# taz.de -- Emily Gorcenski enttarnt US-Neonazis: Mit Daten gegen Rechtsextreme | |
> Die Antifa-Aktivist*in und trans Frau Emily Gorcenski wird in den USA | |
> massiv von Neonazis bedroht. Jetzt enttarnt sie einige Täter auf ihrer | |
> Webseite. | |
Bild: Wurde mehrmals Opfer von Doxxing, dem Veröffentlichen privater Infos im … | |
Der Spuk scheint vorbei: Trump ist nicht mehr Präsident der USA, seine | |
Berater*innen entmachtet, die Welt ist wieder im Gleichgewicht. Oder? | |
So einfach ist das nicht. Die letzten Jahre haben Spuren hinterlassen – in | |
der Gesellschaft und in jeder einzelnen Person. | |
Für Emily Gorcenski sind diese Spuren tiefe Narben: „Die Leute verstehen | |
nicht, wie es sich anfühlt, wenn der künftige Präsident der USA Bilder | |
davon, wie du verprügelt wirst, in seiner Wahlwerbung benutzt“, erinnert | |
sie sich im Gespräch mit der taz. | |
Am 11. August 2017 [1][marschierten Rechtsextreme beim „Tiki Torch March“] | |
durch Charlottesville, das langjährige Zuhause von Gorcenski. Eigentlich | |
gilt Charlottesville als eine der lebenswertesten Städte in den USA. Doch | |
nicht an jenem Abend: Gorcenski und rund 15 andere | |
Gegendemonstrant*innen standen Hunderten von Rechtsextremen | |
gegenüber, die mit Tiki-Fackeln aus dem Gartencenter ausgerüstet waren. Die | |
Polizei war abgezogen, die Situation war aufgeladen und eskalierte schnell: | |
Erst bedrängten sie Gorcenski und ihre Mitstreiter*innen, dann griffen sie | |
Gorcenski an. Alles festgehalten von deren Handykamera. | |
Man findet bis heute Aufnahmen auf Videoportalen, die Demonstrierenden – | |
alles Männer – wirken gleichsam ekstatisch, wütend, aufgeputscht und | |
echauffiert. Am nächsten Tag sollte eine andere Gegendemonstrantin, Heather | |
Heyer, von einem Neonazi ermordet werden. „There were very fine people on | |
both sides“, würde der damalige US-Präsident Trump später zu den | |
Ereignissen dieser Tage sagen. „Es gibt feine Menschen auf beiden Seiten.“ | |
Auf Youtube gibt es eine Dokumentation über diesen Tag: Gorcenski sitzt auf | |
einer Parkbank und spricht mit einem Journalisten und sagt: „Ich dachte, | |
ich würde sterben.“ Aber das Gefühl lähmte sie nicht, sondern trieb sie an. | |
„Ich wollte alles tun, was in meiner Macht steht.“ | |
## Einblicke in Wohnungen von Rechtsextremen | |
Ihre Macht ist die Recherche: Als Datenanalystin mit Erfahrung in | |
staatlichen Strukturen wusste sie genau, wie man Menschen aufspürt. Einen | |
nach dem anderen – damit sie angeklagt werden können. „Noch Jahre später | |
konnte ich nicht wegschauen, wenn ich Bilder dieses Tages sah.“ Immer | |
wieder habe sie die Bilder gescannt, auf der Suche nach noch einem Detail | |
oder Hinweis. „Es gibt immer noch ein Foto und noch eine Person, die noch | |
nicht enttarnt wurde.“ | |
Die Resultate dieser Arbeit von ihr und zahlreichen Verbündeten, die Namen | |
von mutmaßlichen Täter*innen, ihre Taten und die Anklage, finden sich | |
[2][auf ihrer Webseite „First Vigil“], zu Deutsch „Erste Wache“. Darauf | |
werden Gerichtsverfahren gegen Rechtsextreme gesammelt – mittlerweile auch | |
von jenen, die am 6. Januar 2021 das US-Kapitol angriffen. Aus First Vigil | |
erwuchs ein [3][zweites Projekt, „How Hate Sleeps“] („Wie der Hass | |
schläft“), das mit Bildern aus anonymisierten Gerichtsverfahren einen | |
Einblick in die intimen Lebensbereiche der rechtsterroristischen | |
Angeklagten gibt. | |
Mittels dieser Gerichtsverfahren und der angehängten Dokumente – | |
Polizeiprotokolle und Zeugenaussagen – versucht Gorcenski, Verbindungen und | |
Netzwerke sichtbar zu machen, aber auch Täter zu finden und sie zu | |
identifizieren. Im Grunde die gängige Arbeit von antifaschistischen | |
Recherchegruppen, wie sie nicht nur in Deutschland, sondern auch in den USA | |
auf eine lange Tradition zurückblicken. | |
Allerdings bleiben die meisten Aktivist*innen lieber im Hintergrund, | |
auch aus Selbstschutz. Nicht so Gorcenski: Sie ist aktiv auf Twitter, gibt | |
Vorträge und ist sichtbar. Das ist auch möglich, weil im Gegensatz zu | |
Deutschland die Informationen, die sie nutzt, prinzipiell frei verfügbar | |
sind – hierzulande ist es strafbar, aus Anklageschriften oder anderen Akten | |
von Strafverfahren zu zitieren, bevor eine Verhandlung überhaupt angefangen | |
hat. | |
Ganz davon abgesehen, dass es auch nicht ohne Weiteres möglich ist, an | |
diese Akten zu kommen und identifizierender Berichterstattung engere | |
Grenzen gesteckt sind als auf der anderen Seite des Atlantiks. | |
## Selbst gewähltes Exil in Berlin | |
Gorcenski geht davon aus, dass das FBI ihren Twitteraccount verfolgt. | |
Belege hat sie dafür keine, doch es wäre keine Überraschung in einem Land, | |
in dem führende Politiker*innen „die Antifa“ als Terrororganisation | |
einstufen wollten. Und in einer Welt, in der ihre bloße Existenz und | |
Identität als asiatisch gelesene Person, als trans Frau und als | |
Antifaschistin weiterhin vielen als Provokation gelten. | |
Auch privat zahlt sie einen hohen Preis für ihren Einsatz: Mehrmals wurde | |
sie selbst Opfer von Doxxing, dem Veröffentlichen privater Informationen im | |
Internet, Spezialeinheiten der Polizei wurden unter falschen Behauptungen | |
zu ihr nach Hause geschickt. 2018 hatte sie genug vom Terror und zog nach | |
Berlin, auch zu ihrer eigenen Sicherheit. Ihre Frau lebt immer noch | |
irgendwo in den USA und sie pendeln, transatlantisch. | |
„Ich wünschte, es gäbe mehr Unterstützung und mehr Verständnis für solche | |
Situationen. Aber ultimativ bleibt man allein. Auch wenn das allem | |
zuwiderläuft, was uns als Linken wichtig sein sollte. Für mich ist das eine | |
Art Glaubenskrise: Wie hält man noch an einer politischen Ausrichtung mit | |
Werten wie gegenseitiger Unterstützung und Niemanden-zurücklassen fest, | |
wenn man sich so isoliert fühlt, über drei Jahre lang? Ich weiß es nicht.“ | |
[4][Der Kampf gegen Rechtsextreme] macht einsam. | |
Und da wäre die Frage nach dem moralischen Dilemma: Als Betroffene hat sie | |
erlebt, welche Auswirkungen Praktiken wie Doxxing haben können. Bleiben sie | |
nicht dann auch falsch, wenn sie für die – vermeintlich – richtige Sache | |
genutzt werden? „Nein“, sagt Gorcenski bestimmt. | |
„Ich entlarve Leute nicht, damit sie belästigt werden, ich veröffentliche | |
keine Informationen, die sie gefährden würden. Und es gibt einen | |
moralischen Unterschied: Wenn man jemanden bloßstellt, weil die Person für | |
Gerechtigkeit kämpft, dann stellt man sich auf die Seite der | |
Ungerechtigkeit. Wenn man versucht, jemanden davon abzuhalten, Gewalttaten | |
zu begehen, dann kämpft man für Gerechtigkeit. Für mich ist die Sache | |
absolut klar.“ | |
## Eine Art „Datenkommunismus“ | |
Sie ist auch in Deutschland in Kontakt [5][mit antifaschistischen | |
Aktivist*innen] – „aber sie würden ganz sicher lieber anonym bleiben“, | |
erzählt sie lachend – und versucht einen Überblick zu behalten: „Ich lese | |
die Nachrichten und versuche damit, mein Deutsch zu verbessern. Was dazu | |
führt, dass ich mir ein seltsames Vokabular aneigne, Begriffe, die meist | |
mit Gewalt, Festnahmen und Brandanschlägen zu tun haben.“ Es beunruhige | |
sie, dass die Rechte in ganz Europa und auch in Deutschland sich wesentlich | |
schneller anpasse und vom US-amerikanischen Mediensystem lerne als die | |
etablierten Medien. | |
„Sie haben gelernt, wie man Falschnachrichten verbreitet, wie man Narrative | |
setzt und kontrolliert. Aber die deutschen Medien haben derzeit noch nicht | |
die Fähigkeiten, dem etwas entgegenzusetzen“, sagt Gorcenski. Ihre Vision | |
ist eine Art „Datenkommunismus“, wie sie es nennt, also ein freier | |
Austausch von Wissen, von Zugängen und vor allem von Kompetenzen. | |
In der Folge der Ausschreitungen vom 6. Januar 2021 zeigt sich schon mal in | |
den USA der Wert von solchen Praktiken, sagt Gorcenski: „Ich bin froh, dass | |
wir nach Charlottesville die Infrastruktur aufgebaut haben, um | |
dagegenzuhalten. Jetzt kann ich einen Schritt zurücktreten, andere Leute | |
haben das im Griff.“ | |
Aber wie geht es jetzt weiter, jetzt, wo das Kapitel Trump abgeschlossen | |
ist? Ist der Kampf vorbei? Gorcenski schweigt für einen kurzen Moment. | |
„Nein“, sagt sie, „aber was ich mache, wird sich verändern, auf einer | |
kleineren, lokaleren Ebene. Mir ist es wichtiger, Veränderung im Leben | |
Einzelner zu hinterlassen. Sodass sie sagen können, ihnen geht es danach | |
besser.“ | |
1 Mar 2021 | |
## LINKS | |
[1] /Proteste-am-Jahrestag-von-Charlottesville/!5527348 | |
[2] https://first-vigil.com/ | |
[3] https://howhatesleeps.com/ | |
[4] /Diskussion-um-Interview-mit-Neonazi/!5525175 | |
[5] /Linke-und-Schusswaffen/!5694253 | |
## AUTOREN | |
Aida Baghernejad | |
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