Skimütze 40 Gramm von diesem und 60 Gramm von jenem. | |
Die Menschen, die auf der Leonhardtstraße flanieren, tragen Jacken, die | |
sehr teuer wirken. Und doch: Es fühlt sich auch hier keiner der | |
Angesprochenen gestört von den Obdachlosen hundert Meter weiter. | |
## „Berlin ist eben doch nicht Bullerbü“ | |
„Die sind doch schon lange da“, sagt ein Mann mit einem Baby vor dem Bauch | |
und zuckt mit den Achseln. „Berlin ist eben doch nicht Bullerbü“, sagt eine | |
Frau mit einem eleganten Einkaufstrolley und lächelt. | |
„Ich lebe seit Ewigkeiten hier und habe noch nie eine Pöbelei erlebt“, | |
berichtet auch Joachim Neu, der sich mit einer Bürgerinitiative im Kiez | |
schon einiges erkämpft hat. Vor Jahrzehnten hat er sich mit | |
Nachbar*innen gegen die Abschaffung der Bürgersteige in der | |
Leonhardtstraße zugunsten des Autoverkehrs starkgemacht oder gegen den Bau | |
einer Tankstelle da, wo heute der Spielplatz ist. Seit er in Rente ist, | |
pflegt Neu eine alte Telefonzelle für den Büchertausch am Platz und kümmert | |
sich immer wieder um die temporäre Verwandlung einer Straße in der Gegend | |
in eine Spielstraße. | |
Seit über zehn Jahren geht Joachim Neu in die | |
Bezirksverordnetenversammlungen, berichtet er. Denn wenn ihn die Leute | |
unter der Brücke auch nicht stören, tun sie ihm doch leid. Er findet, sie | |
sollten mehr Angebote erhalten. „Die brauchen einen Drogenkonsumraum“, sagt | |
er. Und wenigstens ein Dixi-Klo oder Gutscheine für die kostenpflichtige | |
öffentliche Toilette am Platz. | |
Der Politik wirft er „anhaltendes Nichtstun und absolute Hilflosigkeit“ | |
vor. Beratungen an zahlreichen runden Tischen hätten nichts an der | |
Situation geändert. | |
Tatsächlich hat die Berliner Politik das Problem am Stutti bereits vor über | |
zehn Jahren erkannt. Ein Drogenkonsumraum für Drogenabhängige ist seit | |
Jahren geplant. Doch die Suche nach Räumen sei immer wieder an | |
„Vorbehalten“ potenzieller Vermieter*innen gescheitert, so der Bezirk. | |
„Wir sind seit 2007 am Stuttgarter Platz“, sagt auch Astrid Leicht vom | |
Verein Fixpunkt. Damals sei die bekannte Drogenszene vom Bahnhof Zoo unter | |
anderem an den Stutti weitergezogen. „Und dass die Drogenkonsumräume an den | |
privaten Vermieter*innen scheitern“, sagt sie, „ist ein Problem, das es | |
nicht nur am Stutti gibt.“ | |
Insgesamt schätzt Fixpunkt die Situation am Stuttgarter Platz im Vergleich | |
zu anderen Orten in Berlin eher als milde ein – die Obdachlosen dort würden | |
von Politik wie Ordnungsamt geduldet, regelmäßig werde der Müll abgeholt, | |
Räumungen stehen nicht zur Diskussion, immer wieder bringen | |
Anwohner*innen alte Möbel und Matratzen vorbei. | |
Trotzdem wäre es gut, wenn hier bald etwas passieren würde, meint Astrid | |
Leicht. | |
Erst vor wenigen Wochen wurde [3][im Berliner Stadtteil Mitte von | |
Obdachlosen ein leerstehendes Haus besetzt.] Der Bezirk hat mit dem | |
Eigentümer eine Zwischennutzung vereinbart. Aber Menschen werden aus vielen | |
Gründen obdachlos. Nicht alle auf der Straße haben die Kraft und den Mut, | |
auf diese vehemente Weise ihre Interessen und Rechte durchzusetzen. | |
Das sehen auch die Grünen im Bezirk so, die für den Stuttgarter Platz | |
mitverantwortlich sind. Darum setzten sie auf Mehrgleisigkeit, sagt | |
Fraktionsvorsitzender Sebastian Weise. Langfristig hofft man auf [4][das | |
Modellprojekt Housing First]. Obdachlose werden unbefristet in einer | |
Wohnung untergebracht und professionell betreut. Doch während es in | |
Finnland, wo Housing First bereits 2008 zum Grundprinzip der | |
Obdachlosenarbeit erklärt wurde, fast keine Obdachlosigkeit mehr gibt, | |
haben in Berlin erst an die 80 Menschen einen Mietvertrag unterzeichnet, | |
das Modellprojekt soll erst jetzt ausgeweitet werden. | |
Mittelfristig, berichtet Weise, gibt es den Plan für ein dreistöckiges | |
Fahrradparkhaus mit integriertem Drogenkonsumraum in Trägerschaft von | |
Fixpunkt. „Wir hoffen, dass das ab 2024 gebaut werden kann“, sagt er. Im | |
Augenblick laufe das Bebauungsplanverfahren. Jetzt, so Weise, muss vom | |
Senat kurzfristig mehr Geld für Fixpunkt fließen, damit mehr Drogenhilfe am | |
Platz angeboten werden kann. | |
Es wird dunkel am Stuttgarter Platz, und mit dem Verschwinden der Sonne | |
wird es noch einmal ein paar Grad kälter. Unter der Brücke an der | |
Lewishamstraße liegen inzwischen ein paar Menschen mehr in ihren Zelten und | |
auf ihren Matratzen als noch am frühen Nachmittag. Doch auch sie möchten | |
lieber keine Stimme in diesem Text erhalten. | |
25 Feb 2022 | |
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## AUTOREN | |
Susanne Messmer | |
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