# taz.de -- Wohnungslos trotz Job: Feierabend in der Notunterkunft | |
> Immer mehr Erwerbstätige in den Städten können sich kein eigenes Zuhause | |
> leisten. Gibt es in Deutschland eine neue Form der „Working Poor“? | |
Bild: Christian Schulz | |
Um 7.30 Uhr macht Christian Schulz das erste Mal Feierabend. Zwei Stunden | |
hat er an diesem Montagmorgen im Licht der Neonröhren die Parkgarage eines | |
Einkaufszentrums gesäubert. Mit Laubbläsern hat er Zigarettenstummel, | |
Plastikverpackungen und alles, was die Menschen hier in einer Woche fallen | |
ließen, zu einem Haufen zusammengepustet. Er hat den Dreck in einen Sack | |
gefüllt und in die große Mülltonne geleert. Jetzt parken die ersten Autos | |
auf den grau gemusterten Steinen. Draußen steigt die Sonne über die | |
Plattenbauten, es wird ein schöner Augusttag. | |
„Heute war wenig Schmutz“, sagt Schulz. In der schwarzen Arbeitsjacke der | |
Reinigungsfirma und Turnschuhen steht er vor dem Einkaufszentrum in | |
Berlin-Hohenschönhausen. Ein drahtiger 31-Jähriger mit Dreitagebart und | |
auffallend grünen Augen. Er sieht etwas müde aus. Früher fertig werden ist | |
gut. Und gleichzeitig schlecht. Denn weniger Arbeitszeit bedeutet weniger | |
Geld. Schulz verdient 16,50 Euro die Stunde, für einfache Tätigkeiten wie | |
die auf dem Parkplatz bekommt er 14,45 Euro. Bei zwei Stunden Arbeit lohnt | |
es sich kaum, dafür um vier Uhr morgens aufzustehen. | |
Schulz geht über die Straße zur Haltestelle der Tram. Seine zweite Schicht | |
beginnt erst um 15 Uhr, dann muss er sieben Stunden lang Glasscheiben und | |
Fußböden putzen. Für die Zeit dazwischen fährt er nach Hause. | |
Wobei das mit dem Zuhause so eine Sache ist. Schulz ist seit September 2019 | |
wohnungslos. Übergangsweise lebt er in einer Einraumwohnung der | |
[1][Caritas]. Er arbeitet Vollzeit als Glas- und Gebäudereiniger, er | |
verdient nicht schlecht. Doch eine eigene Bleibe findet er nicht. | |
Trotz Arbeit keine Wohnung – in dieser Situation ist nicht nur Christian | |
Schulz. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe erhebt jedes Jahr | |
Zahlen zu Wohnungslosen in Deutschland. Den aktuellen Bericht hat der | |
Verband [2][an diesem Donnerstag veröffentlicht]. Demnach hat sich der | |
Anteil der erwerbstätigen Wohnungslosen in den vergangenen zehn Jahren | |
nahezu verdoppelt: 2009 hatten 6 Prozent der Wohnungslosen in Deutschland | |
einen Job. 2019 waren es bereits 11,7 Prozent. Eine Entwicklung, die | |
VertreterInnen der Wohnungslosenhilfe aus verschiedenen Regionen | |
Deutschlands im Gespräch bestätigen. | |
Leistung muss sich lohnen, heißt es oft. Was aber, wenn das nicht stimmt, | |
wenn man arbeitet und trotzdem kein gutes, eigenständiges Leben führen | |
kann? Aus den USA kennt man Geschichten von Leuten, die mehrere Jobs haben | |
und im Wohnwagen leben müssen. Gibt es inzwischen auch in Deutschland diese | |
Form der „Working Poor“? | |
In der Nähe des Berliner Hauptbahnhofs frühstückt Leon Kouamé an einem | |
Mittwochmorgen im August. Er sitzt an einem Biertisch und pellt sich zum | |
Brötchen ein Ei. Von der Hektik der Großstadt ist hier, auf der Terrasse | |
der Unterkunft der Stadtmission, nichts zu spüren. Sie geht nach hinten, | |
ins Grüne. Ein bisschen heile Welt im Leben von Menschen, bei denen wenig | |
heil ist. | |
Kouamé ist ein kräftiger Mann in Poloshirt und Jeans. Eine Stunde hat er | |
Zeit für das Gespräch, dann muss er los. Wie Schulz arbeitet auch Kouamé | |
Vollzeit. Er ist Finanzberater bei einer Firma in Potsdam. | |
Kouamé kam mit 18 Jahren von der Elfenbeinküste zum Studium nach | |
Deutschland, heute ist er 45. Er sei immer zurechtgekommen, erzählt er. Bis | |
zum März dieses Jahres: Da verlor er seine Wohnung. Er hatte nur einen | |
Untermietvertrag und war mehrere Monate auf Dienstreise in Westafrika. Er | |
habe regelmäßig seine Miete überwiesen, zuletzt 400 Euro für 35 | |
Quadratmeter in Berlin-Wedding, sagt er. Der Brief, in dem stand, dass das | |
Haus verkauft wurde, erreichte ihn nicht. Als er von der Dienstreise | |
zurückkam, musste er sofort ausziehen, erzählt er. „Ich stand da. Es war | |
kalt. Wo sollte ich so plötzlich wohnen?“ | |
Sein damaliger Chef habe ihm die Wohnung vermittelt, ihm aber nichts von | |
dem Verkauf des Hauses gesagt, erzählt Kouamé. Er war so sauer, dass er den | |
Job kündigte. | |
Kleidung, wichtige Papiere und seinen Laptop behielt er bei sich, für den | |
Rest seiner Sachen mietete er für 150 Euro im Monat einen Lagerraum an. Er | |
schlief zunächst in Hostels und Hotels. Das war teuer. „Ich dachte: Wenn | |
ich so weitermache, habe ich bald gar nichts mehr.“ Über das Internet fand | |
er jemanden, der ein Zimmer zur Untermiete anbot, allerdings ohne Vertrag. | |
„Der hat das Geld kassiert, das Zimmer aber an noch jemanden vermietet“, | |
erzählt er. Kouamé hat drei erwachsene Töchter. Auch zu ihnen wollte er | |
nicht, sagt er, sie hätten ihr eigenes Leben und wohnten nicht in Berlin. | |
„Ohne Wohnung fühlt man sich wie ein Untermensch. Als hätte man seinen Wert | |
verloren“, sagt Kouamé. Es fiel ihm schwer, sich einzugestehen, dass er | |
alleine nicht mehr weiterkommt. Schließlich gab er sich einen Ruck und | |
wandte sich an die Stadtmission. So erzählt er es. Er habe zu sich selbst | |
gesagt: „Ich bin Katholik, ich zahle immer Kirchensteuer. Dann ist es okay, | |
wenn sie auch mal was für mich tun.“ | |
Kouamé schrieb Bewerbungen, er wollte schnell wieder arbeiten. Aber welche | |
Adresse sollte er angeben? Er hatte ja keine. Schließlich richtete er ein | |
Postfach ein. Seit April arbeitet er bei der Firma in Potsdam, die Projekte | |
in Afrika mit Krediten finanziert. | |
Sowohl Christian Schulz als auch Leon Kouamé heißen in Wirklichkeit anders. | |
Sie hätten auf dem Wohnungsmarkt noch schlechtere Chancen, wenn jeder | |
sofort ihre Geschichte googeln könnte. Kouamé will auf keinen Fall | |
erkennbar sein. Schulz muss über die Anonymisierung nachdenken. „Die | |
Wohnungslosigkeit ist nichts, wofür ich mich schämen muss“, sagt er. Er | |
will dazu stehen, wenn nicht mit dem Namen, dann mit Foto. | |
Für den Jahresbericht der BAG Wohnungslosenhilfe stellten 223 Einrichtungen | |
Daten ihrer KlientInnen zur Verfügung. Sie gehören zu freien Trägern, | |
staatliche Anlaufstellen werden nicht erfasst. Genauere Zahlen gibt es | |
bislang nicht. Die Bundesregierung will eine offizielle | |
Wohnungslosenstatistik erheben, startet damit jedoch erst im Januar 2022. | |
An den Zahlen der BAG Wohnungslosenhilfe kann man vieles ablesen. Etwa, | |
dass heute mehr Menschen mit Migrationshintergrund unter den Wohnungslosen | |
sind als früher. Seit 2014 haben EU-BürgerInnen aus Rumänien und Bulgarien | |
das Recht, sich in Deutschland Arbeit zu suchen, das merkt man in den | |
Einrichtungen. Seit 2015 kommen auch Flüchtlinge. Die Zahlen zeigen zudem, | |
dass mehr Frauen und Familien wohnungslos sind. | |
Und eben, dass mehr als jeder zehnte Wohnungslose inzwischen einen Job hat. | |
Im aktuellen Jahresbericht widmet der Verband Menschen wie Schulz und | |
Kouamé ein eigenes Kapitel. Vor allem die Wohnungslosen, die im ersten | |
Arbeitsmarkt beschäftigt sind, seien mehr geworden. Der Bericht zeige „die | |
alarmierende Realität in Deutschland“, sagt Werena Rosenke, die | |
Geschäftsführerin der BAG Wohnungslosenhilfe, der taz. „Nicht einmal mehr | |
eine Erwerbsarbeit im ersten Arbeitsmarkt kann einem Menschen das Recht auf | |
Wohnen garantieren.“ | |
Auch wenn die Zahlen nur einen Teil aller Einrichtungen erfassen, so zeigen | |
sie doch eine Entwicklung auf, die für viele Städte zutrifft. Ein Sprecher | |
des [3][Katholischen Männerfürsorgevereins München] berichtet, dass der | |
Träger bereits seit den fünfziger Jahren eine Unterkunft anbietet für | |
Menschen, die arbeiten, aber keine Wohnung haben. Weil die Nachfrage so | |
gestiegen sei, hätten sie in diesem Frühjahr eine zweite Unterkunft für | |
erwerbstätige Wohnungslose eingerichtet, mit mehr als 80 Apartments. | |
Dariusz Sasin vom Berliner [4][Unionhilfswerk] leitet seit 2008 ein | |
Wohnheim für Wohnungslose in Berlin-Wedding. Er sagt: „Als ich anfing, | |
lebten hier vor allem alleinstehende ältere Männer mit einer Neigung zum | |
Alkohol. Von denen hatte keiner einen regulären Job.“ Nach und nach seien | |
auch Paare und Familien bei ihm untergekommen, EU-AusländerInnen, die so | |
lange hier arbeiteten, dass sie Anspruch auf Sozialleistungen hatten. Heute | |
haben etwa ein Zehntel der rund 100 Menschen im Wohnheim einen Job, schätzt | |
Sasin. „Viele arbeiten im Reinigungsgewerbe oder als Bauarbeiter.“ | |
Sasin erzählt von einer türkischstämmigen Alleinerziehenden, die beim | |
Bäcker jobbt, wenn das Kind in der Schule ist. Von einem Mann mit Minijob | |
in der Altenpflege. Sasin sagt: „Die meisten sind Hilfskräfte. Keiner von | |
denen, die gerade hier wohnen, arbeitet voll.“ Das würde sich auch nicht | |
lohnen: Je mehr sie verdienen, desto mehr müssen sie sich an den | |
Wohnheimkosten beteiligen. | |
Dass es gerade in den Städten zu wenige Wohnungen für Menschen mit geringen | |
Einkünften gibt, ist ein bekanntes Problem. Aber inzwischen finden nicht | |
mal mehr die eine eigene Bleibe, die Vollzeit arbeiten. Mit dem | |
verbreiteten Bild von Obdachlosen, die alkohol- oder drogenabhängig sind | |
und ihr Leben nicht auf die Reihe kriegen, haben sie nichts gemein – außer | |
dass auch ihnen eine Wohnung fehlt. | |
Leon Kouamé, der Finanzberater aus Berlin, hat Ökonomie studiert und | |
Informatik. So erzählt er es. „Wenn man in dem Bereich arbeiten will, kann | |
man arbeiten.“ Er habe das immer auch als seine Pflicht empfunden. „Man | |
muss sich integrieren. Als Gast habe ich das akzeptiert.“ | |
Französisch ist seine Muttersprache, er spricht zudem Deutsch und Englisch. | |
Früher habe er für eine Versicherung in Süddeutschland gearbeitet, erzählt | |
Kouamé. Heute, bei der Firma in Potsdam, verdiene er netto 1.400 Euro. Er | |
arbeite auch samstags, weil er eh nicht wisse, was er am Wochenende ohne | |
Wohnung machen soll. „Sonntags arbeite ich nicht, ich bin Christ.“ | |
Während des Gesprächs auf der Terrasse der Stadtmission rührt Kouamé | |
Brötchen und Ei kaum an, er erzählt die ganze Zeit. „Ich rede gerne. Das | |
werde ich auch die nächsten neun Stunden tun“, sagt er und lacht. „Das ist | |
mein Job.“ | |
Bevor er zum Bahnhof geht, muss er noch mal rauf in sein Zimmer, seinen | |
Rucksack holen. Kouamés großer schwarzer Rollkoffer steht direkt vor seinem | |
Bett. Das Laken ist verrutscht, man sieht den blauen abwaschbaren | |
Gummiüberzug der Matratze. Seinen Laptop, die Klamotten und Papiere lässt | |
er hier, Geld und Pass nimmt er immer mit. | |
Kouamé muss sich das Zimmer mit einem anderen Mann teilen. Kaum zwei Meter | |
trennen sein Bett von dem seines Mitbewohners. Der ist gerade unterwegs. | |
„Ein Junkie“, sagt Kouamé. Wenn er Drogen genommen habe, sei er nicht | |
ansprechbar. Der Mann habe eine offene Wunde am Bein. „Und er riecht wie | |
ein Teufel“, sagt Kouamé. Aber er könne sich schlecht beschweren, | |
schließlich brauche er selbst Hilfe. Er eilt die Treppe hinunter, um nicht | |
zu spät zur Arbeit zu kommen. | |
Christian Schulz muss sich die Wohnung der Caritas mit niemandem teilen. | |
Sie liegt in Berlin-Hohenschönhausen, nur ein paar Tram-Stationen vom | |
Einkaufszentrum entfernt, dessen Parkplatz er am Morgen gereinigt hat. | |
Schulz steigt in den Fahrstuhl, im 7. Stock bewohnt er 29 Quadratmeter, ein | |
Zimmer samt Küche und Bad. Die Caritas hat ihm ein Klappsofa, einen | |
Ikea-Schrank und einen Tisch mit zwei Stühlen zur Verfügung gestellt. Er | |
selbst hat Regale gekauft, einen Fernseher und Zimmerpflanzen. Die Wände | |
sind kahl, bis auf ein knalliges Pop-Art-Bild mit Albert-Einstein-Motiv. | |
Freunde haben es ihm geschenkt. „Das ist bunt, crazy, das passt zu mir“, | |
sagt er. | |
In seiner alten, seiner eigenen Mietwohnung hatte er die Wände rot | |
gestrichen, das darf er hier nicht. Für die Küche konnte er sich eine | |
Tapete aussuchen, immerhin. Es sieht jetzt so aus, als bedeckten dort | |
dunkle Steine die untere Hälfte der Wände. | |
Christian Schulz hat eine Ausbildung zum Glas- und Gebäudereiniger gemacht, | |
später auch das Fachabitur an der Abendschule. Für seine Mutter, wie er | |
sagt. „Ich wollte ihr beweisen, dass ich das kann. Sie ist | |
Elektroingenieurin.“ Er hat auch einen Kletterschein. Als | |
Industriekletterer seilte er sich von außen an Gebäuden ab, etwa am | |
Potsdamer Platz, um die Fenster zu putzen. „Da hat man Ausblicke über | |
Berlin, die bekommt keiner sonst zu Gesicht.“ Schon damals arbeitete er | |
Vollzeit, verdiente gut, um die 2.000 Euro netto, erzählt er. | |
Im Winter konnte Schulz diesen Job allerdings nicht machen, für drei Monate | |
wurde ihm jedes Jahr witterungsbedingt gekündigt. Er sparte nicht, jobbte | |
oder verreiste in der Zeit. Und er häufte Mietschulden an, die er im Sommer | |
wieder beglich. Schulz lebte im Plattenbau einer städtischen | |
Wohnungsbaugesellschaft im Osten Berlins, er zahlte zuletzt 435 Euro für 59 | |
Quadratmeter, sagt er. Die Wohnungsbaugesellschaft drohte schon 2017 mit | |
einer Räumung. Als Schulz der Job dauerhaft gekündigt wurde und er die | |
Mietschulden nicht begleichen konnte, setzte sie die Räumung durch. | |
Er habe damals noch einen Minijob als Fensterputzer gehabt, von dem Geld | |
habe er gerade so leben können, sagt Christian Schulz. Doch dann klappte | |
etwas nicht beim Antrag auf Arbeitslosengeld. „Ich dachte, das Amt zahlt | |
die Miete, das hat es aber nicht gemacht.“ Die Wohnungsbaugesellschaft habe | |
ihm versprochen, sich mit dem Jobcenter in Verbindung zu setzen, aber auch | |
das sei nicht passiert, erzählt er. | |
Am 6. September 2019 musste Schulz seine Wohnung verlassen. Er erinnert | |
sich genau an diesen Tag. „Ich musste die Möbel, Fotos und alles | |
zurücklassen. Ich hatte keinen Ort, wo ich das hätte hinbringen können.“ Er | |
habe Kartons gepackt, die Wohnung gereinigt und sich dabei betrunken. Nur | |
ein paar Klamotten, die Zeugnisse und seinen Gesellenbrief nahm er mit. Und | |
zwei Plattenspieler, Schulz legt in seiner Freizeit als DJ auf. „Ich habe | |
einen Brief geschrieben, dass ich mich irgendwann für die Aktion rächen | |
werde.“ Den ließ er liegen, schloss ab und ging. | |
Man merkt im Gespräch, dass Schulz all das noch heute zu schaffen macht. Er | |
habe seine Mutter um Hilfe gebeten, bei ihr ist er aufgewachsen. Aber die | |
sei der Meinung gewesen, er müsse das alleine regeln. Seitdem hat er keinen | |
Kontakt mehr zu ihr. „Ich finde ihre Haltung falsch. Ich hätte abrutschen | |
können.“ Diese Angst begleitet ihn noch immer. Menschen, die | |
Obdachlosenzeitungen verkauften, schaue er heute anders an als früher, sagt | |
Schulz. „Vielleicht ist denen das Gleiche passiert wie mir.“ | |
Als er im Herbst 2019 auf der Straße stand, nahmen ihn seine Freunde auf. | |
Über ein Jahr schlief er mal hier, mal da auf der Couch. „Man weiß nicht, | |
ob man erwünscht ist oder nicht, man hat keinen Rückzugsort“, sagt er. Ein | |
Paar mit Kind, bei dem er oft übernachtete, hatte seinetwegen Streit, das | |
wollte er nicht. Einen Job hatte er zu der Zeit längst wieder, er reinigte | |
Fensterscheiben am Bundestag. Er suchte nach einem WG-Zimmer oder einer | |
Wohnung, fand aber nichts. Es sei ihm schlecht gegangen, sagt er. „Ich war | |
gebrochen.“ | |
Seine Freunde stellten schließlich den Kontakt zur Caritas her. Im November | |
2020 konnte er die Wohnung im 7. Stock beziehen, 430 Euro zahlt er dafür. | |
Ein Sozialarbeiter hilft ihm, seine Papiere in Ordnung zu bringen. Die | |
Wohnung ist eine Übergangslösung. Von hier aus soll er eine eigene Bleibe | |
finden. | |
Im Februar wurde Schulz wieder gekündigt, seine Firma bekam wegen Corona | |
weniger Aufträge. Im April hatte er etwas Neues. Putzen macht ihm Spaß. Er | |
sagt: „Man sieht beim Reinigen den Unterschied und oft den zufriedenen | |
Kunden.“ | |
Hört man Leon Kouamé und Christian Schulz zu, wird schnell klar, dass die | |
Arbeit nicht ihr Problem ist. Jobs gibt es viele, sie können sie sich | |
aussuchen. Auch verdienen sie nicht schlecht. | |
„Der Arbeitsmarkt hat sich aufgehellt. Das wurde auch durch Corona nicht | |
grundlegend erschüttert“, sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für | |
Wirtschaftsforschung am Telefon. Er forscht zu Einkommens- und | |
Vermögensverteilung. Zwischen 2013 und 2019 [5][stiegen die Bruttolöhne] in | |
Deutschland im Schnitt um etwa zehn Prozent. Davon profitierten auch | |
Menschen mit niedrigen Löhnen. „Die Einführung des Mindestlohns hat die | |
schlimmsten Auswüchse eingedämmt“, sagt Grabka. „Die Lohnungleichheit geht | |
seit Jahren zurück.“ Minijobs seien weggefallen, der Niedriglohnsektor | |
schrumpfe. | |
Demnach müsste es nicht mehr, sondern eher weniger „Working Poor“ in | |
Deutschland geben. Nur: Was hilft es, wenn man leicht Jobs findet und auch | |
die Löhne steigen, man für sein Geld aber keine Wohnung mieten kann? Die | |
gute Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt wird überlagert von den Problemen auf | |
dem Wohnungsmarkt. | |
Wie schwerwiegend die sind, zeigt die [6][kürzlich veröffentlichte Studie] | |
eines Forschungsteams um den Stadtsoziologen Andrej Holm von der Berliner | |
Humboldt-Universität. Eigentlich sollten Haushalte nicht mehr als 30 | |
Prozent ihres Einkommens für die Miete ausgeben müssen. Die | |
WissenschaftlerInnen aber stellten fest: Jeder vierte Haushalt in deutschen | |
Großstädten wendet mindestens 40 Prozent des Einkommens für Wohnkosten auf, | |
12 Prozent der Haushalte geben sogar mehr als die Hälfte für die Miete aus. | |
Als armutsgefährdet gilt in Deutschland, wer weniger als 60 Prozent des | |
mittleren Einkommens zur Verfügung hat. Die Schwelle lag für Einzelpersonen | |
im vergangenen Jahr bei 1.074 Euro. Will man jedoch abbilden, wie es den | |
Menschen wirklich geht, müsste man die steigenden Wohnkosten | |
mitberücksichtigen. | |
Vor allem kleine und günstige Wohnungen fehlen, schreiben die | |
StadtsoziologInnen in ihrer Studie. „Am größten sind die | |
Versorgungsdefizite in den Millionenstädten Berlin, Hamburg, München und | |
Köln.“ Aber auch in kleineren Städten überschreite der Bedarf an | |
bezahlbaren Wohnungen das Angebot deutlich. | |
Wer wie Schulz und Kouamé einmal die Wohnung verloren hat und keine | |
deutlich höhere Miete zahlen kann, kommt schlicht nicht mehr rein in den | |
Wohnungsmarkt. Immer mehr Menschen verzweifelten deshalb, sagt auch | |
Kai-Gerrit Venske. Er ist bei der Caritas Berlin seit vielen Jahren | |
Fachreferent für die Wohnungslosenhilfe. „Die Wohnungsnot und der | |
Wohnraumverlust erreichen zunehmend auch die Mittelschicht.“ Sogar ein Arzt | |
habe sich nach einer Kündigung wegen Eigenbedarfs schon an die Stelle | |
gewandt, weil er kurzfristig keine neue Wohnung fand. | |
Wohnungslosigkeit betrifft deutlich mehr Menschen als die, die am Ende in | |
den Hilfseinrichtungen ankommen. Viele, die ihre Wohnung verlieren, | |
versuchen, sich selbst zu helfen und werden deshalb nirgends erfasst. Sie | |
schlafen bei FreundInnen und Familie. Manche [7][ziehen in Kleingärten] | |
oder, wie man es aus den USA kennt, in einen Wohnwagen. Ein Job schützt | |
nicht länger vor diesem Schicksal. | |
## „Ein großes Gerechtigkeitsproblem“ | |
Eine Wohnung mieten zu können, wird vielerorts zum Luxus. Gleichzeitig | |
werden die, die eine Wohnung besitzen, reich, ohne viel zu tun. Sie müssen | |
nur abwarten. Denn nicht nur die Mieten sind gestiegen, auch die | |
Immobilienpreise haben sich in den letzten 20 Jahren vervielfacht. „Eine | |
Eigentumswohnung in städtischen Regionen kann man sich nur noch mit einer | |
Erbschaft oder Schenkung kaufen. Mit normalen Löhnen geht das so gut wie | |
gar nicht mehr“, sagt Markus Grabka vom Deutschen Institut für | |
Wirtschaftsforschung. Die bittere Botschaft dahinter sei: Du kannst dich | |
als arbeitender Mensch anstrengen wie du willst, du wirst nicht auf einen | |
grünen Zweig kommen. „Da haben wir in der Gesellschaft ein großes | |
Gerechtigkeitsproblem“, sagt Grabka. | |
Leon Kouamé darf bis Ende August in der Unterkunft der Stadtmission | |
bleiben. Dann müsse er raus, andere Wohnungslose benötigten seinen Platz, | |
sagt er. Was danach kommt, weiß er nicht. Er sucht im Internet nach | |
Wohnungen, was für ihn noch schwerer ist als für andere. Einen deutschen | |
Pass hat er nicht, seine Aufenthaltsgenehmigung gilt nur bis nächsten | |
Sommer. Viele wollten an Schwarze nicht vermieten, so seine Erfahrung. | |
Auch Christian Schulz schaut täglich auf Immoscout nach Mietangeboten. Er | |
schätzt, dass er 25 bis 30 E-Mails geschrieben hat. „Ich habe nie auch nur | |
eine Antwort bekommen.“ In Berlin wird ein Teil der Wohnungen von | |
städtischen Gesellschaften für Wohnungslose vorbehalten. Auf dieses | |
sogenannte geschützte Marktsegment hofft er. | |
Man könnte meinen, dass Wohnungslose wütend werden, weil sie kaum eine | |
Chance auf ein Zuhause bekommen. Doch davon spürt man in den Gesprächen | |
nicht viel. Dariusz Sasin vom Wohnungslosenheim in Berlin-Wedding sagt, | |
seine Klienten erlebten das als höhere Gewalt. „Viele haben sich damit | |
abgefunden.“ | |
Christian Schulz sieht in der Erfahrung der Wohnungslosigkeit sogar etwas | |
Gutes. „Ich bin jetzt minimalistischer. Ich weiß, was ich wirklich brauche | |
zum Leben“, sagt er. Sein Traum wäre es, mit einem Tiny House auf Rädern | |
durch Deutschland zu fahren und immer da zu leben und arbeiten, wo es ihm | |
gefällt. | |
Leon Kouamé sagt auf dem Weg zum Bahnhof, beim Überqueren der Straße: „Ich | |
war fast ein Kind, als ich nach Deutschland kam. Gott hat mich beschützt.“ | |
Dadurch habe er alles erreicht. „Mein Glaube gibt mir Zuversicht, dass ich | |
wieder eine Wohnung finde, eine Adresse habe und Mensch sein kann.“ | |
30 Aug 2021 | |
## LINKS | |
[1] https://www.caritas-berlin.de/ | |
[2] https://www.bagw.de/de/neues/news.9260.html | |
[3] https://www.kmfv.de/ | |
[4] https://www.unionhilfswerk.de/angebote/wohnungslosenhilfe.html | |
[5] https://www.diw.de/de/diw_01.c.817486.de/publikationen/wochenberichte/2021_… | |
[6] https://www.boeckler.de/de/pressemitteilungen-2675-33590.htm | |
[7] /Wohnen-in-Schrebergaerten/!5644683 | |
## AUTOREN | |
Antje Lang-Lendorff | |
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