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# taz.de -- Obdachlosigkeit in der Pandemie: „Die Leute sind kälter geworden…
> Obdachlose haben gerade ihren zweiten Coronawinter hinter sich. Ein Tag
> mit Lila und Alex, die beide in Berlin auf der Straße leben.
Bild: Initiativen schätzen die Zahl der obdachlosen Menschen in Berlin auf 10.…
Berlin taz | Wenn nach monatelangen grauen Himmeln in Berlin die ersten
Frühlingstage anbrechen, erblüht auch das Stadtleben wieder. Ein leises
Aufatmen geht durch Berlin; Cafés und Straßen füllen sich mit Menschen.
Doch während die Temperaturen steigen und Corona immer mehr aus dem Blick
gerät, ist [1][für Obdachlose nur bedingt Besserung in Sicht]. Sie müssen
weiter mit nächtlichen Minustemperaturen und einer Pandemie kämpfen, vor
denen sie sich nicht in den eigenen vier Wänden verstecken können. Viele
von ihnen haben nun einen zweiten Coronawinter hinter sich, einen Winter
mit Ansteckungsgefahr und weniger Hilfsangeboten.
So auch Alex. Der Mann in seinen Vierzigern steht an einem winterlichen
Montag am Berliner Hauptbahnhof und winkt, er trägt schwarze Daunenjacke
und Jogginghose, dazu eine knallrote Strickmütze. In seiner Hand hält er
eine große blaue Ikea-Tasche, sein Zelt lugt an einer Seite heraus. „Ich
habe eine Freundin dabei“, sagt er und deutet auf eine kleine Frau mit
langen braunen Haaren am Rande des Eingangs. Ihre beige Weste über dem
blauen Hoodie ist unübersehbar, dazu ein strahlendes Lachen: „Hi, ich bin
Lila!“ Beim Gehen zieht sie ihr rechtes Bein nach. Wenn sie strauchelt und
man sie fragt: „Geht’s?“, antwortet sie prompt mit: „Muss.“ „Die ka…
laufen, die will nur Mitleid“, sagt Alex. „Mitleid, das brauche ich am
wenigsten!“, entgegnet Lila.
Wie viele der Betroffenen möchten beide anonym bleiben, die Namen in diesem
Text sind deshalb Pseudonyme. Lila ist seit 22 Jahren obdachlos. Ein
schwerer Autounfall in ihrer Heimat in Unterfranken brachte sie aus dem
normalen Leben – zwei Mal sei sie klinisch tot gewesen, lag vier Monate
lang im Koma. Danach versuchte sie, sich anderthalb Jahre im Rollstuhl
zurück ins Leben zu kämpfen. Seit dem Unfall ist ihre rechte Seite
spastisch gelähmt, von oben bis unten. Die Ärzt*innen hätten sie
aufgegeben, sagt sie, ihre Eltern ebenfalls. Für Lila war das keine Option.
Sie wollte einen Neustart außerhalb ihrer Heimat: „Da wirst du blöd
angeschaut. Das ist doch kein Leben. Also bin ich nach Berlin.“
Eine offizielle Statistik zu obdachlosen Menschen in Berlin gibt es nicht.
Bei einer ersten Zählung im Januar 2020 in Berlin verzeichnete man knapp
2.000, Schätzungen von Initiativen gehen von bis zu 10.000 Menschen auf der
Straße aus. Während der Pandemie brachen dazu noch viele Hilfsangebote ein:
Laut einer Befragung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe vom
Oktober 2020 mussten bundesweit ein Drittel der Hilfseinrichtungen ihre
Angebote einschränken. Im gleichen Zeitraum stieg die Zahl an wohnungslosen
Menschen.
## Prinzip Housing First
Die rot-rot-grüne Regierung möchte [2][an der prekären Situation] etwas
ändern. Im Koalitionsvertrag verspricht sie die Umsetzung des Masterplans
„zur Überwindung der Wohnungs- und Obdachlosigkeit bis zum Jahr 2030“. Kern
des Plans bildet [3][das Prinzip Housing First]: Die betreute Vermittlung
von wohnungslosen Menschen in eigene Mietverträge ohne große bürokratische
Hürden. Bedingungen gibt es trotz allem: Bestimmte Suchterkrankungen oder
psychische Leiden gelten als Ausschlusskriterien – dabei sind diese oft
Begleiterscheinungen von Wohnungs- und Obdachlosigkeit. Rund 80 Menschen
fanden seit Projektstart im Jahr 2018 mit Housing First eine feste Bleibe.
Und noch mehr Menschen sollen dadurch von der Straße geholt werden.
Für Alex kommt das nicht in Frage. Er hat eine Wohnung – und lebt seit 25
Jahren draußen, freiwillig. „Was soll ich zu Hause meine vier Wände
anstarren? Das hier ist mein Leben.“ Was in Alexs Leben vorgefallen ist,
spult er knapp ab: Aus Krasnojarsk in Sibirien komme er, dort habe er auf
Diplom Kosmetiker gelernt. Ende der Neunziger nach Deutschland gekommen,
arbeitete als Fußbodenleger, Koch, zuletzt in einer Druckerei. Gerade
wartet er auf seinen nächsten Job. Die Zeit bis dann überbrückt er auf den
Straßen Berlins. „Ich habe Angst, was im Leben zu verpassen.“
## Berliner Senat ohne Daten
Wie die Begegnungen mit Lila. Vor zwölf Stunden hätten sie sich zufällig an
der Turmstraße getroffen; Lila habe ihm einen Joint angeboten. Seitdem sind
sie zu zweit unterwegs. „Wir gehen jetzt zur Lehrter Straße. Dort ist die
Kleiderkammer.“ Alex schaut in den Himmel. Die gleißende Wintersonne fällt
ihm ins Gesicht. Er schultert die Tasche nochmal neu auf. „Heute ist ein
schöner Tag. Aber kalt.“ Wie viele Menschen ohne Obdach diesen Winter
erfroren, durch Gewalt umgekommen oder an anderen Todesursachen gestorben
sind, weiß niemand genau.
Dem Berliner Senat liegen keine Daten vor: „Die Senatssozialverwaltung
erfährt von obdachlosen Kältetoten in der Regel nur durch die
Presseberichterstattung.“ Laut BAGW-Schätzungen waren es im vergangenen
Jahr 23 Menschen, im aktuellen Winter weiß man von drei Kältetoten. Berlin
investierte letztes Jahr über 4,8 Millionen Euro in die Kältehilfe. Zu
besonders kalten Zeiten stockt die Senatssozialverwaltung Plätze in
Notunterkünften auf. „So konnten wir auch diesen Winter unser selbst
gestecktes Ziel erfüllen: Wer ein Bett braucht, bekommt auch eins“, teilte
ein Sprecher des Senats der taz mit.
## In Notunterkünften gehe es rau zu
Für die zigtausenden obdachlosen Menschen standen zum Zeitpunkt der Anfrage
im Schnitt etwa 1.100 Übernachtungsplätze zur Verfügung, etwa ein Zehntel
der Betten blieb frei. [4][In den Notunterkünften] geht es rau zu,
beschreiben viele. Die Stimmung sei oft aggressiv, Sachen würden
untereinander gestohlen. Aber auch seitens der Security der Einrichtungen
berichten viele Hilfesuchende Traumatisches. Viele ziehen es daher vor,
sich dick einzupacken und draußen zu schlafen.
In der Lehrter Straße liegt die Kleiderkammer der Berliner Stadtmission.
Seit der Pandemie steht ein großes weißes Zelt im Innenhof. Von Montag bis
Freitag wird dort verteilt, was die Ankömmlinge suchen – Hygieneartikel,
Jacken, Pullover. Alex raucht vor dem Zelt und betrachtet das Treiben. Die
Mitarbeitenden laden Kästen mit Drogerieartikeln ab, übergeben Tüten an die
Wartenden. „Erst Anmeldung und dann hinten anstellen“, ruft ihm eine
Mitarbeiterin durch die Maske zu. „Ich weiß, ich bin öfters hier, aber im
Zelt darf man nicht rauchen“, ruft Alex zurück.
## „Gleich scheiße“
Was hat sich für ihn seit der Coronapandemie geändert? „Die Menschen sind
kälter zueinander geworden.“ Ob sich seine Situation während der Pandemie
und der Omikron-Welle verschlechtert habe? „Es ist gleich geblieben. Gleich
scheiße.“ Vor dem Virus macht sich keiner von beiden Sorgen. „Corona will
uns nicht“, sagt Lila und grinst. „Wir sind einbalsamiert. Mit Drogen und
schieß mich tot was.“ Geimpft sind beide trotzdem. Lila erhielt ihre
Vakzine vom Impfbus. Im Auftrag des Berliner Gesundheitsamtes fuhren im
vergangenen Herbst vier Busse des DRK durch Berlin, um
[5][niedrigschwellige Impfmöglichkeiten] zu schaffen. Laut Senat verimpfte
man 12.500 Dosen; im Dezember ist das Angebot eingestellt worden.
Man muss aber weder geimpft, genesen oder getestet sein, um den Tagestreff
der Gewebo am Alexanderplatz betreten zu können. Seit Dezember dient das
obere Stockwerk des Hofbräu Wirtshaus werktags als Anlaufstelle für
Obdachlose. Wo sonst Gäste unter blau-weißen Flaggen und eisernen
Kronleuchtern bewirtet werden, können Ankömmlinge tagsüber Schutz vor den
eisigen Temperaturen suchen. Hier gibt es Beratungsangebote und
medizinische Versorgung. Alex wirft einen Blick auf die Essenskarte. „Das
sieht heute nicht schlecht aus.“ Er nimmt ein Tablett mit einem Teller
Bratwurst mit Sauerkraut entgegen und setzt sich zwei Bänke von der
nächsten Person weg. Zwar gilt hier nicht die 3G-Regelung, aber weiterhin
Masken- und Abstandspflicht.
## Eine Ersatzfamilie
Auch hier gibt es eine Kleiderkammer. Lila stopft noch zwei Packungen
Unterwäsche in ihre Ikea-Tüte. Alex und Lila nehmen oft mehr Kleidung mit,
als sie benötigen. „An der Turmstraße ist eine Tischtennisplatte am gelben
Container, da legen wir das dann aus und teilen die Kleidung“, erzählt
Lila. Auf dem Weg zur U-Bahn grüßt Lila stoisch jede Person, die ihr
entgegenkommt: „Hi!“ Manchmal murmelt jemand ein verlegenes „Hallo“ zur…
mal erntet sie einen irritierten Blick, die meisten wenden sich ab.
„Ich brauche eine Pause“, brummt Alex und setzt sich im U-Bahnhof zu zwei
jungen Frauen auf die Bank, die sofort aufstehen und gehen. Alex schüttelt
den Kopf. „Die machen gleich Platz. Die verabscheuen uns. Kriegst dann
gleich auch Glas spendiert und alles.“ Lila will sich ihre Freundlichkeit
trotzdem nicht nehmen lassen. „Menschen sind auch unnett. Sie ignorieren
dich.“ Stört sie das? „Das hat mich mal genervt. Aber ändern lässt sich
sowieso nichts.“ Lieber bleibe man unter denen, die man kennt. Die
Ersatzfamilie.
Deshalb ist Lila immer an der Turmstraße: „Da kennen mich alle.“ Am Rande
der Grünfläche an der Turmstraße ragt ein grell gelber Container aus dem
Gebüsch. Die Tischtennisplatte ist schon üppig beladen: Kannen,
Teepackungen und ein riesiger Topf säumen den Stapel Kleidung. Vier
Sozialarbeiter*innen verteilen Kaffee und servieren Teller mit
warmen Essen. Von allen Angeboten ist es vor allem das Gespräch, das von
den Menschen hier dankend angenommen wird. „Aufmerksamkeit ist das Beste,
was du bekommen kannst für einen kurzen Moment. Anerkennung. Es ist gut,
dass wir nicht vergessen werden.“
17 Mar 2022
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## AUTOREN
Bao-My Nguyen
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