| # taz.de -- Gespräch über Planung im Kapitalismus: „Niemand wird kommen, um… | |
| > Kapitalismus bedeutet Planwirtschaft, sagt die britische Ökonomin Grace | |
| > Blakeley. Sie zählt zu den wichtigsten jüngeren | |
| > Kapitalismuskritiker:innen. | |
| Bild: Britische Journalistin und Autorin Grace Blakeley: „Der Markt regelt an… | |
| taz: Frau Blakeley, die Zeitung Daily Mail hat Sie einst „Moët-Marxistin“ | |
| genannt. Sind Sie das? | |
| Grace Blakeley: Das war, als ich 25 Jahre alt war. Ich kam gerade frisch | |
| von der Uni und habe in den Medien darüber gesprochen, dass Sparpolitik | |
| falsch ist. Nicht nur ethisch, sondern auch ökonomisch falsch. Ich konnte | |
| mit etablierten Ökonom:innen auf Augenhöhe diskutieren. Der Daily Mail | |
| gefiel meine Haltung nicht. Deswegen hat sie einen albernen Artikel über | |
| mich veröffentlicht, in dem steht, dass ich aus einer privilegierten | |
| Familie komme. Daraus habe ich nie ein Geheimnis gemacht. Also bin ich eine | |
| Moët-Marxistin? Nun ja, ich mag Champagner. Aber ich will Champagner für | |
| alle. | |
| taz: Moët stimmt also schon mal. Bezeichnen Sie sich selbst als | |
| Sozialistin? | |
| Blakeley: Unbedingt. Ich sehe mich in der Tradition demokratischer | |
| Sozialist:innen, die mit Marx beginnt. Marx war der Idee der menschlichen | |
| Freiheit verschrieben. Aber im Laufe der Zeit wurde seine Botschaft | |
| komplett verzerrt. Ein Grund, warum ich mein neues Buch geschrieben habe, | |
| war, dass ich es satt hatte, dass so viele Leute annehmen, linke Politik | |
| würde immer auf einen mächtigen, autoritären Staat hinauslaufen. Während | |
| der Coronapandemie sagten Journalist:innen zu mir: „Der Staat greift | |
| jetzt in die Wirtschaft ein, das ist Sozialismus. Sind Sie jetzt | |
| zufrieden?“ Nein, das ist kein Sozialismus! Der Staat greift einmal mehr | |
| ein, um die Interessen der Reichen zu fördern. Im Sozialismus geht es | |
| darum, die Menschen zu empowern. Es geht darum, die politische Demokratie | |
| auf den Bereich der Wirtschaft auszuweiten. | |
| taz: In Deutschland kommt bei dem [1][Wort Sozialismus] schnell die | |
| Erinnerung an die Planwirtschaft der DDR auf. Da ist die Idee der | |
| menschlichen Freiheit nicht so recht aufgegangen. | |
| Blakeley: Das ist genau mein Argument: Zentralisierte Planwirtschaft | |
| funktioniert nicht. Zentralisierte Planung sehen wir auch im Kapitalismus. | |
| Ich habe mir die Planwirtschaft in den Ostblockstaaten genauer angeschaut | |
| und bemerkt, dass sich das nicht so sehr von dem unterscheidet, was heute | |
| passiert, wenn etwa Elon Musk im Weißen Haus sitzt und sagt, wir geben | |
| jetzt mal Geld für dieses oder jenes aus. Das ist keine Demokratie, das ist | |
| Planung im Sinne von Privatinteressen. | |
| taz: Der bürgerliche Staat ist die Organisation der Interessen des | |
| Kapitals. | |
| Blakeley: Es heißt, es gäbe einen freien Markt, auf dem jeder neue | |
| Konkurrent theoretisch einen Marktanteil übernehmen könnte. Unternehmen | |
| stünden unter Konkurrenzdruck. Der Markt regelt angeblich und wirkt | |
| ausgleichend. Aber das stimmt so nicht. Monopolistische Unternehmen wie | |
| Google oder Amazon müssen sich nicht den Gegebenheiten des Marktes | |
| anpassen, sie schaffen selbst die Bedingungen des Marktes. Politische | |
| Entscheidungen werden im Sinne des Kapitals getroffen, nicht zugunsten | |
| eines besseren Lebens für die Bevölkerung. Ein Elon Musk kann entscheiden, | |
| dass er nicht in nachhaltige Energien, sondern in eine [2][Rakete zum Mars] | |
| investieren will. Damit trifft er als Milliardär eine persönliche | |
| Entscheidung für sich selbst – und die Wirtschaft richtet sich danach aus. | |
| taz: Das Wirtschaftssystem, das wir in Deutschland haben, heißt ja | |
| offiziell … | |
| Blakeley: … soziale Marktwirtschaft! Ich weiß. Als ich das erste Mal in | |
| Deutschland war, stand bei einem Vortrag jemand aus dem Publikum auf und | |
| sagte: „Wir haben keinen Kapitalismus in Deutschland, wir haben die soziale | |
| Marktwirtschaft.“ Das fand ich sehr lustig. Das zeigt aber auch das größte | |
| Missverständnis, was den Kapitalismus angeht. Viele Leute denken, | |
| Kapitalismus meint unregulierte freie Märkte. Aber die gab es noch nie, in | |
| keiner kapitalistischen Wirtschaft. Immer haben große Unternehmen mit der | |
| Politik kooperiert und, nun ja, planerisch eingegriffen. | |
| taz: Wenn Sie in Ihrem neuen Buch „Die Geburt der Freiheit aus dem Geist | |
| des Sozialismus“ von den Planern des Kapitalismus sprechen, benutzen Sie | |
| häufig das Wort Eliten. Klingeln bei Ihnen keine Alarmglocken im Kopf, wo | |
| übermächtige Eliten doch ein zentraler Bezugspunkt von | |
| Verschwörungsideologien sind? | |
| Blakeley: Es ist sehr wichtig, sich Begriffe, die häufig in öffentlichen | |
| Diskursen verwendet werden, genau anzusehen. Ich habe dieses Buch | |
| geschrieben, um zu erklären, was Kapitalismus wirklich ist, abseits von dem | |
| Narrativ freier Konkurrenz auf einem angeblich freien Markt. Genauso | |
| erkläre ich, was Eliten wirklich sind: natürlich nicht das [3][World | |
| Economic Forum] oder Echsen, die die Welt regieren. In unserer | |
| kapitalistischen Gesellschaft gibt es aber eine klare Hierarchie, in der | |
| die wenigen, die die größten und mächtigsten Finanzinstitute und | |
| Unternehmen besitzen und hohe Positionen im Staat innehaben, viel mehr | |
| Macht haben als eine Durchschnittsperson. Diese Eliten kontrollieren nicht | |
| das ganze System, aber sie können darin planen. Politische Entscheidungen | |
| werden in ihrem Sinne getroffen. | |
| taz: Die Kontrolle durch Parlamente ist ungenügend? | |
| Blakeley: Eine Durchschnittsperson empfindet in einer kapitalistischen | |
| Planwirtschaft ständig ihre eigene Machtlosigkeit. Ich denke, es ist das | |
| bestimmende politische Gefühl unserer Zeit, dass die Welt nicht für mich da | |
| ist, dass die Wirtschaft nicht für mich funktioniert. Ich wähle eine | |
| Partei, die ins Amt kommt und ihr Wort bricht. Oder ich bitte meinen Chef | |
| um eine Gehaltserhöhung und er sagt nein, und ich kann nichts dagegen tun. | |
| Die Grunderfahrung, in einer kapitalistischen Planwirtschaft zu leben, ist, | |
| keine Macht zu haben. Das ist der Grund, warum sich so viele Menschen | |
| rechten Parteien zuwenden, die ihnen versprechen, sie wieder stark und | |
| mächtig zu machen. | |
| taz: Das passt zu dem englischen Originaltitel Ihres Buches: „Vulture | |
| Capitalism“. Die direkte Übersetzung, Geier-Kapitalismus, funktioniert auf | |
| Deutsch nicht so richtig. Aber „Die Geburt der Freiheit aus dem Geist des | |
| Sozialismus“ ist schon sehr viel positiver als der ursprüngliche Titel. | |
| Warum? | |
| Blakeley: Um ehrlich zu sein, „Vulture Capitalism“ fasst einen Großteil | |
| dessen, worum es in dem Buch geht, nämlich die Perfektion des Kapitalismus | |
| als System. Aber es unterschlägt den hoffnungsvollen Ton, den ich zum Ende | |
| hin anschlage. Das Buch hat eine optimistische Botschaft: Werdet aktiv! | |
| taz: Wie denn? | |
| Blakeley: Wir müssen uns organisieren. Niemand wird kommen, um uns zu | |
| retten. Zugegeben, das klingt erst mal pessimistisch. Aber historisch | |
| gesehen wurde progressive Politik noch nie von Politiker:innen | |
| gemacht: „Hey, wir geben euch, was ihr braucht.“ Politik zugunsten der | |
| Bevölkerung wurde immer erkämpft. Das Problem ist, dass in den vergangenen | |
| 40 Jahren soziale Kämpfe in den USA und in Großbritannien, aber auch in | |
| Deutschland und anderen Ländern stark geschwächt wurden. Die | |
| Arbeiter:innenbewegung wurde zu sehr institutionalisiert. Sie ist so | |
| nah am Staat und an den Unternehmen, dass sie die Interessen von | |
| Arbeiter:innen nicht mehr wirklich vertreten kann. Viele Menschen | |
| warten darauf, dass endlich die richtigen Politiker:innen an der Macht | |
| sind. Aber die werden nicht kommen. Wenn wir ein besseres Leben für alle | |
| wollen, dann müssen wir zusammenkommen und uns selbst dafür einsetzen. Und | |
| wir sollten sofort damit anfangen. In Gewerkschaften, in sozialen | |
| Bewegungen, in Kooperativen, in unserer Nachbarschaft. Wir müssen | |
| gefährlich werden. Bis wir eine neue Gesellschaft von unten aufbauen. | |
| 18 Apr 2025 | |
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