# taz.de -- Buch über Gleichheit und Gerechtigkeit: Schlagabtausch der Denker | |
> Die Reichen besteuern oder mehr Bildung für alle: Der Ökonom Thomas | |
> Piketty und der Philosoph Michael J. Sandel diskutieren | |
> Gerechtigkeitsfragen. | |
Bild: Wohin mit den Armen? Zelte im Tussing Park von Grants Pass, Oregon | |
Berlin taz | Man sollte nicht zu viel erwarten, wenn man zwei | |
Intellektuelle in eine inszenierte Diskussion verwickelt, zumal wenn es | |
sich um Deutsche handelt. Im Vergleich etwa zu den USA, wo es an jeder | |
Highschool Debattierklubs gibt, ist die Kultur der mündlichen Argumentation | |
hierzulande schwach ausgeprägt. | |
In anderen intellektuellen Kulturen sieht die Sache freilich ganz anders | |
aus, weshalb eine verschriftlichte Diskussion zwischen Thomas Piketty und | |
Michael J. Sandel einiges verspricht: Ein Franzose und ein US-Amerikaner, | |
ein Ökonom und ein Philosoph treffen da aufeinander. Stars sind sie beide. | |
[1][Piketty], Jahrgang 1971, wurde vor gut zehn Jahren mit der englischen | |
Übersetzung von „Le Capital au XXIe siècle“ („Das Kapital im 21. | |
Jahrhundert“) schlagartig berühmt. | |
Die wichtigste These des Buchs: Der Kapitalismus tendiert, je weniger | |
reguliert, umso stärker, zur Vermögenskonzentration, wodurch die | |
Entwicklung der Volkswirtschaft gehemmt und das Funktionieren | |
demokratischer Verfahren behindert werde. Was viele Linke schon immer | |
ahnten, fand durch Piketty eine ökonomisch versierte Bestätigung. Das 800 | |
Seiten starke Fachbuch avancierte weltweit zum Bestseller. Seither gehört | |
sein Autor zu den bekanntesten Gesichtern einer linken | |
Wirtschaftswissenschaft, die nicht nur rechnen und beschreiben will, | |
sondern ihre Expertise einsetzt, um politische Veränderungen | |
herbeizuführen. | |
Sein Gegenüber, der 71-jährige Michael J. Sandel, erlangte weltweiten Ruhm, | |
als er Videos seiner an der Harvard University schon lange legendären | |
Vorlesung zu Gerechtigkeit online stellen ließ. Auf Youtube zählt die erste | |
Folge heute mehr als 39 Millionen Aufrufe. Charismatisch und zugleich | |
nahbar tritt Sandel auf, erzählt Geschichten, scherzt mit seinen Studenten, | |
nimmt sie jedoch immer ernst. Ein Entertainer des Denkens steht da auf dem | |
Podium, doch auch ein Missionar. [2][Sandel] will dozieren, argumentieren, | |
recht bekommen, aber auch Wirkungen zeitigen, er will seine Studenten und | |
Leser prägen. | |
In der akademischen Philosophie machte er erstmals auf sich aufmerksam, als | |
er Anfang der achtziger Jahre auf John Rawls Theorie der Gerechtigkeit | |
antwortete, die ihm zu abgehoben von den realen sozialen Verhältnissen | |
schien. 1996 lieferte er mit „Das Unbehagen in der Demokratie“ selbst einen | |
Klassiker der politischen Theorie. In dem jüngst in aktualisierter Fassung | |
neu herausgebrachten Buch beschreibt er den Aufstieg des | |
Finanzkapitalismus in den USA und damit zusammenhängend die | |
fortschreitende Entmachtung der Zivilgesellschaft und des politischen | |
Subjekts. | |
## Begeisterung für Umverteilung | |
Gleichheit und Gerechtigkeit sind also seit jeher ihrer beider Themen – | |
auch im Mai 2024, als Sandel und Piketty an der Paris School of Economics | |
aufeinandertrafen. Zu Beginn des Bandes „Die Kämpfe der Zukunft“, der ihre | |
Diskussion dokumentiert, definieren sie gemeinsam drei Probleme, die aus | |
monetärer Ungleichheit resultieren: Arme Menschen können sich erstens viel | |
weniger leisten, sie haben zweitens geringeren politischen Einfluss und sie | |
geraten drittens in Abhängigkeit von reichen Menschen, weil diese sich die | |
Arbeits- und Lebenszeit Ärmerer kaufen können. Die Frage nach der | |
Ungleichheit ist für Sandel und Piketty damit eine, die Antworten sowohl | |
aus der Makroökonomie wie aus Ethik und Sozialpsychologie motiviert. | |
Wie aber lässt sich Abhilfe schaffen? Piketty setzt auf klassische | |
Umverteilung und verspricht sich viel von einer progressiven Besteuerung. | |
Überhaupt ist interessant, mit wie viel Emphase der Franzose für die | |
Sozialdemokratie wirbt. Der Begriff ist im Deutschen so stark mit der | |
Partei von Olaf Scholz, Lars Klingbeil und Saskia Esken verbunden, dass man | |
Mühe hat, ihm in seiner Begeisterung zu folgen, geschweige denn zu glauben, | |
dass mit den alten Instrumenten Großes zu erreichen wäre. Sandel hingegen | |
setzt einen anderen Akzent. Für lohnenswerter als eine Angleichung der | |
finanziellen Mittel für alle hält er eine Dekommodifizierung der | |
Wirtschaft. Den Bildungs- und Gesundheitssektor möchte er ganz dem Markt | |
entziehen und seine Dienstleistungen und Güter allen Bürgern in gleicher | |
Weise zur Verfügung stellen. | |
Eine radikale Idee, zumal für einen US-Amerikaner, der in einer | |
Gesellschaft lebt, in der viele eine staatliche Krankenversicherung als | |
sozialistisches Teufelszeug verdammen. Sandels Vorschlag führt das | |
Gespräch ironischerweise aber hin zu einem Exkurs über Möglichkeiten, den | |
Anteil ärmerer Studenten an Hochschulen wie Harvard oder Stanford zu | |
erhöhen. Man ist peinlich berührt, wenn sich diese zwei hochreflektierten | |
Professoren von [3][Eliteuniversitäten] über viele Seiten gegenseitig darin | |
bestärken, dass sie die Auswahlprozesse von Eliteuniversitäten ganz | |
fürchterlich finden. Als wäre es wirklich so, dass man dort 100-mal mehr | |
und besser lernen würde, weshalb es ganz wichtig wäre, mehr arme Schlucker | |
in den Genuss dieser Exzellenzbildung kommen zu lassen. Als wäre nicht im | |
Gegenteil die Existenz von Eliteuniversitäten an sich das Problem. Und als | |
beruhte das Renommee solcher Institutionen nicht vor allem auf Marketing. | |
## Nicht nur Geld, auch Respekt | |
Immerhin, dieser Exkurs leitet die Leserschaft sanft auf eine Metaebene, | |
von der aus man die beiden als Repräsentanten ihrer jeweiligen akademischen | |
und sozialen Milieus beobachten kann. Die Differenz zwischen | |
US-amerikanischer und europäischer Progressivität fällt so immer wieder | |
auf. Links, das ist kein Begriff, der jenseits des Atlantiks viel | |
Verwendung findet. Und selbst wenn Sandel Forderungen aufstellt, die in der | |
hiesigen Parteienlandschaft weit jenseits der Mitte zu verorten wären, | |
kommen sie aus einer ganz anderen Tradition. So steht im Zentrum der | |
politischen Philosophie Sandels der Begriff der „Selbstverwaltung“ | |
(self-governance). Gemeint ist damit ein gesellschaftliches Ideal, das es | |
dem Individuum oder einer Gruppe ermöglicht, frei zu agieren und selbst | |
Regeln für das eigene Handeln zu formulieren. Progressiv, also im Wortsinne | |
fortschrittlich, ist dieses Ziel eigentlich nicht einmal im | |
US-amerikanischen Kontext, weil es einem historischen Zustand | |
hinterherläuft, der im 19. Jahrhundert mit der Konzentration der | |
Wirtschaft verloren ging. | |
Für eine europäische Linke, aus deren Tradition Piketty stammt, ist dieser | |
Ansatz verwirrend, weil er auch offen für eine Ablehnung des Staates ist | |
und in erster Linie die Autonomie kleiner Einheiten zu bewahren versucht. | |
Diese Differenz tritt am Ende des Gesprächs zutage, als Sandel auch über | |
Identität, gar über Identitätspolitik sprechen will. Er ist der Ansicht, | |
dass die rechten Bewegungen unserer Tage nicht nur Zulauf erhalten, weil | |
Arbeiter ihre Jobs in der Industrie verloren haben, sondern weil sie von | |
der gebildeteren Minderheit mit Verachtung gestraft worden seien. Es geht | |
ihm also nicht nur um Geld, sondern auch um Respekt und Anerkennung. | |
Nur mit einigem Widerstand lässt sich der orthodoxe Linke Piketty auf diese | |
Ansicht ein, lieber wäre ihm offenbar eine rein ökonomische Betrachtung | |
gewesen. Warum? Weil gerade er all die Mitte-links-Projekte kritisiert, die | |
ökonomische Macht gegen kulturelle Teilhabe eingetauscht haben, die | |
zugleich Minderheitenrechte gestärkt und den Niedriglohnsektor ausgebaut | |
haben und die nun im Ruf stehen, sich nicht mehr für die Arbeiterschaft zu | |
interessieren. Für Linke wie ihn ist Identitätspolitik keine Lösung, | |
sondern Teil des Problems. | |
Wie aber lässt sich ihm zufolge mehr Gleichheit bewerkstelligen? Die | |
Antwort fällt überraschend aus, weil deutliche Parallelen ausgerechnet zu | |
Donald Trumps Politik erkennbar sind. Auch wenn er ganz andere Ziele | |
verfolgt (gesellschaftliche wie globale Umverteilung) als der US-Präsident, | |
so sind die von Piketty einige Monate vor der US-Wahl vorgeschlagenen | |
Methoden sehr ähnlich: Zölle, Protektionismus, souveräner Nationalstaat. | |
Die Hoffnung auf internationale Initiativen für mehr Gleichheit, etwa | |
globale Mindeststeuersätze für Unternehmen, möchte er noch nicht aufgeben, | |
und doch: Es ist die Nation, an die Piketty seine Hoffnung auf mehr | |
Gerechtigkeit hängt. Auch das lernt man hier über die Linken der Gegenwart: | |
All die Krisen der letzten Jahre – Corona, der Krieg, die Migration und die | |
Inflation – haben sie bescheiden und scheu werden lassen. Genau wie ihre | |
ärgsten Gegner träumen sie nun von einer Heimat. | |
19 Mar 2025 | |
## LINKS | |
[1] /Neue-linke-Oekonomiezeitschrift-Surplus/!6061115 | |
[2] /Sachbuch-zu-Spaltung-in-den-USA/!5741463 | |
[3] /Soziale-Spaltung/!5799617 | |
## AUTOREN | |
Michael Wolf | |
## TAGS | |
Politisches Buch | |
wochentaz | |
soziale Ungleichheit | |
Umverteilung | |
Ökonomie | |
Thomas Piketty | |
Social-Auswahl | |
wochentaz | |
Theater | |
Ökonomie | |
US-Wahl 2024 | |
Schwerpunkt USA unter Trump | |
## ARTIKEL ZUM THEMA | |
Gespräch über Planung im Kapitalismus: „Niemand wird kommen, um uns zu rett… | |
Kapitalismus bedeutet Planwirtschaft, sagt die britische Ökonomin Grace | |
Blakeley. Sie zählt zu den wichtigsten jüngeren Kapitalismuskritiker:innen. | |
„Hospital der Geister“ als Theaterstück: Jeder Fortschritt ein Rückschritt | |
Jan-Christoph Gockel adaptiert am Deutschen Theater in Berlin Lars von | |
Triers „Hospital der Geister“. Dialektik der Aufklärung trifft auf | |
Hochkomik. | |
Neue linke Ökonomiezeitschrift „Surplus“: Piketty und Mazzucato mit Mehrwe… | |
Das Wirtschaftsmagazin Surplus will eine Stimme gegen den Rechtsruck sein. | |
Herausgegeben wird es von Isabella Weber, Adam Tooze und Maurice Höfgen. | |
Lehren aus den US-Wahlen: Wo bleibt das linke Gerechtigkeitsversprechen? | |
Die US-Demokraten haben ihre Wählerschaft verloren und die Wählerschaft | |
ihre Partei. Nach dem Wahlergebnis muss sich die Partei neu aufstellen. | |
Sachbuch zu Spaltung in den USA: It’s the Gemeinwohl, stupid! | |
Der US-Philosoph Michael Sandel skizziert, warum der Rechtspopulismus in | |
den USA so erfolgreich werden konnte – und zeigt, wie es anders gehen | |
könnte. |