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# taz.de -- Buch über Selbstverteidigung und Gewalt: Verteidigung als Angriff
> Keine Feier revolutionärer Gegengewalt: Die feministische Philosophin
> Elsa Dorlin hat die Genese der politischen Selbstverteidigung untersucht.
Bild: Militant und effektiv: Die Suffragetten setzten 1914 das Frauenwahlrecht …
Auf dem Cover von [1][Elsa Dorlins] preisgekröntem Buch zur
Selbstverteidigung sitzt eine unbekannte Black-Power-Aktivistin auf einem
Korbsessel. Mit einem Gewehr in der rechten und einem Speer in der linken
Hand imitiert sie in Outfit, Pose und Gestik ein ikonisches Bild von
[2][Huey P. Newton], seinerzeit Vorsitzender der Black Panther Party for
Self-Defense, aus dem Jahr 1967. Das Bild ist eine doppelte Aneignung.
Zuerst eigneten sich die Black Panther das durch die US-Verfassung
garantierte Recht, Waffen zu tragen, offensiv an. Die zweite Aneignung
nimmt die feministische Aktivistin vor, die sich als Frau in den Kanon der
Schwarzen Befreiung einschreibt, in dem Frauen nicht immer gleichberechtigt
und nicht immer sichtbar waren.
Zumindest die erste dieser Aneignungen war eine feindliche Übernahme: Das
Recht auf Selbstverteidigung war nicht für Schwarze konzipiert. Es wurde
vielmehr im Kontext der kolonialen Staatswerdung und des Schutzes von
Eigentum entwickelt. Indigene und Sklav*innen konnten es nicht in
Anspruch nehmen. Es war nicht für sie gedacht, sondern gegen sie.
Das zeichnet die Philosophin Elsa Dorlin anhand der französischen ebenso
wie am Beispiel der US-amerikanischen Geschichte nach. Die bewaffnete
Selbstverteidigung war dabei nicht ein Überbleibsel, das die staatliche
Monopolisierung der Gewalt nur noch nicht vereinnahmt hatte, sondern ihr
stetes Nebenprodukt.
## Geduldete Milizen
In den USA existierten verschiedenste Formen von Milizen, die als
Verknüpfung von unternehmerischer Initiative und rassistischer
Vergemeinschaftung funktionierten und staatlich stets geduldet wurden.
Dorlin beschreibt diese Milizen als „Grundelemente der Kolonial-, Rassen-
und Sozialgeschichte der Vereinigten Staaten von Amerika“.
Vor dem Hintergrund dieser Geschichte erscheint die Erstürmung des Kapitols
am 6. Januar 2021 in einem besonderen Licht: Als er die übrige
US-Gesellschaft von den ultrarechten Trump-Fans mit den Worten „so sind wir
nicht“ abgrenzte, lag Joe Biden demnach definitiv falsch.
Die Milizen müssten in der langen Geschichte seit der US-amerikanischen
Kolonialzeit nicht als Akteure im rechtsfreien Raum betrachtet werden, so
Dorlin, sondern vielmehr als „Ausdrucksformen“ des Rechts auf
Selbstverteidigung. Die Selbstverteidigung darf, staatsrechtlich wie
philosophiegeschichtlich betrachtet, von bestimmten Menschen in Anspruch
genommen, die für sich zum Schutze ihres Eigentums ein Recht auf Tötung
anderer durchsetzen.
Diese Ausnahme vom Tötungsverbot hat, wie Dorlin aufzeigt, historisch immer
wieder von der Verteidigung zum Angriff geführt. Die Selbstverteidigung
wurde dermaßen weit ausgedehnt, dass sie die offensive Gewaltausübung
gegenüber anderen miteinschloss. Dorlin zeichnet diese Entwicklung anhand
des israelischen Militärs nach. Dass aber weltweit alle möglichen Armeen
und ihre politischen Vertretungen sich als Verteidigungskräfte und
-ministerien bezeichnen, deutet auf eine Verallgemeinerungstendenz. Schutz,
Sicherheit und Angriff erscheinen als logisch miteinander verknüpft.
## Rhetorik der Selbstverteidigung
Im Zusammenhang mit dem Diskurs über Sicherheit entfaltet die Rhetorik der
Selbstverteidigung aber nicht nur militaristische Züge. Dorlin zeigt auf,
wie etwa die Versuche, sichere Stadtteile schaffen zu wollen, die von
feministischen und schwul-lesbischen sozialen Bewegungen in den 1970er
Jahren unternommen wurden, sich immer wieder in eine staatliche und
unternehmerische Sicherheitspolitik integriert haben.
Die Stadt wurde dadurch nicht nur weniger gefährlich für Minderheiten,
sondern zugleich attraktiver für Investoren. Erkämpfte sichere Orte wurden
so zu Vorboten einer „sexuellen und rassialen Gentrifizierung“.
Dorlin denunziert diese Effekte sozialbewegter Politiken nicht, sondern
diskutiert sie. Das ganze Buch ist, anders als Cover und Untertitel
vielleicht vermuten lässt, keine Feier revolutionärer Gegengewalt, sondern
vielmehr deren Problematisierung. So ist auch das Cover-Foto der Frau mit
Waffe aus feministischer Perspektive zumindest ambivalent, für Dorlin sogar
antifeministisch.
Denn es stellt den Mythos der ausgelieferten Frauen nicht in Frage und
schreibt die Opferrolle fest. Denn es sagt: „mit einer Waffe werde ich
verteidigt, ohne Waffe bin ich wehrlos“. Die Aneignung von
Selbstverteidigung ist also alles andere als einfach.
## Feministinnen und politisierte Körper
Eine selbstbestimmte Form der Selbstverteidigung macht Dorlin in der
Geschichte des Feminismus aber doch aus. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts
entwickelten die [3][Suffragetten] Formen feministischer
Selbstverteidigung. Diese waren laut Dorlin nie Mittel zum Zweck, um
politischen Status oder Anerkennung zu erlangen, sondern sie „politisierte
die Körper, ohne Vermittlung, ohne Delegierung, ohne Repräsentation“.
Nur solche antistaatlichen und antirepräsentationalen Formen der
Selbstverteidigung erscheinen für Dorlin legitim. Demgegenüber ist
Selbstverteidigung keine Ermächtigung, wenn sie als Rache oder mit
Sicherheitsversprechen auftritt. Annehmbar erscheint sie überhaupt nur,
wenn sie die geschlechtlichen, sexuellen und rassistischen Grundlagen
systematischer Gewalt in Frage stellt.
Dass sie schön, stolz und gerecht daherkommt, wie das Bild auf dem
Buchumschlag nahelegt, ist demnach eher die Ausnahme.
1 Feb 2021
## LINKS
[1] https://science-politique.univ-paris8.fr/Elsa-Dorlin
[2] https://www.britannica.com/biography/Huey-P-Newton
[3] /Forscherin-ueber-Suffragetten/!5160019
## AUTOREN
Jens Kastner
## TAGS
Schwerpunkt Rassismus
Gewalt
Feminismus
Selbstverteidigung
Nachruf
US-Demokraten
Schwerpunkt Polizeigewalt und Rassismus
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