| # taz.de -- Gedenken an Historiker Joseph Wulf: Leerstelle im Nachkriegsdeutsch… | |
| > 1974 nahm sich der KZ-Überlebende Joseph Wulf das Leben. Seine Idee, das | |
| > Haus der Wannseekonferenz in Berlin als Gedenkort, erfüllte sich erst | |
| > 1992. | |
| Bild: Kämpfte unermüdlich gegen die Windmühlen der scheinbar heilen deutsche… | |
| Er habe über das Dritte Reich 18 Bücher veröffentlicht, und „das hatte | |
| keine Wirkung,“ schrieb Joseph Wulf im August 1974 an seinen Sohn. Über | |
| Wulfs Schreibtisch in seiner Berliner Wohnung stand in hebräischer Schrift | |
| die Mahnung, der der Überlebende des KZ Auschwitz sein Leben gewidmet | |
| hatte: [1][„Erinnere dich an die sechs Millionen!“] Er selbst konnte gar | |
| nicht anders, als sich an sie zu erinnern. Und er verzweifelte an der | |
| ungeheuerlichen Leichtigkeit beim Vergessen von NS-Unrecht nach 1945 in der | |
| deutschen Nachkriegsgesellschaft. | |
| Joseph Wulf wurde 1912 in Chemnitz geboren und wuchs in Krakau auf. Sein | |
| Leben lang blickte er wehmütig auf die Krakauer Kindheit zurück und fühlte | |
| sich dem osteuropäischen Judentum stark verbunden. Nach dem deutschen | |
| Überfall auf Polen 1939 schloss er sich der Widerstandsbewegung jüdischer | |
| Jugendorganisationen in den Ghettos von Krakau und Bochnia an. | |
| 1943 wurde er enttarnt und in das Vernichtungslager Auschwitz deportiert. | |
| Dort suchte er Kontakt [2][zur kommunistischen Bewegung und organisierte | |
| sich in Untergrundstrukturen]. Kurz vor Kriegsende konnte Wulf bei einem | |
| Todesmarsch fliehen. Er überlebte. | |
| ## Versteckt auf dem Land | |
| Wulfs Sohn David, der gemeinsam mit seiner Mutter den NS-Terror in einem | |
| Versteck auf dem Land überlebte, beschrieb später, wie sein Vater schon | |
| direkt nach dem Krieg voller Drang gewesen sei, über das Geschehene | |
| aufzuklären. Wulf blieb zunächst in Polen und wurde Mitarbeiter der | |
| Zentralen Jüdischen Historischen Kommission. | |
| Er war dabei, als im September 1946 [3][ein Teil der versteckten Dokumente | |
| des Ringelblum-Archivs] geborgen wurde. Wulf nahm sich Emanuel Ringelblum, | |
| der in seinem Untergrundarchiv den Alltag und das Sterben der Juden im | |
| Warschauer Ghetto für die Nachwelt bewahrt hatte, ein Leben lang zum | |
| Vorbild. | |
| Von 1947 an lebte Wulf für kurze Zeit in Paris und gründete dort mit | |
| anderen das Zentrum für die Geschichte des polnischen Judentums. Mitte der | |
| 1950er zog er nach Berlin. Er wollte die deutsche Nachkriegsgesellschaft | |
| aufrütteln und die „sechs Millionen“ in ihrem Gedächtnis verankern. Aus | |
| dieser Zeit stammen seine ersten Buchveröffentlichungen zum | |
| NS-Vernichtungssystem, denen im Laufe seines Lebens zahlreiche weitere | |
| folgen sollten. | |
| ## Historiografischer Autodidakt | |
| Sein Sohn David erinnerte sich später, wie sein Vater, ein heftiger | |
| Kettenraucher, unablässig an seinem Schreibtisch arbeitete und sich oft nur | |
| wenige Stunden Schlaf gönnte. In seinen Werken ließ der historiografische | |
| Autodidakt häufig Originalquellen von Tätern unkommentiert für sich | |
| sprechen. Er hatte bei seiner Arbeit stets auch zukünftige Generationen im | |
| Sinn und schrieb nicht nur für die Forschung, sondern auch für die breite | |
| Gesellschaft. Diese interessierte sich allerdings nicht sonderlich für | |
| seine Werke. | |
| Im Gegenteil, da in Wulfs Veröffentlichungen auch Namen vieler noch nicht | |
| bestrafter Täter genannt wurden, stieß er immer wieder auf Gegenwind. Trotz | |
| einer teils prekären finanziellen Lage schrieb Wulf unermüdlich gegen die | |
| stumpfsinnige, vom Unrecht nichts wissen wollende deutsche Normalität an. | |
| Er kämpfte gegen das – sich bis heute haltende – Narrativ von den angeblich | |
| passiven Juden, die sich „wie Schafe zur Schlachtbank“ führen ließen, und | |
| veröffentlichte Bücher zum jüdischen Widerstand. | |
| Wulfs größtes Anliegen war es, in der Villa der sogenannten | |
| Wannsee-Konferenz ein Dokumentationszentrum zu errichten. Denn dort hatten | |
| am 20. Januar 1942 hochrangige Vertreter von SS, NSDAP und mehreren | |
| Reichsministerien die massenhafte Ermordung der europäischen Juden geplant. | |
| Die stattliche Villa wurde nach dem Krieg zunächst als Schullandheim | |
| genutzt. Nichts erinnerte daran, welches monströse Verbrechen nur zehn | |
| Jahre zuvor an diesem Ort geplant worden war. | |
| ## Bedeutung von Gedenkorten | |
| Wulf erkannte früh [4][die Bedeutung von konkreten Orten von Verbrechen für | |
| die Auseinandersetzung mit der Geschichte]. Ihm schwebte ein | |
| internationales Forschungszentrum vor, in dem Dokumente zur Shoah aus aller | |
| Welt auf Mikrofilm gespeichert werden sollten. Sie waren in der | |
| prädigitalen Zeit des Kalten Krieges nur schwer zugänglich. Wulf selbst | |
| sprach etwa Polnisch, Jiddisch und Hebräisch und konnte in seiner Arbeit | |
| auf ein breites Spektrum an Quellen zugreifen. Das wollte er auch anderen | |
| Historiker:innen und Privatpersonen ermöglichen und Übersetzungen der | |
| gesammelten Dokumente anfertigen. | |
| Für die Umsetzung seines Projekts brauchte Wulf allerdings die Zustimmung | |
| des Berliner Senats. Dieser zeigte sich immer wieder scheinbar offen für | |
| Verhandlungen, wollte die Villa am Wannsee in Wahrheit aber nicht als Ort | |
| der Erinnerung hergeben. In einem jahrelangen Gesprächsprozess wurde Wulf | |
| immer weiter hingehalten, bis die Umsetzung des Forschungszentrums | |
| letztlich verschleppt wurde. Ein Schlag, von dem sich Wulf nie wieder ganz | |
| erholte. | |
| Heute ist das Haus der Wannseekonferenz Gedenkort und Bildungsstätte, wenn | |
| auch vielleicht nicht ganz so auf Forschung fokussiert, wie Wulf es | |
| vorgeschwebt war. Die Bibliothek ist nach ihm benannt. Bei einer Tagung zu | |
| Ehren Wulfs vorige Woche konnten sich Forschende austauschen. | |
| ## An welchem Punkt ist die Holocaustforschung? | |
| Einigkeit bestand darin, dass die Holocaustforschung sicher an einem | |
| fortgeschritteneren Punkt wäre, wäre es Wulf bereits in den 1960ern | |
| gelungen, dort sein Dokumentationszentrum zu errichten. Deborah Hartmann, | |
| Leiterin der Gedenkstätte, weihte mit der Tagung ein neues Seminarhaus im | |
| Garten der Villa ein. Auch der Berliner Senat war – knapp sechzig Jahre | |
| nach den Verhandlungen mit Wulf – zumindest kurzzeitig durch Kultursenator | |
| Joe Chialo (CDU) vertreten. | |
| Die Eröffnung der Gedenkstätte im Haus der Wannseekonferenz 1992 erlebte | |
| Wulf nicht mehr. Erschütterung über das Desinteresse, das ihm | |
| entgegenschlug, zeichnete ihn. Freunde sagten über Wulf, er sei trotz | |
| gesundheitlicher Schäden der Hölle von Auschwitz nicht als gebrochener Mann | |
| entronnen, aber die Ignoranz im Nachkriegsdeutschland habe ihn zum | |
| Verzweifeln gebracht. | |
| Am 10. Oktober 1974 nahm sich Joseph Wulf das Leben. In seinem letzten | |
| Brief an seinen Sohn David schrieb er: „Du kannst dich bei den Deutschen | |
| totdokumentieren, es kann in Bonn die demokratischste Regierung sein – und | |
| die Massenmörder gehen frei herum, haben ihr Häuschen und züchten Blumen.“ | |
| 14 Oct 2024 | |
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| Rosa Budde | |
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