# taz.de -- Die Zukunft der Netzbewegung: Was tun! Aber was? | |
> Snowdenleaks könnte für Internetaktivisten sein, was Tschernobyl für die | |
> Atomkraftgegner war. Doch das Ziel ist zu abstrakt – und die Feinde auch. | |
Bild: Sollte einiges anstoßen: der Skandal um Snowden. Nur was genau, das wei�… | |
Ausgerechnet an dem Tag Anfang Juni, als die Snowden-Enthüllungen | |
veröffentlich werden, ist Constanze Kurz unterwegs. Erst spät kommt sie | |
nach Hause, sie klappt den Rechner auf, ein Freund auf Twitter hat ihr ein | |
Video empfohlen. | |
Auf dem Bildschirm sieht Deutschlands bekannteste Netzaktivistin einen | |
jungen Mann, blass, mit Brille, der oft schlucken muss, weil sein Mund so | |
trocken ist. „Mein Name ist Ed Snowden, ich bin 29 Jahre alt.“ Zwölf | |
Minuten und vierunddreißig Sekunden lang erklärt dieser unscheinbare Typ, | |
was ihn zum Whistleblower macht. Warum er nicht länger schweigen will. „Ich | |
möchte nicht in einer Gesellschaft leben, die solche Dinge tut“, sagt er. | |
Überwachung. Weltweit. Und permanent. Solche Dinge. | |
Das Video wird die größte Überwachungs- und Spionageaffäre ins Rollen | |
bringen. Constanze Kurz ahnt das. „Doch wie viele, die das Video gesehen | |
haben, habe ich in erster Linie an die Person gedacht. Die Informationen | |
waren mir nicht so furchtbar neu, die Größenordnung schon. Ich habe über | |
die Person nachgedacht. Was der gedacht haben muss. Der sah ja aus wie 25. | |
Das war schon ein wenig Gänsehaut, weil er das sehr persönlich | |
rübergebracht hat. Und dann habe ich mir relativ lange die ersten | |
Reaktionen angeschaut, weil mich interessiert hat, wie das im | |
deutschsprachigen Raum aufgenommen wird.“ | |
Snowden hat den weltweit größten Datenskandal enthüllt. Der blasse Mann mit | |
Brille war ein Mitarbeiter des riesigen US-Geheimdienstes National Security | |
Agency (NSA). Jetzt ist er der, der der Welt von den Überwachungs- und | |
Spionagepraktiken seines Arbeitgebers erzählt. Weltweit hat die NSA – und, | |
wie Snowden wenig später enthüllt, auch der britische Geheimdienst – die | |
Kommunikation übers Internet überwacht und ausgespäht. Das Internet: bis | |
dahin ein Hort der Freiheit, jetzt eine Hölle der Überwachung. Müsste das | |
nicht für Netzaktivisten der Auslöser dafür sein, für ihre Sache zu | |
kämpfen? Für das freie Netz? | |
## Die größte Chance ihres noch jungen Lebens | |
An einem klebrig-heißen Tag im August sitzt Linnea Riensberg in einem | |
Berliner Imbiss, der „Der Imbiss“ heißt, auf der Kastanienallee, dort, wo | |
schöne Menschen mit ungewöhnlichen Sonnenbrillen rumlaufen. „Eigentlich | |
müsste man eine extreme Forderung haben“, sagt Linnea Riensberg. Es klingt | |
nicht sehr entschlossen. Eher wie eine vorsichtige Frage. Der Praktikant, | |
der neben ihr sitzt, sagt: „Wie kann man das Problem so aufbereiten, dass | |
ein Diskurs entsteht?“ | |
Wahrscheinlich ist das gerade die wichtigste Frage der deutschen | |
Netzbewegung im Angesicht der größten Chance ihres noch jungen Lebens. | |
Seit Edward Snowden im Juni zur Gewissheit gemacht hat, was viele | |
Aktivisten schon ahnten, die für ein freies Internet kämpfen, seit alle | |
paar Tage eine neue Enthüllung über Geheimdienstprogramme namens Prism oder | |
Xkeyscore auftaucht, seit die Frage ist, ob man Totalüberwachung irgendwie | |
noch weiter steigern kann, müssen Leute wie Linnea Riensberg und ihr | |
Praktikant irgendetwas aus dieser Situation machen. | |
Aber wie? | |
Riensberg ist 29 Jahre alt und die erste festangestellte Mitarbeiterin der | |
Digitalen Gesellschaft in Berlin, einer Lobbyorganisation für die Freiheit | |
des Netzes. | |
Von einem Zimmer voller Bürotische und Demotransparente in einer Wohnung im | |
Prenzlauer Berg aus steuert sie die Aktionen. Sie organisiert Proteste, | |
stimmt in Mailinglisten Positionen ab, sie wirbt um neue Fördermitglieder – | |
allein hundert kamen in den vergangenen Wochen dazu –, sie schickt ihnen | |
T-Shirts der Digitalen Gesellschaft, schreibt Newsletter, versucht die | |
Koalition für das freie Netz, für die Grundrechte breiter zu machen, | |
schreibt an die Kirchen, ob sie nicht auch den öffentlichen Brief gegen | |
Überwachung unterzeichnen wollen. Der Praktikant hilft. Gerade machen sie | |
Mittagspause. | |
## „Ein Thema, über das man plötzlich diskutieren kann“ | |
Die Netzbewegung ist im Augenblick die interessanteste Bewegung dieses | |
Landes, ihr Thema dominiert seit Monaten die Nachrichten und Leitartikel. | |
Selbst internetferne Menschen wie Linnea Riensbergs Vater sagen, dass jetzt | |
eigentlich alle Menschen in diesem Land Anzeige erstatten müssten. „Das ist | |
ein Thema, über das man plötzlich diskutieren kann“, sagt sie. | |
Die Enthüllungen Edward Snowdens sind ein historisches Ereignis wie es die | |
Explosion des Atomkraftwerks in Tschernobyl vor fast dreißig Jahren war. | |
Tschernobyl hat die Anti-Akw-Bewegung wachsen lassen, bis sie so groß war, | |
dass eine konservative Kanzlerin – nach einem weiteren historischen | |
Ereignis namens Fukushima – den Atomausstieg beschloss. | |
Was passiert mit der Netzbewegung nach Snowdens Enthüllungen? | |
Man kann das Problem auf mindestens zwei Arten darstellen. Die US-Regierung | |
und die deutsche Bundesregierung verletzen gerade im großen Stil | |
Grundrechte. Der Kanzlerin scheint das Recht auf informationelle | |
Selbstbestimmung, das das Bundesverfassungsgericht einmal festgeschrieben | |
hat, nicht wichtig genug, um sich ausführlicher damit zu beschäftigen, dass | |
ihre und andere Geheimdienste es offenbar recht grundlegend ignorieren. | |
Die andere Darstellung wäre: Jeder muss sich noch mehr Gedanken darüber | |
machen, wie er seine Daten verwendet, was er im Netz so tut, welche Bilder | |
er auf Facebook postet, ob er Mails verschlüsselt oder unverschlüsselt | |
verschickt. | |
Das eine Problem hieße Grundrechtsverletzung. Das andere Datenschutz – | |
beides nicht unbedingt Wörter, die besonders viele Menschen dazu bringen | |
„Yeah!“ zu schreien oder „No!“. | |
## Wer ist eigentlich verantwortlich? | |
Wenn man sich auf eines von beiden geeinigt hätte, müsste man immer noch | |
beschließen, wen genau man jetzt dafür verantwortlich macht, dass es diese | |
Probleme gibt. | |
Die Kanzlerin? Obama? Die NSA? Die USA? Die EU? | |
Das Problem mit diesen Problemen ist, dass sie abstrakt sind und dass sie | |
mit Politikern zu tun haben, die im Allgemeinen und trotz allem doch immer | |
noch als irgendwie sympathisch gelten. | |
Müssten die Digitale Gesellschaft und all ihre Verbündeten jetzt nicht | |
Angela Merkel zur neuen „Zensursula“ machen – so wie die damalige | |
Familienministerin Ursula von der Leyen, als sie 2009 Webseiten mit | |
kinderpornografischen Inhalten sperren lassen wollte? Zu einer Figur, die | |
nicht nur das Internet gefährdet, sondern die freiheitlich-demokratische | |
Grundordnung? Zu einer Überwachungskanzlerin, deren Bild man auf jeder | |
Digitaldemo massenweise im Fernsehen sieht? Damit endlich was passiert. | |
Irgendwas. | |
„Auf wen schießen wir?“, fragt Linnea Riensberg: „Ist es Merkel?“ | |
## Lobbyisten für die Freiheit des Internets | |
Es gibt zwei Felder, die die Digitale Gesellschaft beharkt. Riensberg und | |
die etwa vierzig Richter, Journalisten, Professoren, Studenten und Nerds, | |
die die Organisation ausmachen, denken sich Kampagnen aus. Und sie | |
versuchen, wie klassische Lobbyisten dafür zu sorgen, dass die Freiheit des | |
Internets gewahrt bleibt, wenn in Brüssel oder Berlin neue Gesetze oder | |
Verordnungen entwickelt werden. | |
Zusammen mit anderen hat die Digitale Gesellschaft etwa die Acta-Gesetze | |
verhindert, mit denen diverse Staaten den Kampf gegen Produktpiraterie und | |
Urheberrechtsverletzungen aufnehmen wollten. Auch da ging es um die | |
Freiheit des Internets – und europaweit gingen hunderttausende junge | |
Menschen auf die Straße, bis das Gesetz im EU-Parlament scheiterte. | |
Mitglieder der Digitalen Gesellschaft sprechen aber auch mit Beamten im | |
Bundesinnenministerium, die Deutschland in Brüssel vertreten, wenn es darum | |
geht, wie die erste europäische Datenschutzgrundverordnung aussieht, die | |
die deutsche ablösen wird. Riensberg kennt sich mit vielem aus, was in | |
Brüssel läuft. Sie hat dort als wissenschaftliche Mitarbeiterin für einen | |
italienischen Abgeordneten gearbeitet, bevor sie Ende vergangenen Jahres | |
zur Digitalen Gesellschaft kam. | |
Sie weiß, dass die Einladungen zu Gesprächen im Innenministerium ausbleiben | |
könnten, wenn sie Merkel zu aggressiv und pauschal attackiert. Will man das | |
riskieren? | |
„Wir wollen als politischer Ansprechpartner anerkannt werden“, sagt | |
Riensberg. | |
## Geheimdienste abschaffen? | |
Die Mitglieder der Digitalen Gesellschaft diskutieren gerade viel in | |
Mailinglisten. Sie überlegen, welche Positionen sie vertreten sollten. | |
Geheimdienste abschaffen? Oder nur reformieren? | |
Sie kennen das Potenzial. Die Youtube-Jugend ging massenweise gegen Acta | |
auf die Straße, weil sie Angst hatte, dass man ihr [1][kino.to] nehmen will | |
und die freien Filme im Netz. Wenn jetzt noch die Generation von Linnea | |
Riensbergs Vater dazu käme, könnte diese Bewegung doch niemand mehr | |
stoppen. Oder? | |
Samstag, 27. Juli, der Heinrichplatz in Berlin. Ein paar hundert Menschen | |
warten, bis die Demo losgeht, da zieht einer schon ein Fazit. Der Mann ist | |
etwas älter, das Haar weiß, der Vollbart auch. Er sagt zu seinem Nachbarn: | |
„Wir müssen mal eine richtige Revolution organisieren.“ | |
Parteifahnen sind zu sehen, Piraten, Grüne, Linke. Einer hat sein | |
„Zensursula“-T-Shirt noch mal rausgeholt. Ein anderer trägt nur eine | |
Unterhose und eine Guy-Fawkes-Maske. Die Hitze. „Stripped off my civil | |
rights“ steht mit Filzstift auf seiner Brust. | |
Klare Botschaften, auch auf vielen Plakaten. „Tod den Datenkraken“, | |
„Schwitzen gegen Prism“ oder ein schlichtes Porträt von Edward Snowden mit | |
einem Daumen nach oben: „Like“. | |
Wer hingegen den Rednern zuhört, muss sich schwer konzentrieren, um | |
mitzubekommen, um was es überhaupt geht. | |
Es wird über die „Verbindung von Krieg, sozialer Ausgrenzung und | |
Überwachung“ gesprochen. Es geht gegen die USA, die Verdächtige ohne | |
Prozess jahrelang festhalten und gegen die Bundesregierung, die nur das | |
macht, was die USA will. Gegen böse Interessengruppen, gegen die Medien. | |
Für Gustl Mollath und die Solidarität mit Lateinamerika. Für den | |
Kommunismus. | |
## Keine Parolen, keine Gesänge | |
Die Überwachung ist nur der Anlass zum Protest, der alle möglichen Leute | |
zusammenbringt. | |
Die Demonstranten laufen ruhig durch die Straßen Richtung Brandenburger | |
Tor. Keine Parolen, keine Gesänge. Nur als sie nach gut zwei Stunden an der | |
US-Botschaft vorbeikommen, rufen sie: „Fuck you, NSA!“ | |
Linnea Riensberg kommt sich jetzt in manchen Momenten ein wenig paranoid | |
vor. Wenn sie zu ihrer Mutter über Skype sagt: Da kann ich gerade nicht | |
drüber reden. Oder vielmehr ist es so: Sie hat Angst, dass andere sie für | |
paranoid halten könnten. | |
Sie hatte viel mit dem Internetaktivisten Jacob Appelbaum zu tun, einem der | |
Menschen, die Kontakt zu Snowden hatten. Er spricht jetzt häufiger, wenn | |
die Digitale Gesellschaft einlädt. Appelbaum bleibt erst mal in Berlin. Er | |
hat Angst, zurück in die USA zu gehen. | |
Riensberg hat sich dann irgendwann gefragt, ob sie jetzt noch einfach so in | |
die USA reisen könnte. „Du spinnst“, haben Freunde gesagt. Aber sie ist | |
sich nicht so sicher. | |
Es haben sich Dinge verschoben, nicht nur für sie. | |
Aber wie bringt man die Leute dazu, das anzuerkennen und zu reagieren? | |
## „Stop watching us!“ | |
Samstag, 27. Juli, beim Schwammerl am Bahnhof in Regensburg. Wie in Berlin | |
heißt das Motto auch hier: „Stop watching us!“ Jonas Bäuml, zwanzig Jahre | |
alt, trägt kurze Hose, helles Shirt und eine aufgeräumte Brille. Er | |
studiert Biomedical Engineering und läuft hinter der Fahne der Jusos in | |
Richtung Innenstadt. | |
Warum er hier ist? „Ich könnte es meinen Kindern nicht erklären, wenn ich | |
heute nicht hier wäre“, sagt Bäuml. | |
Das klingt nach Tschernobyl, nach einem historischen Moment. Das klingt so, | |
wie sich die Digitale Gesellschaft das wünschen dürfte. | |
Jonas Bäuml hat auch gegen Acta demonstriert. Von Acta redet heute keiner | |
mehr. Was bringt diese Demo jetzt? | |
„Ehrlich gesagt: nichts“, sagt Jonas Bäuml. | |
Dann läuft er weiter, am Regensburger Dom vorbei. | |
Nichts. | |
Ist das der Grund, warum selbst die, die denken, sie müssten doch | |
eigentlich, es nicht tun? Weil sie das genauso sehen? | |
## Auf den Demos: Viele oder wenige Leute? | |
Es ist in den Tagen nach dieser und nach anderen Demos viel darüber | |
diskutiert worden, ob nun viele oder wenige Leute da waren. 4.000 in | |
Frankfurt, 2.000 in Berlin, wenige hundert in Regensburg. | |
Gemessen an den Zielen, die man hier verfolgen könnte? Eines könnte sein: | |
Verhindern, dass die erste Datenschutzverordnung in Brüssel von | |
US-Konzernen mutwillig durchlöchert wird, so dass der Name Schutz etwas | |
Ironisches bekäme. EU-Parlament, -Kommission und Europäischer Rat werden | |
irgendwann wieder anfangen, darum zu ringen. Ein anderes wäre: Irgendein | |
substanzielles Wort der Kanzlerin zu alledem. Oder eben: Geheimdienste weg. | |
AKWs abschaffen. Darauf konnte man sich gut einigen. Dafür lässt es sich | |
schön kämpfen. | |
Überwachung stoppen. Was heißt das jetzt genau? | |
„Der Vergleich mit Tschernobyl funktioniert nicht“, sagt Constanze Kurz. | |
Seit zehn Jahren ist die Informatikerin eine der Sprecherinnen des Chaos | |
Computer Clubs (CCC), einer Vereinigung von Hackern. Onlinedurchsuchung, | |
Vorratsdatenspeicherung, Elena, der elektronische Einkommensnachweis – | |
immer wenn es im vergangenen Jahrzehnt aufzudröseln galt, welche neue | |
Gefahr für die Privatsphäre sich hinter abstrakten Wortschöpfungen verbarg, | |
war Kurz da. „Den Computer-Erklärbär machen“, nennt sie das. Sie versucht | |
es derzeit wieder, auch in Talkshows von Reinhold Beckmann bis Anne Will. | |
## Der Datenskandal ist nicht lebensbedrohlich | |
Kurz ist sicherlich eines der bekanntesten Gesichter, wenn es um | |
Datenschutz in Deutschland geht. Sie war Gutachterin beim | |
Verfassungsgericht, Parteien berufen sie in Kommissionen, sie schreibt | |
regelmäßig in der FAZ. „Snowden ist nicht vergleichbar mit so einer | |
Bedrohung und so einer Gefahr wie Tschernobyl und Fukushima“, sagt sie. Dem | |
Datenskandal fehle das unmittelbar Lebensbedrohliche eines Atomunfalls. | |
Während sie Überwachung und Umweltkatastrophe gegeneinander wägt, sitzt die | |
Berlinerin in einem Strandkorb. Die Hochschule für Technik und Wirtschaft | |
Berlin hat Sand hinter ihrer Mensa aufschütten lassen, in der Abendsonne | |
funkelt die Spree. Constanze Kurz forscht hier, wie Technik und | |
Gesellschaft sich miteinander vertragen. Derzeit eher nicht so gut. | |
Sie denkt noch mal über den Tschernobyl-Vergleich nach. „Wer sich ein wenig | |
mit Drohnen und Datenpolitik beschäftigt, kann natürlich schon merken, dass | |
Daten unmittelbar ein Lebensrisiko darstellen können.“ Schließlich würden | |
in Pakistan und anderen Gebieten Menschen aufgrund von Datenanalysen per | |
Drohne getötet. „Aber diese Gefahr ist nicht real für viele Leute.“ | |
Pakistan ist nicht Deutschland. Nicht Regensburg. Nicht Berlin. | |
Aber Kurz sieht ähnliche Mechanismen. Beide Bewegungen hätten zuerst | |
komplizierte Technik erlernen und erklären müssen. Es gehe um | |
wirtschaftliche Interessen, Konzerne, die mit Politik und Militär | |
verflochten seien. | |
## Es fehlen Bilder, die Gefühle wecken | |
„Was uns fehlt sind Robben“, sagt sie, „oder im Öl verendende Vögel.“ | |
Bilder, die Gefühle wecken, Betroffenheit. „Daten kann man nicht | |
fotografieren“, sagt Kurz. Diese Bilderarmut sei ein Problem, dafür habe | |
man allerdings den Vorteil, dass fast jeder Mensch inzwischen mit Computern | |
zu tun habe. Und damit automatisch Betroffener ist. | |
Nur: „Protest muss sich an jemanden richten.“ Doch einen Adressaten, grober | |
gesagt: einen Feind, sieht Kurz nicht. | |
Gegen wen sollte man demonstrieren? Obama? Niemand glaube, von hier aus | |
etwas in den USA ändern zu können. „Merkel ist ein denkbar schlechter | |
Gegner, die sagt ja nichts dazu. Dieses Nullsprechen ist ja schon ein | |
Kennzeichen.“ Und Innenminister Hans-Peter Friedrich habe sich dermaßen | |
blamiert, dass er nicht mehr als politischer Gegner wahrgenommen werde, | |
sondern als Witzfigur. | |
Auf der Demonstration in Berlin war sie trotzdem. „Weil ich mir natürlich | |
wünsche, dass es nicht so lange dauert, bis sich etwas ändert.“ | |
## Es kann Jahre dauern. Vielleicht Jahrzehnte | |
Und dennoch rechnet Constanze Kurz mit einer längeren Revolte von unten. | |
Dass immer mehr Leuten bewusst wird, dass Überwachung ihre Bürgerrechte | |
gefährdet, dass sie selbst etwas tun müssen. Dieser Wandel im Bewusstsein | |
könne Jahre dauern. Bis so viele Menschen den Schutz ihrer Bürgerrechte | |
einfordern, dass auch die großen Parteien auf sie hören müssen. | |
Die Anti-AKW-Bewegung hat Jahre, Jahrzehnte für ihre Erfolge gebraucht. | |
Die SPD wollte nach den Snowden-Enthüllungen ein paar Ratschläge von Kurz, | |
was die Partei denn jetzt machen, wie sie sich positionieren könne, auch | |
auf ihrer Webseite. Keine schlechte Publicity in Zeiten, in denen man | |
Aufmerksamkeit für ein Thema generieren will. „Aber ich habe gesagt, das | |
geht nur, wenn ihr es so druckt, wie ich es schreibe.“ Doch nach | |
Rücksprache mit dem CCC wurde daraus nichts. Die Angst, von Parteien | |
vereinnahmt zu werden, ist groß im Hackerverein. | |
Aber liegt die Bundestagswahl da nicht genau richtig? Für die freie Wahl? | |
„Aber wen sollte man wählen? Eine der beiden großen Parteien wäre immer mit | |
im Boot. Und die SPD ist in Fragen der Sicherheit nicht weniger | |
staatstragend als die CDU“, sagt Kurz. Otto Schily hat die SPD davor | |
gewarnt, Snowden zum Wahlkampfthema zu machen. Der heutige Fraktionschef | |
Frank-Walter Steinmeier war an zentralen Entscheidungen während der | |
rot-grünen Regierung beteiligt. Die Grünen haben damals ebenfalls für die | |
Vorratsdatenspeicherung gestimmt. „Es gibt keine Garantie, dass sie so | |
etwas nicht wieder tun würden.“ | |
Also ist doch jeder selbst gefordert. Man kann es mit PGP, Tor oder OTR | |
versuchen. Mechanismen, die Nutzern von Notebooks und Smartphones helfen, | |
weniger Spuren im Netz zu hinterlassen, die sich auswerten lassen. Mehr als | |
sechzig Menschen sind an diesem Juliabend ins Erdgeschoss eines Berliner | |
Hausprojekts gekommen, um zu lernen, wie man sich gegen Überwachung wehren | |
kann. „In Zeiten, in denen die NSA sowieso die Metadaten abgreift, ist es | |
umso wichtiger, Inhalte zu verschlüsseln“, sagt Malte Dik, einer der | |
Organisatoren des Abends. | |
## Etwas für Nerds oder Paranoide | |
Noch vor einem halben Jahr sahen solche Treffen ganz anders aus, da kamen | |
gerade mal ein gutes Dutzend Interessierte. Festplatten verschlüsseln, | |
PGP-Keys anlegen, sich mit Add-ons für den Browser mehr Privatsphäre | |
verschaffen? Das war etwas für Nerds oder für Paranoide. | |
Gruppenarbeit, verkündet Dik. Am Tisch im hinteren Bereich des Raums geht | |
es um E-Mail-Verschlüsselung, um die Tischtennisplatte herum kümmert man | |
sich um sicheres Surfen. | |
Mehr Privatsphäre, die Kontrolle über persönliche Informationen | |
wiedergewinnen, sich schützen vor staatlichen Zugriffen. Das sagen die | |
Leute, wenn man fragt, warum sie da sind. Ein ganz kleines bisschen Sand | |
ins Getriebe streuen. | |
Zwischendurch, als ein Mückenschwarm durchs Fenster fliegt, witzeln einige: | |
Drohnenangriff. Und als eine verschlüsselte E-Mail nicht gleich ankommt, | |
sagt einer: Da beiße sich wohl die NSA gerade die Zähne dran aus. | |
Ein junger Unidozent verzweifelt trotz Expertenhilfe daran, Enigmail, ein | |
Programm zum Verschlüsseln von E-Mails, auf seinem Windows-Notebook zum | |
Laufen zu bekommen. Vielleicht ist sein altes Betriebssystem zerschossen. | |
Er glaubt trotzdem an das, was sie hier machen: Cryptopartys, die jeder | |
veranstalten kann, der ein paar Experten zur Hand hat, seien doch der beste | |
Weg, den technischen Schutz der Privatsphäre nicht nur einer IT-Elite zu | |
überlassen. | |
## „Wir haben die Wahl!“ | |
Wieder so ein heißer Augusttag in Berlin, der „Netzpolitische Abend“ der | |
Digitalen Gesellschaft. Die Internetaktivistin Linnea Riensberg steht neben | |
dem Grill im Garten des Hackerbunkers c-base und redet mit einem Pärchen | |
aus San Francisco. Die Spree fließt träge vorbei. Jacob Appelbaum, der neue | |
Star in der Berliner Netzszene, unterhält sich ein paar Tische weiter im | |
weiten Hawaiihemd mit ein paar Leuten, aufgeklappte Rechner an Bierbänken. | |
Appelbaum hat vorher kurz geredet: „Wir haben die Wahl!“ Er klingt wie ein | |
Prediger. Man kriegt den Eindruck, dass etwas möglich ist, wenn man ihm | |
zuhört. Man weiß dann nur immer noch nicht so genau, was. | |
Linnea Riensberg war einige Tage krank. Sommergrippe. Sie bräuchte jetzt | |
dringend mal Urlaub, sagt sie. In ihrem improvisierten Büro in der Wohnung | |
im Prenzlauer Berg müssten die neuen Mitglieder erfasst werden. Es läuft | |
die Aktion für ein Recht auf Remix, also die Veränderung und Nutzung | |
bereits bestehender Werke. Sie haben tausende Unterschriften gegen | |
Überwachung gesammelt und überlegen, was sie daraus machen. Sie würden gern | |
breiter werden, mehr gesellschaftliche Gruppen einbinden. Aber dafür | |
bräuchte man Leute. „Das ist halt alles noch im Aufbau“, sagt Riensberg. | |
Jacob Appelbaum kommt vorbei und fragt, ob jemand Moskitospray habe. „No, | |
sorry“, sagt Riensberg. Ein junger Typ mit kurzen Haaren, grünem Shirt und | |
brauner Hose stellt sich dazu. Student, Umweltmanagement. Er sei aus | |
Gießen. Er habe die Schnauze voll, sagt er. Dieser Überwachungsirrsinn. Er | |
wolle jetzt was machen. Deshalb sei er hier in der c-base. | |
Was könne man denn machen? | |
Im September, sagt Linnea Riensberg, würden sie wahrscheinlich umziehen, in | |
ihr neues Büro. Da könne er helfen und Kisten schleppen. „Mach ich“, sagt | |
der Student aus Gießen, „voll gern.“ Sie lachen. | |
6 Sep 2013 | |
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