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# taz.de -- Überwachung vs. Demokratie: Staat im Selbstzerstörungsmodus
> Das Immunsystem des demokratischen Rechtsstaates versagt. Die umfassende
> Überwachung verhindert eine Kontrolle durch die Gesellschaft.
Bild: Der überwachte Bürger wird zum wehrlosen Bürger.
Elke kennt ihren Partner Tom sehr gut. Daher weiß sie, dass er morgens
schläfrig ist und die Kleidung anzieht, die auf dem Stuhl obenauf liegt.
Dieses Wissen nutzt sie, um seine Kleiderwahl zu beeinflussen: Sie legt die
Sachen, die sie gerne an ihm sehen will, nach oben auf den Stapel. Sie
nutzt ihr Wissen, um Einfluss auf Tom zu nehmen, der das im Einzelnen nicht
mal unbedingt mitbekommt. Glücklicherweise ist Elke für Tom ein Gegenüber
auf Augenhöhe, mit dem er sich auseinandersetzen kann.
Genau das fehlt beim Überwachungsstaat. Dort ist die Überwachungsinstanz,
in unserem Beispiel „Elke“, nicht sichtbar und nicht greifbar. Trotzdem
erforscht sie Toms Vorlieben, Gewohnheiten, Macken und Berechenbarkeiten
mit sehr viel größerer, nämlich digitaler, Gründlichkeit. Jede kleinste
Regung, jeder Gemütszustand und jede Äußerung werden akribisch
aufgezeichnet und ausgewertet.
Dies tut sie nicht aus Fürsorge, sondern aus Gründen, die Tom nicht bekannt
sind. Tom weiß nichts über diese vage „Elke“ oder wie sie die gesammelten
Informationen einsetzt. Manipulation funktioniert noch viel besser, wenn
Menschen nicht wissen, dass sie manipuliert werden.
Wenn wenige Menschen viel über viele andere Menschen wissen, dann können
sie dieses Wissen nutzen, um das Handeln ganzer Massen zu steuern. Man kann
leicht verdrängen, was durch technischen Fortschritt zunehmend mit uns
passiert. Durch Technik, die uns eigentlich voranbringen sollte. Technik,
die das Potenzial hätte, unsere Kommunikation zu beflügeln und zu befreien.
## Inaktive Abwehrsysteme
Der Widerstand gegen alles, was mit „Terrorbekämpfung“ und mit „Sicherhe…
gerechtfertigt wird, hält sich jedoch in Grenzen. Eine Autoimmunkrankheit
kann lange unentdeckt bleiben. Erst wenn sie ausbricht, wird das Ausmaß
klar.
Jeder Organismus hat ein Abwehrsystem, das Probleme erkennt und beseitigt.
Im demokratischen Organismus sind das Menschen, die man im weitesten Sinne
als „Staatsdiener“ bezeichnet. Also Politiker, Polizistinnen,
Ministerialräte, Richterinnen und Beamte. Sie bilden das Immunsystem des
demokratischen Organismus.
Oder sie sollten es zumindest sein.
Das Immunsystem wird unterstützt vom gesamten Organismus, in unserem Falle
den Menschen, die Störungen im Zusammenleben finden und benennen. Man nennt
das Zivilcourage. Je mehr es davon gibt, desto besser arbeitet unser
Immunsystem.
## Gestörte Kommunikation
Kommunikation wirkt wie Vitamine. Ohne diese Vitamine wird unser
Schutzmechanismus sehr schwach. Wo Probleme nicht benannt werden, werden
sie auch nicht behoben. Und dann funktioniert Demokratie nicht einmal mehr
in der Theorie.
Wir brauchen Menschen, die öffentliche Prozesse kritisch hinterfragen.
Damit wehren sie Keime ab und tragen zur Selbstheilung unseres Organismus
bei, sie achten darauf, dass Angreifer auf den demokratischen Organismus
erkannt und unschädlich gemacht werden. Sie müssen frei und ohne Angst
sprechen können. Ohne freie, offene und unkontrollierte Kommunikation wird
das Benennen von Problemen nämlich schwierig. Bei Snowden und anderen
Whistleblowern kann man sehen, wie gefährlich heute Zivilcourage sein kann.
Ist die Kommunikation gestört, können einerseits Missstände nicht mehr
benannt werden, andererseits ist es nicht mehr möglich zu beurteilen,
welche Informationen „objektiv“ sind und welche uns gezielt steuern sollen.
Wir sehen das am Beispiel Syrien: Gab es einen Giftgasangriff? War es das
Regime, die Regierung, die Rebellen, die CIA oder eine noch völlig
unbekannte Entität, die Verwirrung stiften und aufstacheln möchte und eine
ganz eigene Agenda hat?
Wie sollen wir ohne eine Antwort auf diese Fragen entscheiden können,
welches Handeln angemessen ist? Nicht ohne Grund haben wir Meinungs- und
Pressefreiheit als Grundwerte der Demokratie erkannt und unter besonderen
Schutz gestellt.
## Die Demokratie leidet
Diese Freiheiten sollen den Organismus vor dem Immunsystem schützen. Wenn
das nicht funktioniert, und das Immunsystem selbst den Organismus angreift,
bezeichnet man das als Autoimmunerkrankung. Unsere Demokratie leidet daran.
Nicht erst seit dem 11. September 2001 können wir eine zunehmende
Überfunktion des Immunsystems beobachten. Menschen, die eigentlich Teil des
Organismus sind, werden als „Feinde“ markiert und beseitigt. Das
Immunsystem will den Organismus schützen, aber es zerstört ihn dabei.
Überwachung hat dabei zwei unterschiedliche Folgen. Zum einen werden wir –
wie oben dargestellt – unseres Urteilsvermögens beraubt. Zum anderen geben
wir mehr und mehr die Hoffnung auf, überhaupt noch Einfluss zu haben. Denn
unterbewusst merken wir deutlich, dass wir gesteuert werden. Beides ist
höchst giftig für einen Organismus, der auf der Herrschaft des Volkes
basieren möchte.
Man kann das demokratische System als Ganzes kritisieren und kommt dann in
die Verlegenheit, sich etwas Neues einfallen lassen zu müssen. Doch wer
Demokratie propagiert und durch sie sogar Macht erlangt, sollte sich hüten,
ihr gleichzeitig ihren wichtigsten Abwehrmechanismus zu rauben: freie,
unkontrollierte und unbeobachtete Kommunikation, auch die digital
vernetzte. In einem Überwachungsstaat ist keine Demokratie mehr möglich.
Wir können diese Krankheit noch besiegen. Wenn wir nicht darauf warten,
dass ihre Symptome sichtbar werden.
7 Sep 2013
## AUTOREN
Leena Simon
## TAGS
Überwachungsgesellschaft
Demokratie
Schwerpunkt Überwachung
Internet
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