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# taz.de -- US-Linker über Sturm aufs Kapitol: „Seit Frühling vor einem Put…
> Gegen die Gewalt von Faschisten am Kapitol hätten Gewerkschaften und
> Linke mobilisieren müssen, findet der US-Bürgerrechtler Bill Fletcher.
Bild: Die Linken in den USA seien mangelhaft organisiert, meint Bill Fletcher
taz: Herr Fletcher, was ist Ihnen durch den Kopf gegangen, als Sie die
[1][Bilder vom Kapitol] gesehen haben?
Bill Fletcher: Ich war nicht überrascht. Ich war einer jener wenigen
Linken, die seit dem Frühling vor einem Putsch gewarnt haben. Aber erst
Ende August, Anfang September haben die Leute angefangen, sich Sorgen zu
machen. Es fühlte sich wie ein Feueralarm an. Viele Linke realisierten
plötzlich, was eine wiedergewählte Trump-Regierung anrichten könnte. Aber
selbst danach gab es noch eine Abneigung, das Nötige zu tun.
Was hätte denn Ihres Erachtens geschehen müssen?
Als klar war, dass die Faschisten am Mittwoch nach Washington kamen, wäre
eine Massenmobilisierung nötig gewesen.
Hätten linke Gegendemonstranten den Sturm auf das Kapitol verhindern
können?
Das wissen wir nicht. Aber wenn Gewerkschaften und Bürgerrechtsgruppen zum
Gegenprotest nach Washington mobilisiert hätten, wäre das Ziel gewesen, in
der Überzahl zu sein. Wir haben oft gesehen, dass wir dann die Faschisten
vertreiben können.
Haben Sie dafür Beispiele?
Nehmen Sie den KuKluxKlan. In den 90er Jahren lebte ich in Boston. Als der
KuKluxKlan eine Demonstration ankündigte, zu der rund 100 Teilnehmer kamen,
haben wir eine Gegendemonstration mit 1.000 Teilnehmern organisiert. Wir
haben sie aus der Stadt vertrieben.
Der Sturm auf das Kapitol war aber deutlich größer.
Wir können auch Tausende mobilisieren.
Möglicherweise wäre es zu Gewalt gekommen.
Wer weiß. Aber was wir am Mittwoch gesehen haben, war Gewalt.
Wieso hat es am Mittwoch keinen Aufruf von Gewerkschaftern, Bürgerrechtlern
und anderen Linken gegeben?
So etwas muss im Vorfeld geschehen. Am Mittwoch hatten die Faschisten eine
Erlaubnis zu marschieren. Und die Stadtregierung von Washington hatte die
Stadtbewohner aufgefordert, zu Hause zu bleiben.
Unter Trump war die Linke in den USA sehr aktiv. Wieso konnte sie gegenüber
den Kongressstürmern nicht kollektiv reagieren?
Eines der Probleme der Linken in den USA ist, dass sie mangelhaft
organisiert ist. Wir haben keine nennenswerte linke Partei. Nur ein paar
kleine Organisationen, wie die Democratic Socialists of America. Sehr viele
Linke sind gar nicht oder in sozialen Bewegungen engagiert. Dann haben wir
Progressive, die nach strukturellen Veränderungen im Kapitalismus suchen.
Uns hat die kohärente Strategie gefehlt. Unglücklicherweise haben viele
Linke lange auch nicht die substanziellen Unterschiede zwischen
neoliberalen Zentristen und rechten Populisten erkannt.
Erklären Sie doch mal den Unterschied.
Die Demokratische Partei hat sich die neoliberale Ökonomie in den späten
80er und frühen 90er Jahren zu Eigen gemacht. Bei den Republikanern ist
dasselbe bereits in den späten 70er Jahren geschehen. In den sogenannten
sozialen Fragen, wie Wahlrecht und individuelle Rechte sind viele
Demokraten liberal. Aber ökonomisch sind sie neoliberale Fundamentalisten.
Bill und Hillary Clinton sind klassische Beispiele. Auf der anderen Seite
haben wir rechte Populisten wie Donald Trump. Sie sind rhetorisch oft gegen
die neoliberale Ökonomie. Aber in der Praxis machen sie sie sich zu eigen.
Sie reden davon, das System zu restrukturieren, aber sie wollen vor allem
die weiße und die männliche Vorherrschaft verstärken. Anders als diese
rechten Populisten bedrohen die Zentristen den demokratischen Kapitalismus
nicht unmittelbar.
Wie kommt es, dass viele US-amerikanische Linke das Putsch-Risiko nicht
gesehen haben?
Es ist eine Form des amerikanischen Exzeptionalismus, der auch linke und
progressive Kreise erfasst hat. Viele glauben an die Widerstandsfähigkeit
der US-Institutionen. Sie meinen, dass das System es korrigieren kann. Die
realen Gefahren, die von der rechten populistischen Bewegung und von den
Faschisten ausgehen, spielen sie herunter..
Als junger Mann standen Sie den Black Panthers nahe.
Ich war ein Sympathisant.
Was wäre am Mittwoch passiert, wenn eine Gruppe wie die Black Panthers den
Kongress gestürmt hätten?
Wenn Linke massiv versucht hätten, das zu tun, was die Faschisten getan
haben, dann würde es das Tian'anmen-Massaker wie ein Picknick aussehen
lassen. Die Leute wären verhaftet und sie wären getötet worden. Am Mittwoch
schien die Polizei seltsam unvorbereitet. Obwohl es [2][tagelange
Vorankündigungen] gab. Und viele Polizisten haben die Putschisten sehr nett
behandelt. Manche haben sogar Selfies mit ihnen gemacht.
Das polizeiliche Versagen ist auch deswegen erstaunlich, weil Washington so
eine hohe Polizeidichte und jede Menge Erfahrungen mit
Massenveranstaltungen hat.
Was wir gesehen haben, war Sympathie aus den Reihen der Polizei für die
Faschisten. Ich habe an den Costa-Gavras-Film „Z“ gedacht, in dem es um die
Vorbereitung des Putsches in Griechenland geht. Und die Durchdringung der
griechischen Polizei mit Faschisten.
Nennen Sie alle Kongress-Stürmer Faschisten?
Ich benutze das Wort nicht leichthin. Der größere Teil jener, die Trump
unterstützen, sind rechte Populisten. Die Faschisten sind eine Untergruppe.
Am Mittwoch waren sie bewaffnet und darauf vorbereitet, Trump als
autokratischen Führer zu installieren.
Und wie nennen Sie das, was die Kongress-Stürmer getan haben? Terrorismus?
Verrat? Putschversuch?
Es war ein Putschversuch. Es war Terrorismus. Und es war Verrat. Aber wir
müssen verstehen, dass die Gewalt, die wir am Mittwoch gesehen haben, nicht
in einem Vakuum stattfindet. Diese Leute haben kein sonderbares Gebräu
getrunken oder Methamphetamin geraucht. Sie haben ein Weltbild, in dem den
Weißen die Kontrolle über die USA genommen wird und die USA vom Rest der
Welt herumgeschubst werden. Und in dem Männer ihre Macht verlieren. Sie
wollen eine weiße Republik. Und sie glauben, dass die Zeit reif dafür ist.
Es gibt Leute in den USA, die sagen, dass der Sturm auf den Kongress
positive Konsequenzen hat, weil er die Republikanische Partei gespalten hat
und weil Biden als Präsident bestätigt worden ist.
Der Mittwoch hat die Position der Obstruktionisten der Republikanischen
Partei im Kongress verkompliziert. Aber wir müssen auch sehen, dass die
Faschisten nicht verschwunden sind und dass auch die Opportunisten in der
Republikanischen Partei, die mit dem Feuer gespielt haben, nicht
verschwunden sind. Was jetzt passiert, hat sich seit 1968 entwickelt.
Wieso 1968?
Damals hat Richard Nixon als Antwort auf die George-Wallace- Kampagne die
Southern Strategy konstruiert. Es war eine Weiße-Leute-Strategie. Ziel war
es, weiße Wähler von der Demokratischen Partei wegzulocken. Seither
identifiziert sich die Republikanische Partei selbst als
Nicht-Schwarze-Partei und beschreibt die Demokraten als die Partei der
Minderheiten und als die Partei, die Dinge an Leute vergibt, die sie nicht
verdienen. Um ihren Kern zu stärken, haben die Republikaner die Liberalen
aus ihrer Partei verdrängt und sie zu einer harten rechten Partei gemacht.
Die Republikaner sind die einzige Partei in der fortgeschrittenen
kapitalistischen Welt, die Wähler-Unterdrückung zu einem zentralen
Bestandteil ihrer Machtstrategie gemacht hat.
Welche die Konsequenzen hat der Mittwoch?
Eine ist, dass strafrechtliche Verfolgung gegen jeden Beteiligten –
inklusive Trump, wegen Aufrufen zu Aufruhr – und Ermittlungen über die
Polizei nötig sind. Eine andere, dass es in der [3][Republikanischen
Partei] Spaltungen gibt. Es könnte eine dreifache Spaltung werden, bei der
es einerseits die Trumpster, andererseits jene, die zurück zur Normalität
wollen und dann die Zentristen vom Lincoln-Project und Leute geben wird,
die davon angewidert sind, wohin die Partei gegangen ist. Das muss nicht
unbedingt zu getrennten Parteien führen, aber zu einer De-Facto-Spaltung im
Inneren der Partei.
Der künftige demokratische Präsident hat am Mittwoch mehrere Stunden vor
Trump zur Öffentlichkeit gesprochen. Joe Biden hat den Sturm auf das
Kapitol verurteilt. Aber er klang nicht unbedingt kämpferisch.
Biden glaubt immer noch, dass seine Rolle es ist, uns alle zusammen zu
bringen. Gut war, dass er die Putschisten als Aufständische und nicht als
Demonstranten bezeichnet hat. Das war wichtig.
Sehen Sie eine Chance, dass der 25. Verfassungszusatz und ein neues
Impeachment-Verfahren gegen Trump angewandt werden?
Es gibt noch zu viele Unklarheiten, um das vorherzusagen. Zum Beispiel hat
Vizepräsident Pence am Mittwoch angefangen, Entscheidungen zu fällen, die
normalerweise ein Präsident fällt. Wir wissen nicht, ob das ein Mini-Coup
im Inneren des Kabinetts war, der Trump bereits im Wesentlichen entmachtet
hat.
Welche Rolle haben nach Mittwoch die Gewerkschaften, die
Bürgerrechtsgruppen, die Zivilgesellschaft?
Sie müssen Druck auf die Biden-Regierung ausüben, damit sie die Faschisten
zur Rechenschaft zieht und damit sie jene aus dem Kongress entfernt, die
geholfen haben, die Gewalt anzustiften.
Wird es Streiks, Demonstrationen, Petitionen an der Basis geben?
Wir müssen jede Taktik anwenden, die nötig ist, um die Biden-Regierung dazu
zu bringen, das Nötige zu tun. Der Mittwoch muss ein Weckruf sein. In
Opposition gegen die Rechten müssen wir die neue Mehrheit stärken, müssen
wir die Leute stärken, die für Biden gestimmt haben, und müssen wir jene
stärken, die in Georgia zwei demokratische Senatoren gewählt haben. Wir
müssen um die Macht kämpfen. Dazu reichen defensive Aktionen nicht. Wir
brauchen permanente Organisationen. Zwischen jetzt und den Zwischenwahlen
in zwei Jahren müssen wir in den Bundesstaaten stärkere Blocks bilden, um
das Gleichgewicht der Macht zu verschieben. Denn so lange die Rechten –
inklusive die zentristische Rechte – so viel legislative Macht in den
Bundesstaaten haben, stecken wir fest.
8 Jan 2021
## LINKS
[1] /Rechter-Sturm-auf-US-Kongress/!5738355
[2] /US-Kongress-muss-Wahlergebnis-bestaetigen/!5737876
[3] /Nach-dem-Sturm-auf-das-Kapitol/!5742470
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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