Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- Die Zukunft der Netzbewegung: Was tun! Aber was?
> Snowdenleaks könnte für Internetaktivisten sein, was Tschernobyl für die
> Atomkraftgegner war. Doch das Ziel ist zu abstrakt – und die Feinde auch.
Bild: Sollte einiges anstoßen: der Skandal um Snowden. Nur was genau, das wei�…
Ausgerechnet an dem Tag Anfang Juni, als die Snowden-Enthüllungen
veröffentlich werden, ist Constanze Kurz unterwegs. Erst spät kommt sie
nach Hause, sie klappt den Rechner auf, ein Freund auf Twitter hat ihr ein
Video empfohlen.
Auf dem Bildschirm sieht Deutschlands bekannteste Netzaktivistin einen
jungen Mann, blass, mit Brille, der oft schlucken muss, weil sein Mund so
trocken ist. „Mein Name ist Ed Snowden, ich bin 29 Jahre alt.“ Zwölf
Minuten und vierunddreißig Sekunden lang erklärt dieser unscheinbare Typ,
was ihn zum Whistleblower macht. Warum er nicht länger schweigen will. „Ich
möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die solche Dinge tut“, sagt er.
Überwachung. Weltweit. Und permanent. Solche Dinge.
Das Video wird die größte Überwachungs- und Spionageaffäre ins Rollen
bringen. Constanze Kurz ahnt das. „Doch wie viele, die das Video gesehen
haben, habe ich in erster Linie an die Person gedacht. Die Informationen
waren mir nicht so furchtbar neu, die Größenordnung schon. Ich habe über
die Person nachgedacht. Was der gedacht haben muss. Der sah ja aus wie 25.
Das war schon ein wenig Gänsehaut, weil er das sehr persönlich
rübergebracht hat. Und dann habe ich mir relativ lange die ersten
Reaktionen angeschaut, weil mich interessiert hat, wie das im
deutschsprachigen Raum aufgenommen wird.“
Snowden hat den weltweit größten Datenskandal enthüllt. Der blasse Mann mit
Brille war ein Mitarbeiter des riesigen US-Geheimdienstes National Security
Agency (NSA). Jetzt ist er der, der der Welt von den Überwachungs- und
Spionagepraktiken seines Arbeitgebers erzählt. Weltweit hat die NSA – und,
wie Snowden wenig später enthüllt, auch der britische Geheimdienst – die
Kommunikation übers Internet überwacht und ausgespäht. Das Internet: bis
dahin ein Hort der Freiheit, jetzt eine Hölle der Überwachung. Müsste das
nicht für Netzaktivisten der Auslöser dafür sein, für ihre Sache zu
kämpfen? Für das freie Netz?
## Die größte Chance ihres noch jungen Lebens
An einem klebrig-heißen Tag im August sitzt Linnea Riensberg in einem
Berliner Imbiss, der „Der Imbiss“ heißt, auf der Kastanienallee, dort, wo
schöne Menschen mit ungewöhnlichen Sonnenbrillen rumlaufen. „Eigentlich
müsste man eine extreme Forderung haben“, sagt Linnea Riensberg. Es klingt
nicht sehr entschlossen. Eher wie eine vorsichtige Frage. Der Praktikant,
der neben ihr sitzt, sagt: „Wie kann man das Problem so aufbereiten, dass
ein Diskurs entsteht?“
Wahrscheinlich ist das gerade die wichtigste Frage der deutschen
Netzbewegung im Angesicht der größten Chance ihres noch jungen Lebens.
Seit Edward Snowden im Juni zur Gewissheit gemacht hat, was viele
Aktivisten schon ahnten, die für ein freies Internet kämpfen, seit alle
paar Tage eine neue Enthüllung über Geheimdienstprogramme namens Prism oder
Xkeyscore auftaucht, seit die Frage ist, ob man Totalüberwachung irgendwie
noch weiter steigern kann, müssen Leute wie Linnea Riensberg und ihr
Praktikant irgendetwas aus dieser Situation machen.
Aber wie?
Riensberg ist 29 Jahre alt und die erste festangestellte Mitarbeiterin der
Digitalen Gesellschaft in Berlin, einer Lobbyorganisation für die Freiheit
des Netzes.
Von einem Zimmer voller Bürotische und Demotransparente in einer Wohnung im
Prenzlauer Berg aus steuert sie die Aktionen. Sie organisiert Proteste,
stimmt in Mailinglisten Positionen ab, sie wirbt um neue Fördermitglieder –
allein hundert kamen in den vergangenen Wochen dazu –, sie schickt ihnen
T-Shirts der Digitalen Gesellschaft, schreibt Newsletter, versucht die
Koalition für das freie Netz, für die Grundrechte breiter zu machen,
schreibt an die Kirchen, ob sie nicht auch den öffentlichen Brief gegen
Überwachung unterzeichnen wollen. Der Praktikant hilft. Gerade machen sie
Mittagspause.
## „Ein Thema, über das man plötzlich diskutieren kann“
Die Netzbewegung ist im Augenblick die interessanteste Bewegung dieses
Landes, ihr Thema dominiert seit Monaten die Nachrichten und Leitartikel.
Selbst internetferne Menschen wie Linnea Riensbergs Vater sagen, dass jetzt
eigentlich alle Menschen in diesem Land Anzeige erstatten müssten. „Das ist
ein Thema, über das man plötzlich diskutieren kann“, sagt sie.
Die Enthüllungen Edward Snowdens sind ein historisches Ereignis wie es die
Explosion des Atomkraftwerks in Tschernobyl vor fast dreißig Jahren war.
Tschernobyl hat die Anti-Akw-Bewegung wachsen lassen, bis sie so groß war,
dass eine konservative Kanzlerin – nach einem weiteren historischen
Ereignis namens Fukushima – den Atomausstieg beschloss.
Was passiert mit der Netzbewegung nach Snowdens Enthüllungen?
Man kann das Problem auf mindestens zwei Arten darstellen. Die US-Regierung
und die deutsche Bundesregierung verletzen gerade im großen Stil
Grundrechte. Der Kanzlerin scheint das Recht auf informationelle
Selbstbestimmung, das das Bundesverfassungsgericht einmal festgeschrieben
hat, nicht wichtig genug, um sich ausführlicher damit zu beschäftigen, dass
ihre und andere Geheimdienste es offenbar recht grundlegend ignorieren.
Die andere Darstellung wäre: Jeder muss sich noch mehr Gedanken darüber
machen, wie er seine Daten verwendet, was er im Netz so tut, welche Bilder
er auf Facebook postet, ob er Mails verschlüsselt oder unverschlüsselt
verschickt.
Das eine Problem hieße Grundrechtsverletzung. Das andere Datenschutz –
beides nicht unbedingt Wörter, die besonders viele Menschen dazu bringen
„Yeah!“ zu schreien oder „No!“.
## Wer ist eigentlich verantwortlich?
Wenn man sich auf eines von beiden geeinigt hätte, müsste man immer noch
beschließen, wen genau man jetzt dafür verantwortlich macht, dass es diese
Probleme gibt.
Die Kanzlerin? Obama? Die NSA? Die USA? Die EU?
Das Problem mit diesen Problemen ist, dass sie abstrakt sind und dass sie
mit Politikern zu tun haben, die im Allgemeinen und trotz allem doch immer
noch als irgendwie sympathisch gelten.
Müssten die Digitale Gesellschaft und all ihre Verbündeten jetzt nicht
Angela Merkel zur neuen „Zensursula“ machen – so wie die damalige
Familienministerin Ursula von der Leyen, als sie 2009 Webseiten mit
kinderpornografischen Inhalten sperren lassen wollte? Zu einer Figur, die
nicht nur das Internet gefährdet, sondern die freiheitlich-demokratische
Grundordnung? Zu einer Überwachungskanzlerin, deren Bild man auf jeder
Digitaldemo massenweise im Fernsehen sieht? Damit endlich was passiert.
Irgendwas.
„Auf wen schießen wir?“, fragt Linnea Riensberg: „Ist es Merkel?“
## Lobbyisten für die Freiheit des Internets
Es gibt zwei Felder, die die Digitale Gesellschaft beharkt. Riensberg und
die etwa vierzig Richter, Journalisten, Professoren, Studenten und Nerds,
die die Organisation ausmachen, denken sich Kampagnen aus. Und sie
versuchen, wie klassische Lobbyisten dafür zu sorgen, dass die Freiheit des
Internets gewahrt bleibt, wenn in Brüssel oder Berlin neue Gesetze oder
Verordnungen entwickelt werden.
Zusammen mit anderen hat die Digitale Gesellschaft etwa die Acta-Gesetze
verhindert, mit denen diverse Staaten den Kampf gegen Produktpiraterie und
Urheberrechtsverletzungen aufnehmen wollten. Auch da ging es um die
Freiheit des Internets – und europaweit gingen hunderttausende junge
Menschen auf die Straße, bis das Gesetz im EU-Parlament scheiterte.
Mitglieder der Digitalen Gesellschaft sprechen aber auch mit Beamten im
Bundesinnenministerium, die Deutschland in Brüssel vertreten, wenn es darum
geht, wie die erste europäische Datenschutzgrundverordnung aussieht, die
die deutsche ablösen wird. Riensberg kennt sich mit vielem aus, was in
Brüssel läuft. Sie hat dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin für einen
italienischen Abgeordneten gearbeitet, bevor sie Ende vergangenen Jahres
zur Digitalen Gesellschaft kam.
Sie weiß, dass die Einladungen zu Gesprächen im Innenministerium ausbleiben
könnten, wenn sie Merkel zu aggressiv und pauschal attackiert. Will man das
riskieren?
„Wir wollen als politischer Ansprechpartner anerkannt werden“, sagt
Riensberg.
## Geheimdienste abschaffen?
Die Mitglieder der Digitalen Gesellschaft diskutieren gerade viel in
Mailinglisten. Sie überlegen, welche Positionen sie vertreten sollten.
Geheimdienste abschaffen? Oder nur reformieren?
Sie kennen das Potenzial. Die Youtube-Jugend ging massenweise gegen Acta
auf die Straße, weil sie Angst hatte, dass man ihr [1][kino.to] nehmen will
und die freien Filme im Netz. Wenn jetzt noch die Generation von Linnea
Riensbergs Vater dazu käme, könnte diese Bewegung doch niemand mehr
stoppen. Oder?
Samstag, 27. Juli, der Heinrichplatz in Berlin. Ein paar hundert Menschen
warten, bis die Demo losgeht, da zieht einer schon ein Fazit. Der Mann ist
etwas älter, das Haar weiß, der Vollbart auch. Er sagt zu seinem Nachbarn:
„Wir müssen mal eine richtige Revolution organisieren.“
Parteifahnen sind zu sehen, Piraten, Grüne, Linke. Einer hat sein
„Zensursula“-T-Shirt noch mal rausgeholt. Ein anderer trägt nur eine
Unterhose und eine Guy-Fawkes-Maske. Die Hitze. „Stripped off my civil
rights“ steht mit Filzstift auf seiner Brust.
Klare Botschaften, auch auf vielen Plakaten. „Tod den Datenkraken“,
„Schwitzen gegen Prism“ oder ein schlichtes Porträt von Edward Snowden mit
einem Daumen nach oben: „Like“.
Wer hingegen den Rednern zuhört, muss sich schwer konzentrieren, um
mitzubekommen, um was es überhaupt geht.
Es wird über die „Verbindung von Krieg, sozialer Ausgrenzung und
Überwachung“ gesprochen. Es geht gegen die USA, die Verdächtige ohne
Prozess jahrelang festhalten und gegen die Bundesregierung, die nur das
macht, was die USA will. Gegen böse Interessengruppen, gegen die Medien.
Für Gustl Mollath und die Solidarität mit Lateinamerika. Für den
Kommunismus.
## Keine Parolen, keine Gesänge
Die Überwachung ist nur der Anlass zum Protest, der alle möglichen Leute
zusammenbringt.
Die Demonstranten laufen ruhig durch die Straßen Richtung Brandenburger
Tor. Keine Parolen, keine Gesänge. Nur als sie nach gut zwei Stunden an der
US-Botschaft vorbeikommen, rufen sie: „Fuck you, NSA!“
Linnea Riensberg kommt sich jetzt in manchen Momenten ein wenig paranoid
vor. Wenn sie zu ihrer Mutter über Skype sagt: Da kann ich gerade nicht
drüber reden. Oder vielmehr ist es so: Sie hat Angst, dass andere sie für
paranoid halten könnten.
Sie hatte viel mit dem Internetaktivisten Jacob Appelbaum zu tun, einem der
Menschen, die Kontakt zu Snowden hatten. Er spricht jetzt häufiger, wenn
die Digitale Gesellschaft einlädt. Appelbaum bleibt erst mal in Berlin. Er
hat Angst, zurück in die USA zu gehen.
Riensberg hat sich dann irgendwann gefragt, ob sie jetzt noch einfach so in
die USA reisen könnte. „Du spinnst“, haben Freunde gesagt. Aber sie ist
sich nicht so sicher.
Es haben sich Dinge verschoben, nicht nur für sie.
Aber wie bringt man die Leute dazu, das anzuerkennen und zu reagieren?
## „Stop watching us!“
Samstag, 27. Juli, beim Schwammerl am Bahnhof in Regensburg. Wie in Berlin
heißt das Motto auch hier: „Stop watching us!“ Jonas Bäuml, zwanzig Jahre
alt, trägt kurze Hose, helles Shirt und eine aufgeräumte Brille. Er
studiert Biomedical Engineering und läuft hinter der Fahne der Jusos in
Richtung Innenstadt.
Warum er hier ist? „Ich könnte es meinen Kindern nicht erklären, wenn ich
heute nicht hier wäre“, sagt Bäuml.
Das klingt nach Tschernobyl, nach einem historischen Moment. Das klingt so,
wie sich die Digitale Gesellschaft das wünschen dürfte.
Jonas Bäuml hat auch gegen Acta demonstriert. Von Acta redet heute keiner
mehr. Was bringt diese Demo jetzt?
„Ehrlich gesagt: nichts“, sagt Jonas Bäuml.
Dann läuft er weiter, am Regensburger Dom vorbei.
Nichts.
Ist das der Grund, warum selbst die, die denken, sie müssten doch
eigentlich, es nicht tun? Weil sie das genauso sehen?
## Auf den Demos: Viele oder wenige Leute?
Es ist in den Tagen nach dieser und nach anderen Demos viel darüber
diskutiert worden, ob nun viele oder wenige Leute da waren. 4.000 in
Frankfurt, 2.000 in Berlin, wenige hundert in Regensburg.
Gemessen an den Zielen, die man hier verfolgen könnte? Eines könnte sein:
Verhindern, dass die erste Datenschutzverordnung in Brüssel von
US-Konzernen mutwillig durchlöchert wird, so dass der Name Schutz etwas
Ironisches bekäme. EU-Parlament, -Kommission und Europäischer Rat werden
irgendwann wieder anfangen, darum zu ringen. Ein anderes wäre: Irgendein
substanzielles Wort der Kanzlerin zu alledem. Oder eben: Geheimdienste weg.
AKWs abschaffen. Darauf konnte man sich gut einigen. Dafür lässt es sich
schön kämpfen.
Überwachung stoppen. Was heißt das jetzt genau?
„Der Vergleich mit Tschernobyl funktioniert nicht“, sagt Constanze Kurz.
Seit zehn Jahren ist die Informatikerin eine der Sprecherinnen des Chaos
Computer Clubs (CCC), einer Vereinigung von Hackern. Onlinedurchsuchung,
Vorratsdatenspeicherung, Elena, der elektronische Einkommensnachweis –
immer wenn es im vergangenen Jahrzehnt aufzudröseln galt, welche neue
Gefahr für die Privatsphäre sich hinter abstrakten Wortschöpfungen verbarg,
war Kurz da. „Den Computer-Erklärbär machen“, nennt sie das. Sie versucht
es derzeit wieder, auch in Talkshows von Reinhold Beckmann bis Anne Will.
## Der Datenskandal ist nicht lebensbedrohlich
Kurz ist sicherlich eines der bekanntesten Gesichter, wenn es um
Datenschutz in Deutschland geht. Sie war Gutachterin beim
Verfassungsgericht, Parteien berufen sie in Kommissionen, sie schreibt
regelmäßig in der FAZ. „Snowden ist nicht vergleichbar mit so einer
Bedrohung und so einer Gefahr wie Tschernobyl und Fukushima“, sagt sie. Dem
Datenskandal fehle das unmittelbar Lebensbedrohliche eines Atomunfalls.
Während sie Überwachung und Umweltkatastrophe gegeneinander wägt, sitzt die
Berlinerin in einem Strandkorb. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft
Berlin hat Sand hinter ihrer Mensa aufschütten lassen, in der Abendsonne
funkelt die Spree. Constanze Kurz forscht hier, wie Technik und
Gesellschaft sich miteinander vertragen. Derzeit eher nicht so gut.
Sie denkt noch mal über den Tschernobyl-Vergleich nach. „Wer sich ein wenig
mit Drohnen und Datenpolitik beschäftigt, kann natürlich schon merken, dass
Daten unmittelbar ein Lebensrisiko darstellen können.“ Schließlich würden
in Pakistan und anderen Gebieten Menschen aufgrund von Datenanalysen per
Drohne getötet. „Aber diese Gefahr ist nicht real für viele Leute.“
Pakistan ist nicht Deutschland. Nicht Regensburg. Nicht Berlin.
Aber Kurz sieht ähnliche Mechanismen. Beide Bewegungen hätten zuerst
komplizierte Technik erlernen und erklären müssen. Es gehe um
wirtschaftliche Interessen, Konzerne, die mit Politik und Militär
verflochten seien.
## Es fehlen Bilder, die Gefühle wecken
„Was uns fehlt sind Robben“, sagt sie, „oder im Öl verendende Vögel.“
Bilder, die Gefühle wecken, Betroffenheit. „Daten kann man nicht
fotografieren“, sagt Kurz. Diese Bilderarmut sei ein Problem, dafür habe
man allerdings den Vorteil, dass fast jeder Mensch inzwischen mit Computern
zu tun habe. Und damit automatisch Betroffener ist.
Nur: „Protest muss sich an jemanden richten.“ Doch einen Adressaten, grober
gesagt: einen Feind, sieht Kurz nicht.
Gegen wen sollte man demonstrieren? Obama? Niemand glaube, von hier aus
etwas in den USA ändern zu können. „Merkel ist ein denkbar schlechter
Gegner, die sagt ja nichts dazu. Dieses Nullsprechen ist ja schon ein
Kennzeichen.“ Und Innenminister Hans-Peter Friedrich habe sich dermaßen
blamiert, dass er nicht mehr als politischer Gegner wahrgenommen werde,
sondern als Witzfigur.
Auf der Demonstration in Berlin war sie trotzdem. „Weil ich mir natürlich
wünsche, dass es nicht so lange dauert, bis sich etwas ändert.“
## Es kann Jahre dauern. Vielleicht Jahrzehnte
Und dennoch rechnet Constanze Kurz mit einer längeren Revolte von unten.
Dass immer mehr Leuten bewusst wird, dass Überwachung ihre Bürgerrechte
gefährdet, dass sie selbst etwas tun müssen. Dieser Wandel im Bewusstsein
könne Jahre dauern. Bis so viele Menschen den Schutz ihrer Bürgerrechte
einfordern, dass auch die großen Parteien auf sie hören müssen.
Die Anti-AKW-Bewegung hat Jahre, Jahrzehnte für ihre Erfolge gebraucht.
Die SPD wollte nach den Snowden-Enthüllungen ein paar Ratschläge von Kurz,
was die Partei denn jetzt machen, wie sie sich positionieren könne, auch
auf ihrer Webseite. Keine schlechte Publicity in Zeiten, in denen man
Aufmerksamkeit für ein Thema generieren will. „Aber ich habe gesagt, das
geht nur, wenn ihr es so druckt, wie ich es schreibe.“ Doch nach
Rücksprache mit dem CCC wurde daraus nichts. Die Angst, von Parteien
vereinnahmt zu werden, ist groß im Hackerverein.
Aber liegt die Bundestagswahl da nicht genau richtig? Für die freie Wahl?
„Aber wen sollte man wählen? Eine der beiden großen Parteien wäre immer mit
im Boot. Und die SPD ist in Fragen der Sicherheit nicht weniger
staatstragend als die CDU“, sagt Kurz. Otto Schily hat die SPD davor
gewarnt, Snowden zum Wahlkampfthema zu machen. Der heutige Fraktionschef
Frank-Walter Steinmeier war an zentralen Entscheidungen während der
rot-grünen Regierung beteiligt. Die Grünen haben damals ebenfalls für die
Vorratsdatenspeicherung gestimmt. „Es gibt keine Garantie, dass sie so
etwas nicht wieder tun würden.“
Also ist doch jeder selbst gefordert. Man kann es mit PGP, Tor oder OTR
versuchen. Mechanismen, die Nutzern von Notebooks und Smartphones helfen,
weniger Spuren im Netz zu hinterlassen, die sich auswerten lassen. Mehr als
sechzig Menschen sind an diesem Juliabend ins Erdgeschoss eines Berliner
Hausprojekts gekommen, um zu lernen, wie man sich gegen Überwachung wehren
kann. „In Zeiten, in denen die NSA sowieso die Metadaten abgreift, ist es
umso wichtiger, Inhalte zu verschlüsseln“, sagt Malte Dik, einer der
Organisatoren des Abends.
## Etwas für Nerds oder Paranoide
Noch vor einem halben Jahr sahen solche Treffen ganz anders aus, da kamen
gerade mal ein gutes Dutzend Interessierte. Festplatten verschlüsseln,
PGP-Keys anlegen, sich mit Add-ons für den Browser mehr Privatsphäre
verschaffen? Das war etwas für Nerds oder für Paranoide.
Gruppenarbeit, verkündet Dik. Am Tisch im hinteren Bereich des Raums geht
es um E-Mail-Verschlüsselung, um die Tischtennisplatte herum kümmert man
sich um sicheres Surfen.
Mehr Privatsphäre, die Kontrolle über persönliche Informationen
wiedergewinnen, sich schützen vor staatlichen Zugriffen. Das sagen die
Leute, wenn man fragt, warum sie da sind. Ein ganz kleines bisschen Sand
ins Getriebe streuen.
Zwischendurch, als ein Mückenschwarm durchs Fenster fliegt, witzeln einige:
Drohnenangriff. Und als eine verschlüsselte E-Mail nicht gleich ankommt,
sagt einer: Da beiße sich wohl die NSA gerade die Zähne dran aus.
Ein junger Unidozent verzweifelt trotz Expertenhilfe daran, Enigmail, ein
Programm zum Verschlüsseln von E-Mails, auf seinem Windows-Notebook zum
Laufen zu bekommen. Vielleicht ist sein altes Betriebssystem zerschossen.
Er glaubt trotzdem an das, was sie hier machen: Cryptopartys, die jeder
veranstalten kann, der ein paar Experten zur Hand hat, seien doch der beste
Weg, den technischen Schutz der Privatsphäre nicht nur einer IT-Elite zu
überlassen.
## „Wir haben die Wahl!“
Wieder so ein heißer Augusttag in Berlin, der „Netzpolitische Abend“ der
Digitalen Gesellschaft. Die Internetaktivistin Linnea Riensberg steht neben
dem Grill im Garten des Hackerbunkers c-base und redet mit einem Pärchen
aus San Francisco. Die Spree fließt träge vorbei. Jacob Appelbaum, der neue
Star in der Berliner Netzszene, unterhält sich ein paar Tische weiter im
weiten Hawaiihemd mit ein paar Leuten, aufgeklappte Rechner an Bierbänken.
Appelbaum hat vorher kurz geredet: „Wir haben die Wahl!“ Er klingt wie ein
Prediger. Man kriegt den Eindruck, dass etwas möglich ist, wenn man ihm
zuhört. Man weiß dann nur immer noch nicht so genau, was.
Linnea Riensberg war einige Tage krank. Sommergrippe. Sie bräuchte jetzt
dringend mal Urlaub, sagt sie. In ihrem improvisierten Büro in der Wohnung
im Prenzlauer Berg müssten die neuen Mitglieder erfasst werden. Es läuft
die Aktion für ein Recht auf Remix, also die Veränderung und Nutzung
bereits bestehender Werke. Sie haben tausende Unterschriften gegen
Überwachung gesammelt und überlegen, was sie daraus machen. Sie würden gern
breiter werden, mehr gesellschaftliche Gruppen einbinden. Aber dafür
bräuchte man Leute. „Das ist halt alles noch im Aufbau“, sagt Riensberg.
Jacob Appelbaum kommt vorbei und fragt, ob jemand Moskitospray habe. „No,
sorry“, sagt Riensberg. Ein junger Typ mit kurzen Haaren, grünem Shirt und
brauner Hose stellt sich dazu. Student, Umweltmanagement. Er sei aus
Gießen. Er habe die Schnauze voll, sagt er. Dieser Überwachungsirrsinn. Er
wolle jetzt was machen. Deshalb sei er hier in der c-base.
Was könne man denn machen?
Im September, sagt Linnea Riensberg, würden sie wahrscheinlich umziehen, in
ihr neues Büro. Da könne er helfen und Kisten schleppen. „Mach ich“, sagt
der Student aus Gießen, „voll gern.“ Sie lachen.
6 Sep 2013
## LINKS
[1] http://kino.to
## AUTOREN
Svenja Bergt
Sebastian Erb
Johannes Gernert
Daniel Schulz
## TAGS
Netzbewegung
Schwerpunkt Überwachung
Protest
Edward Snowden
Digitale Medien
Constanze Kurz
Jacob Appelbaum
Youtube
Viral
Acta
Streaming
Hacker
Schwerpunkt Chaos Computer Club
Koalitionsverhandlungen
Vorratsdatenspeicherung
Internet
Schwerpunkt Meta
NSA-Affäre
NSA
Schwerpunkt Angela Merkel
NSA
Schwerpunkt Überwachung
NSA
Internet
Überwachungsgesellschaft
Edward Snowden
Grüne
Julian Assange
NSA
NSA
NSA
## ARTIKEL ZUM THEMA
EU-Kommission zu Geoblocking: Youtube-Videos für alle
Kommissar Andrus Ansip kündigt an, sich für eine Harmonisierung der
Internetwirtschaft in der EU einzusetzen. Seine Pläne sind jedoch noch
vage.
Dozent vs. Blogger: Abgemahnt wegen Internet-Mem
Mitte Januar verbreitete sich ein Foto von einem per Zettel ausgetragenen
Nachbarschaftszoff. Jetzt meldet sich der Urheber und mahnt die Blogger ab.
Freihandelsabkommen mit Kanada: Urheberrecht wird zementiert
Ein Grünen-Gutachten warnt davor, dass Ceta nötige Reformen in Europa
blockiert. Der Kopierschutz für CDs und DVDs würde bleiben.
Streamingportal kinox.to: Brandstiftung, Betrug, Erpressung
Bei Razzien wurden zwei der mutmaßlichen Betreiber von kinox.to
festgenommen. Nutzer werden nicht verfolgt.
Verleihung des „Internet-Schutz-Preises“: Facebook ehrt deutsche Forscher
50.000 Dollar erhalten Forscher der Ruhr-Uni Bochum von Facebook. Sie
entwickeln Methoden, um Sicherheitslücken in Internetanwendungen zu
schließen.
Vorschau auf den 30.CCC Kongress: Error: Vergewaltigung
Julian Assange wird auf dem 30. Chaos Communication Congress live
zugeschaltet. Die NetzfeministInnen gehen auf die Barrikaden.
Debatte um Vorratsdatenspeicherung: Drei Monate für Bouffier denkbar
An diesem Samstag geht es zwischen Union und SPD vor allem um die
Energiewende. Volker Bouffier sucht nach einem Kompromiss für die
Vorratsdatenspeicherung.
Schwarz-rote Pläne zu Datenspeicherung: Die Antwort ist Massenüberwachung
So weit geht die Empörung über die Ausspähung durch den NSA dann doch
nicht. CDU/CSU und SPD halten an der Vorratsdatenspeicherung fest.
Ein nationales Internet: Juhu, nur der BND liest mit!
Die Telekom überlegt, Mails von Kunden in Deutschland nicht mehr über das
Ausland zu schicken. Das Überwachungsproblem löst die Idee nicht.
US-Urteil zu Online-Meinungsäußerung: Daumen hoch für Daumen hoch
Ein US-Bundesgericht meint, die Meinungsfreiheit schütze auch den
„Gefällt-mir“-Button auf Facebook. Die Richter vergleichen diese Funktion
mit einem Schild im Vorgarten.
Proteste gegen Überwachungsstaat: „Ein historischer Angriff“
Juli Zeh und andere deutsche Schriftsteller protestieren mit einem Brief
gegen den Umgang mit der NSA-Affäre. Bei der Übergabe musste die Presse
draußen bleiben.
Debatte Rolle der Geheimdienste: Kirche des Terrors
Nach Vergleichen mit der Stasi muss sich die NSA nun fragen lassen, ob sie
sich für Gott hält. Wenn sie es tut, unterliegt sie einem Missverständnis.
Kommentar zum Wahlkampf: Hilfe, meine Freunde wählen CDU!
Wenn Freunde mit linker Vergangenheit plötzlich rechts wählen – was ist da
schiefgelaufen? Angeblich liegt es am abgedroschenen Dualismus der Linken.
NSA räumt Missbrauch ein: Huch, Technik nicht verstanden
Der US-Geheimdienst NSA hat nach einer Klage Dokumente freigeben müssen,
die Verstöße gegen die Privatsphäre belegen. Die Behörde sagt, die Technik
sei Schuld daran.
Auszeichnung für Whistleblower: Göttingen grüßt Edward Snowden
Edward Snowden droht eine neue Auszeichnung: Er soll Ehrenbürger von
Göttingen werden, fordern zwei Ratsfraktionen. Nur Getöse? Nicht nur.
US-Behörde wertet Telefondaten aus: NSA liest bei Smartphones mit
Kontaktdaten, SMS-Chats, Aufenthaltsorte: Wer ein gängiges Smartphone
nutzt, kann vom US-Geheimdienst NSA ausgespäht werden, berichtet der
„Spiegel“.
„Freiheit statt Angst“-Demo in Berlin: Und Pofalla sagt, wann Schluss ist
Tausende demonstrieren in Berlin gegen Überwachung. Ein Pofalla-Double
erklärt mal wieder alles für beendet. Nur welche Partei wirklich aufklären
will, bleibt offen.
Überwachung vs. Demokratie: Staat im Selbstzerstörungsmodus
Das Immunsystem des demokratischen Rechtsstaates versagt. Die umfassende
Überwachung verhindert eine Kontrolle durch die Gesellschaft.
Kommentar NSA und Verschlüsselung: Den Skandal für neues Netz nutzen
Der US-Geheimdienst NSA durchdringt die meisten Verschlüsselungsprogramme.
Kommt jetzt Schwung ins freie Internet?
Umfragewerte der Grünen: Volkspartei ade?
Die Grünen haben so schlechte Umfragewerte wie seit Jahren nicht mehr.
Schuld daran sei die negative Berichterstattung über die
Pädophilie-Debatte.
Wikileaks-Partei in Australien: Der Chef-Enthüller gibt den Popstar
Mit einem peinlichen Auftritt versucht Julian Assange seiner Partei zu
Popularität zu verhelfen. Für einen Sitz im Oberhaus dürfte das nicht
reichen.
Neue Snowden-Enthüllungen: Verschlüsselung geknackt
Geheimdienste können wohl einen Teil der verschlüsselten Netz-Verbindungen
mitlesen. Auch SSL-Verschlüsselungen soll nicht mehr sicher sein.
Proteste gegen Überwachung: Ärger statt Angst
Snowden, Prism, NSA: Dutzende Initiativen rufen für Samstag zu Protesten
auf – ein Aufbruch der jungen Bürgerrechtsbewegung? Wohl kaum.
Piraten legen Emailadressen offen: Datenschutz? Och nö!
Mit Verve werben die Piraten für die Datenschutz-Demo "Freiheit statt
Angst". Blöd nur: In ihrer Pressemitteilung pfeift die Partei selbst auf
jeden Datenschutz.
NSA-Überwachung: „Wollen wir das wirklich?“
Yvonne Hofstetter entwirft Algorithmen. Für private Konzerne oder
Rüstungsfirmen. Ein Gespräch über die wachsende Macht der Maschinen.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.