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# taz.de -- Linke und Schusswaffen: Antirassistischer Schützenverein
> Wie zwei linke US-Aktivisten bei einem Treffen in Seattle ihr
> Waffentragen rechtfertigen. Und warum sie lieber Krankenversicherung für
> alle hätten.
Bild: in den USA gibt es mehrere John Brown Clubs, auch in Missouri, wo „Rob�…
Seattle taz | Da war dieser Aufmarsch von Dutzenden schwer bewaffneter
Männer. Wochenlang besetzten sie 2016 den Malheur-Nationalpark in Oregon
und schüchterten die Bewohner der umliegenden Orte ein. Das gab den letzten
Ausschlag für „Tycho“: Der 31-Jährige besaß schon zuvor Schusswaffen und
ging auf Schießstände. Aber nach der rechtsextremen Machtdemonstration
wollte er seinem Hobby einen politischen Sinn geben: Er begann die Suche
nach einem linken Schützenverein. „Ich bin nicht einverstanden damit, dass
Männer mit Gewehren Schwarze und Schwule und Linke bedrohen und deren
Existenzberechtigung bestreiten“, sagt er.
Tycho trägt eine Schirmmütze mit der Regenbogenfahne der LGBTQ-Bewegung –
und mit einem Maschinengewehr. Er selbst bezeichnet sich als bi. Unter
seinem T-Shirt zeichnet sich eine kugelsichere Weste ab. Griffbereit am
Körper, aber nicht sichtbar trägt er eine Schusswaffe. An dem Nachmittag,
als er der taz ein Interview in einem Park in Seattle gibt, hat er eine
Walther dabei. Den Namen der Pistole benutzt er ganz selbstverständlich.
Bevor Tycho in seine Heimatstadt Seattle zurückkam, lebte er mehrere Jahre
in der Wüste in New Mexico. Dort begann er auf Blechbüchsen zu schießen.
„Es gab sonst nichts zu tun“, sagt er. Aus der Langeweile wurde eine
Sammlung. „Nicht genug“, ist die Mengenangabe, die er über seine
Schusswaffen macht.
Auch der 32-jährige „Koff“ kommt bewaffnet zu dem Interview im Park. Die
beiden Männer haben noch nie auf jemanden geschossen, sagen sie. Ihr Ziel
sei es, „mit deeskalierenden Maßnahmen“ dafür zu sorgen, dass es dabei
bleibe. Aber wenn sie ihre Häuser verlassen, nehmen sie fast immer
Schusswaffen mit. Beide haben eine Lizenz des Bundesstaates Washington an
der nördlichen Pazifikküste. Sie erlaubt es ihnen, versteckt Waffen zu
tragen.
## Keine Fotos
Tycho und Koff sind Mitglieder des „Puget Sound John Brown Gun Club“
(PSJBGC). Der Club versteht sich als „antifaschistische, antirassistische,
Pro-Arbeiter- und Pro-Community-Verteidigungs-Organisation“. Seine
Mitglieder tun etwas, wogegen ein großer Teil der US-amerikanischen Linken
opponiert: Sie treten mit Schusswaffen auf, und sie versuchen, mehr Leute
in den Umgang mit Schusswaffen einzuführen.
Koff und Tycho arbeiten für zwei der großen Hightechkonzerne in Seattle.
Weil in den USA immer wieder Beschäftigte, die außerdienstlich an
„kontroversen Aktivitäten“ teilnehmen, entlassen werden, wollen sie weder
ihre richtigen Namen sagen noch wer ihre Arbeitgeber sind. Auch
fotografiert werden möchten sie nicht.
Die übrigen Clubmitglieder sind laut Koff „Ärzte, Anwälte und Lehrer
zwischen 20 und 50 Jahren“, Frauen und Männer, „weiße, schwarze,
nahöstliche, Latino und chinesische Amerikaner“. Die Mitglieder der John
Brown Clubs haben eine hierarchiefreie Struktur, treffen sich am
Schießstand, helfen als Ordner bei Demonstrationen und bieten kostenlos
Kurse im Schießen und in anderen Formen der Selbstverteidigung an. Ihre
Zielgruppe sind linke AktivistInnen, die sie vor Überfällen von
rassistischen Gruppen beschützen wollen – darunter die „Proud Boys“ und
„Identity Evropa“, die an der Westküste sehr präsent sind.
„Wir unterstützen Menschen, [1][die in der Schusswaffenkultur
unterrepräsentiert sind]“, sagt Koff. „Alles, was wir tun, ist legal.“ V…
bleibt er, was die exakte Zahl der Mitglieder des Clubs angeht: „Mehrere
Dutzend.“ Während der ersten Monate der Pandemie verhängte der Club eine
Aufnahmesperre. Aber seit dem Beginn der neuen Antirassismusbewegung wächst
das Interesse potenzieller neuer Mitglieder.
## John Brown und die Sklaven
Der John Brown Club am Puget Sound ist [2][aus einer anderen linken
Schusswaffenorganisation hervorgegangen: „Redneck Revolt“]. Die erstarkte,
als auf der rechten Seite des US-amerikanischen Spektrums bewaffnete Männer
gegen Barack Obama und für die Tea Party demonstrierten. Rückblickend
bereiteten die Rechten damals bereits das ideologische Terrain für den
Aufstieg von Donald Trump vor. Die Linken benutzten in ihrem Namen das
Schimpfwort „Redneck“ für hinterwäldlerische weiße Landbewohner aus dem
Süden.
Als lockerer Zusammenschluss bestand der John Brown Gun Club schon länger.
Seine offizielle Gründung fand im ersten Amtsjahr von Trump im Weißen Haus
statt. Namensgeber war der weiße Abolitionist John Brown, der im Jahr
1859 zusammen mit zwei Dutzend weißen und schwarzen Männern ein
Waffenarsenal in Harpers Ferry im heutigen West Virginia stürmte. Er war
nicht mit dem Pazifismus anderer weißer Abolitionisten einverstanden und
wollte die Waffen an Sklaven verteilen. Browns Versuch endete in einem
Blutbad. Knapp zwei Jahre nach seiner Hinrichtung begann der Bürgerkrieg,
der zur Abschaffung der Sklaverei führte.
John Brown Clubs gibt es an mehreren Orten der USA. Sie verstehen sich alle
als irgendwie links, sind aber unabhängig voneinander. An der Puget-Bucht
waren mehrere jüdische Mitglieder unter den Clubgründern, sagt Koff. Er
beschreibt es als eine Reaktion auf den Antisemitismus der örtlichen
rechten Gruppen. „Wie in den 1930er Jahren in Deutschland machen sie auch
heute in den USA Juden für ökonomische Ungerechtigkeiten verantwortlich“,
sagt Koff. Freunde haben ihm gesagt, dass manches in den USA heute an die
Weimarer Republik erinnere. Koff stammt aus einer Einwandererfamilie aus
China, ist in Pennsylvania aufgewachsen und hat schon als Teenager mit
Vater und Mutter das Zielscheibenschießen gelernt.
Im Juni haben [3][die BesetzerInnen des Stadtteils Capitol Hill in Seattle]
den John Brown Club um Unterstützung gebeten. Mehrfach patrouillierten auch
Koff und Tycho um die acht innerstädtischen Blocks, um sie vor rechten
Überfallen zu schützen. Als eine Gruppe von „Proud Boys“ mit Pistolen, die
an ihren Gürteln baumelten, über das Gelände zogen, verfolgte Tycho das
Geschehen aus der Distanz, um notfalls eingreifen zu können. Aber als in
der Nacht zum 20. Juni ein junger Mann am Rand des besetzten Gebietes
erschossen wurde und der – bislang nicht bestätigte – Verdacht aufkam,
dahinter könnte eine interne Abrechnung stecken, zog sich der John Brown
Club vom Capitol Hill zurück. „Wir wollen keine Polizeiarbeit machen“, sagt
Koff, „uns geht es ausschließlich darum, die Community nach außen vor
rechten Angriffen zu sichern.“
## Keine Polizei!
Wenige Tage vor dem Interview hat er bei der Gedenkfeier für Charleena
Lyles für Sicherheit gesorgt. Die 30-jährige Afroamerikanerin wurde im Juni
2017 in Anwesenheit ihrer drei Kinder in ihrer Wohnung in Seattle von der
Polizei erschossen. Sie hatte einen Notruf wegen eines Einbruchs gesendet.
Sekunden nach der Ankunft der beiden Polizisten war sie tot. Angeblich
hatte die schwangere Frau ein Messer in der Hand. Bei der Gedenkfeier will
ihre Familie keinen Polizeischutz haben.
Wenige Tage nach dem Interview geht Koff am 4. Juli bewaffnet zu einer
Gedenkfeier für ein anderes Polizeiopfer. In Poulsbo gedenken Freunde und
Angehörige des 39-jährigen Stonechild „Stoney“ Chiefstick, exakt ein Jahr
nachdem Polizisten ihn erschossen haben. Angeblich hatte der als friedlich
bekannte Native American zuvor Menschen mit einem Schraubenzieher bedroht.
Koff und Tycho verweisen darauf, dass Jahrzehnte vor ihnen schon die Black
Panther bewaffnet auftraten. Und dass selbst Martin Luther King sich von
den Bewaffneten der „Deacons for Defense and Justice“ begleiten ließ. Wenn
sie über ihren Club sprechen, fallen gelegentlich dieselben Worte wie bei
rechten Schusswaffenfreunden in den USA. Es geht um das „Recht auf
Selbstverteidigung“ und „patriotische Amerikaner“. Anders als rechte
Schusswaffenträger verstehen die Mitglieder des John Brown Club sich nicht
als Miliz mit einer geschlossenen ideologischen Weltsicht.
Umsturzabsichten haben sie nicht.
Was der John Brown Club auch nicht hat, ist die Rückendeckung durch den
US-Präsidenten. Trump hat – nachdem es bei einem rechten Aufmarsch in
Charlottesville im Sommer 2017 eine Tote und mehrere Verletzte gab – die
mit Fackeln marschierenden Neonazis und die Gegendemonstranten auf eine
Ebene gestellt und von „guten Menschen auf beiden Seiten“ gesprochen.
Sollten Schusswaffen in den USA je unter stärkere Kontrolle kommen, würde
Tycho „ein paar Protestbriefe an meine Abgeordneten“ schreiben. Aber eine
„freie Krankenversicherung für alle“ wäre ihm wichtiger als Schusswaffen�…
Sollte es eines Tages so weit kommen, „würde ich vielleicht als Hobby teure
Computerteile sammeln“.
11 Jul 2020
## LINKS
[1] /Kolumne-Liebeserklaerung/!5034901
[2] https://en.wikipedia.org/wiki/Redneck_Revolt
[3] /Polizeifreie-Zone-in-Seattle/!5691207
## AUTOREN
Dorothea Hahn
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