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# taz.de -- Buch über Autonomie und Allmende: Freiheit für ein neues Wir
> Autonomie ist kein Wert an sich, behauptet der Philosoph Jan Skudlarek.
> Er fordert eine Vermittlung zwischen Ich und Gesellschaft.
Bild: Autor Jan Skudlarek
Was lehrt ein Supermarktbesuch über Freiheit? Etwas ganz Profundes, ist der
Berliner Philosoph Jan Skudlarek überzeugt. Dabei denkt er nicht an die
freie Entscheidung zwischen Fairtrade-Kaffee und Industriekoffein. Auch die
zweifelhafte Freiheit der Kassiererin bei der Wahl ihres Jobs ist nicht
sein Thema. Nein, Skudlarek nimmt etwas anderes in den Blick: Die Kette am
Einkaufswagen, das „dünne zivilisatorische Band“, das uns Menschen
miteinander verbinde.
Diese Metapher bildet das Herzstück seines neuen Buches „Wenn jeder an sich
denkt, ist nicht an alle gedacht“, eine „Streitschrift für ein neues Wir�…
Um zu verstehen, worauf der Autor mit der Einkaufswagenkette hinauswill,
sei zunächst geklärt, wogegen Skudlarek sich mit seiner Schrift für ein
„neues Wir“ eigentlich wendet. Was stimmt nicht mit dem alten Wir?
In unseren Debatten – sei es über Klimakleber, Duschtemperaturen oder
Tempolimits – drohe sich eine Begriffsverengung der Freiheit zu
zementieren: Sie würde der Autonomie des Einzelnen gleichgesetzt, der
unbehelligt von gesellschaftlicher Verantwortung einer selbstzentrierten
Nutzenmaximierung fröne.
„Autonomistisch“ nennt Skudlarek diese Attitüde, die er etwa in FDP-Senior
Wolfgang Kubicki verkörpert sieht. Dessen Abwehrhaltung gegen
Corona-Maßnahmen und Steuererhöhung sei symptomatisch für den
„Porschefahrer-Liberalismus“ unserer Tage – dem verkümmerten Rest eines
„einstig stolzen Liberalismus“, der sich edelmütig gegen den Absolutismus
wandte.
## Der „angepinselte“ Egoismus
Über die Schattenseiten des „stolzen“ Liberalismus von einst ließe sich
mehr sagen, aber mit Blick auf die Gegenwart hält Skudlarek treffend fest,
dass politisch skandierte Freiheit oftmals nur ein „angepinselter“ Egoismus
ist. Doch worin besteht die wahre Freiheit, die ein „neues Wir“ ermöglicht?
Zurück zum Einkaufswagen: Die Kette, die unsere Shoppingvehikel verbindet,
symbolisiert die Einschränkung individueller Entscheidungsgewalt.
Anstatt den Wagen irgendwo zwischen den Regalen zu parken, sind wir
angehalten, sie in Reih und Glied neben dem Eingang abzustellen. Die Kette
versinnbildlicht zugleich den Nutzen reduzierter Autonomie: Die Wagen
stehen auffindbar für jeden, geordnet statt verstreut nach jedermanns
Gusto. Die Moral: Wer Autonomie für einen Wert an sich halte, unterliege
einer „autonomistischen Illusion“.
Skudlarek plädiert für ein „Allmende-Mindset“: So wie sich im Mittelalter
Bewohner eines Ortes Wiesen und Bäche teilten, sollten wir Trinkwasser,
Ackerflächen, die Erde als Ganzes begreifen. Verbunden ist damit ein
Freiheitsverständnis, das die Bedürfnisse der Gemeinschaft mit einbezieht.
Freiheit zur Teilhabe statt Freiheit von äußeren Abhängigkeiten. Das sei
ein Freiheitsbegriff, der die soziale Verwurzelung des menschlichen Wesens
hinzuziehe, eine Freiheit jenseits individueller Anspruchshaltung.
## Blinde Flecken in den Debatten
In klarer Sprache verweist Skudlarek auf blinde Flecken in unseren Debatten
um Freiheit und Selbstbestimmung. Hier und da sprenkelt er in Prechtscher
Manier Hans Jonas, Sören Kierkegaard und Sartre („Die Hölle, das sind die
Inlandsflüge der anderen“) ein, was einem als Einladung zu tieferen
Überlegungen an die Hand gereicht wird.
Denn was auch stimmt: Im Vergleich zu verwandten Büchern, wie [1][Eva von
Redeckers „Bleibefreiheit“ (Fischer 2023)], ist „Wenn jeder an sich denkt…
nicht die intellektuell originellste Schrift zum Thema. Das macht aber auch
nichts. Denn die neo-liberalen Feindbilder, gegen die er mit dieser Schrift
anstreitet, gilt es in der geistigen Liga zu schlagen, in der sie
angetreten sind.
12 Sep 2023
## LINKS
[1] /Buch-ueber-umkaempften-Freiheitsbegriff/!5946706
## AUTOREN
Timm Lewerenz
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