# taz.de -- Sachbuch zu Spaltung in den USA: It’s the Gemeinwohl, stupid! | |
> Der US-Philosoph Michael Sandel skizziert, warum der Rechtspopulismus in | |
> den USA so erfolgreich werden konnte – und zeigt, wie es anders gehen | |
> könnte. | |
Bild: Die Würde wiederherstellen: Ein Arbeiter im Kapitol am Tag nach dem 6. J… | |
Der Schriftsteller [1][Richard Ford], ein Seismograf verunsicherter | |
US-Mittelschichtsmännlichkeit, malte nach dem [2][Sturm auf das Kapitol] | |
ein finsteres Bild der USA. Dort regiere „ein wahnsinniger Präsident“ ein | |
Land, das zur Hälfte glaube, „im Keller einer Pizzeria in Washington würden | |
Babys gegessen“. | |
Die USA versinken in Irrationalität und Paranoia. [3][Joe Bidens nationale | |
Versöhnungsrhetorik] wird an dieser Mixtur abprallen. Die Rassisten und | |
Verschwörungsgläubigen, die wohl die Hälfte der WählerInnen der | |
Republikaner ausmachen, sind für Diskursangebote nicht empfänglich. Kann | |
Biden die Politik der Feindschaft, die die USA zerreißt, beenden? Welche | |
Politik kann den Sumpf des Rechtspopulismus austrocknen? | |
Es gibt zwei gängige Erklärungsmuster, warum der Rechtspopulismus in den | |
westlichen Demokratien einen solchen Resonanzraum hat: ein kulturelles und | |
eine ökonomisches. In der kulturellen Lesart erscheinen Salvini und Trump | |
als hysterische Reaktion weißer Männer auf eine Welt, in der | |
Gleichberechtigungsansprüche deren Privilegien bedrohen. Die Kerntruppen | |
des Rechtspopulismus sind männlich. 58 Prozent der weißen Männer votierten | |
2020 für Trump. | |
Es spricht viel dafür, den Rechtspopulismus als aggressiv nostalgische | |
Antwort auf Feminismus, Diversitätskultur und Political Correctness zu | |
verstehen. Allerdings erklärt das nicht, warum 2020, verglichen mit 2016, | |
mehr Latinos und weiße Unterschichtsfrauen Trump gewählt haben. | |
## Moralische Selbsterhöhung | |
Die kulturelle Lesart verführt zudem zu einer Art achselzuckender | |
Selbstgefälligkeit. Die Linksliberalen verkörpern in diesem Bild | |
Fortschritt und Aufklärung, die Rechtspopulisten eine moralisch | |
minderwertige Verteidigung patriarchaler Privilegien. | |
Diese moralische Selbsterhöhung ist aber eher Teil des Problems als dessen | |
Lösung. Zudem fragt man sich: Was folgt daraus? Die Emanzipation der Frauen | |
oder sexueller Minderheiten zurückzudrehen, ist keine erwägenswerte | |
Möglichkeit. So bleibt uns in diesem Deutungsmuster nicht viel mehr als | |
Händeringen im festen Bewusstsein, zu den Guten zu gehören. | |
Man kann den Rechtspopulismus auch als verzerrtes Echo wachsender | |
Ungerechtigkeit deuten. Die Kluft zwischen Reich und Arm wächst in den | |
OECD-Staaten beständig. Die Ex-Arbeiterparteien – von Labour über die | |
französischen Sozialisten bis zu den US-Demokraten – haben sich den | |
(neo)liberalen Eliten zugewandt und ihre alte Kernklientel vergessen. In | |
Österreich und Frankreich sind die Rechtspopulisten zeitweise zu den neuen | |
Arbeiterparteien geworden. | |
Ein erfreulicher Aspekt dieses Gerechtigkeitsnarrativs ist, dass es, | |
anders als die kulturelle Lesart, praktische Folgerungen nahelegt. Die | |
Linke muss sich wieder auf ihre Kernkompetenz – sozialen Ausgleich – | |
besinnen. Allerdings ist es ein Kinderglaube, dass die rechtspopulistischen | |
Gespenster verschwänden, wenn Linke nur entschlossen auf deftige | |
Umverteilung und Anti-Eliten-Sprüche setzten, wie das bei Sahra | |
Wagenknecht oder [4][Jean-Luc Mélenchon] aufscheint. | |
## Affekte und Irrationalität | |
Die Anhänger der Rechtspopulisten sind eben keine | |
Rational-choice-WählerInnen, die sich von ihren materiellen Interessen | |
leiten ließen. Der Trumpismus speist sich aus Affekten und Irrationalem. | |
Zudem war der Erfolg von Trump und Co nicht nur Ausdruck einer Revolte der | |
Abgehängten. Bei den US-Wahlen 2020 wählten Ärmere, die weniger als 50.000 | |
Dollar im Jahr verdienen, eher Biden (55 Prozent) als Trump (44 Prozent). | |
Kurzum, beide Deutungen erklären einiges, haben aber unübersehbare Lücken. | |
Der US-Moralphilosoph [5][Michael Sandel] fügt der mit viel Leidenschaft | |
und überschaubarem Erkenntnisgewinn ausgetragenen Debatte zwischen den | |
beiden Deutungsmustern eine andere hinzu. Die deprimierende Attraktivität | |
des Rechtspopulismus sei nur zu verstehen, wenn man das | |
(Verteilungs)gerechtigkeitsnarrativ um zwei Aspekte erweitere: Bildung und | |
Würde. | |
Sandel skizziert eine Art Zangenbewegung, die der Hintergrund für Trumps | |
Politik der Ressentiments war und ist. In den USA ist der Glaube | |
ungebrochen, es mit Bildung alleine nach oben schaffen zu können. Obama | |
verwandte in seinen Reden 140-mal den Satz: „You can make it if you try.“ | |
In Wirklichkeit aber hat sich in den USA eine Bildungsaristokratie | |
etabliert, die sich für den Nachwuchs die Zugänge nach Harvard und Yale | |
buchstäblich kauft. Bildung ist das Nadelöhr für Erfolg – und Privileg der | |
Reichen. Im unteren Fünftel der Gesellschaft kann man eher auf einen | |
Lottogewinn als auf ein Ivy- League-Studium hoffen. | |
## Marktfömige Diversitygerechtigkeit | |
Vor allem Liberale wie Hillary Clinton haben einer marktförmigen | |
[6][Diversitygerechtigkeit] das Wort geredet: Alle, egal welcher Hautfarbe, | |
Klassenzugehörigkeit, Religion oder sexueller Vorliebe, könnten aufsteigen. | |
In dieser Vision bekämen alle, was sie verdienen: Leistung und | |
Gerechtigkeit fallen in eins. | |
Für die alten Mittelklassen in der Provinz, die nie eine Universität von | |
innen gesehen haben, klingt das eher wie Hohn. Denn in dieser scheinbar | |
chancengerechten Leistungsutopie sind sie randständig. Im digitalen | |
globalisierten Kapitalismus geht es für sie bergab – nicht nur monetär, | |
sondern auch kulturell. | |
Selbst wenn die US-Gesellschaft sozial durchlässig und nicht abgeriegelt | |
wäre, hat die Idee, dass jeder und jede vollständig alleine schuld an | |
seinem Erfolg oder Misserfolg sei, etwas Beklemmendes. Es demütigt (so | |
Sandel auf den Spuren von Michael Youngs Meritokratiekritik) jene, die | |
unten sind, zusätzlich. Trump hat im Wahlkampf 2016 gesagt: „Ich liebe die | |
Ungebildeten.“ Damit traf er instinktiv die verletzliche, widersprüchliche | |
Stelle in der Erzählung der Demokraten. | |
Die Ungleichheit zwischen Superreichen und Durchschnittsbürgern, deren | |
Reallöhne in den letzten 30 Jahren gesunken sind, ist obszön. Das ist mehr | |
als Statistik. Laut einer Umfrage der US-Notenbank ist fast die Hälfte der | |
US-BürgerInnen nicht in der Lage, in einem Notfall 400 Dollar aufzubringen. | |
## Wachsende Verzweiflung | |
Sandel weist auf eine andere frappierende Entwicklung hin, die eine | |
wachsende Verzweiflung in der Mitte der Gesellschaft anzeigt: Die | |
Lebenserwartung, die in den USA jahrzehntelang stieg, sinkt seit drei | |
Jahren – besonders krass die der Männer in der Provinz. | |
Um dem Rechtspopulismus das Wasser abzugraben, ist ein neuer, fairer Deal | |
zwischen den Gewinnern der globalisierungsaffinen urbanen Eliten und den | |
Verlierern in den flyover states nötig. Dazu gehört, Macht und Einkommen | |
der Wall Street mit Steuern zu beschränken und das Bewusstsein dafür zu | |
schärfen, dass die Arbeit von Nichtakademikern mehr Wert ist als der | |
Mindestlohn. | |
Die verlorene Würde der Arbeit wiederherzustellen, die der Ethik der | |
Effektivität geopfert wurde, erscheint hier als Ausgangspunkt eines | |
„alternativen politischen Projektes“. Sandel setzt so Bill Clintons | |
globalisierungseuphorischem Wahlslogan aus den 90ern: „It’s the economy, | |
stupid!“, das Lob des Gemeinwohls entgegen. | |
## Überzeugter Kommunitarist | |
Politisch ist Sandel ein Middle-of-the-road-Demokrat, philosophisch ist er | |
ein überzeugter Kommunitarist. Er trat mit einer Kritik an John Rawls in | |
Erscheinung, dessen „Theorie der Gerechtigkeit“ den Liberalismus als | |
politische Theorie auf die Höhe der Zeit gebracht hatte. Der | |
Kommunitarismus steht der Fokussierung auf die Freiheit des Individuum im | |
Liberalismus ebenso fern wie dem Fortschrittsglauben der europäischen | |
Linken. | |
Er ist eine praktisch orientierte, antiutopische Denkrichtung, die das | |
Regelwerk der bestehenden Gemeinschaft in den Mittelpunkt rückt. Der | |
Grundimpuls ist eher konservativ. Umso bemerkenswerter ist, dass Sandel in | |
vielem zu ähnlichen Schlüssen kommt wie Linke. Er schaut skeptisch auf die | |
Verheißungen der Globalisierung, misstraut der gefräßigen Logik des Marktes | |
und singt das Loblied der Chancengerechtigkeit, die die Gleichheit | |
verdrängt hat, nicht mit. | |
Biden will nun eine Art New Deal light. Er hat angekündigt das | |
Arbeitslosengeld und den Mindestlohn zu erhöhen, in die marode öffentliche | |
Infrastruktur zu investieren, das Gesundheitssystem zu stabilisieren und | |
klimaverträgliche Jobs zu schaffen. Biden, ein Bildungsaufsteiger, ist der | |
Wall Street längst nicht so nah wie die Clintons. Die nötige Konfrontation | |
wird er aber kaum riskieren. | |
Sandel hat eine brauchbare politische Kartografie entworfen, die die | |
Bedingungen nachzeichnet, die Trump möglich machten. Man wird sehen, ob die | |
Biden-Demokraten in der Lage sind, nötige Schlussfolgerungen zu ziehen: das | |
Bündnis mit der Wallstreet aufzukündigen sowie den grenzenlosen | |
Individualismus und die Marktgläubigkeit hinter sich zu lassen. | |
17 Jan 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Erzaehlung-Irische-Passagiere-von-Richard-Ford/!5737267 | |
[2] /Die-USA-nach-dem-Sturm-aufs-Kapitol/!5742615 | |
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[5] /Studie-ueber-Geld-und-Gewissen/!5077090 | |
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## AUTOREN | |
Stefan Reinecke | |
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