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# taz.de -- Saul Friedländer: Opfer, Täter, Zuschauer
> Er hat die Geschichtsschreibung der Schoah maßgeblich verändert. Zu Recht
> erhält Saul Friedländer den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.
Bild: Fordert Historiker zur ständigen, kritischen Selbstbefragung auf: Saul F…
Was für eine glückliche Entscheidung für den Friedenspreis des Deutschen
Buchhandels! Saul Friedländer, mittlerweile 75 Jahre alt, ist einer der
wichtigsten Historiker des nazistischen Mordes an den europäischen Juden.
Er steht mit seinem Lebenswerk für eine Sicht des "Dritten Reiches", die
diese Mordtat zum Angelpunkt der nationalsozialistischen Herrschaft macht.
Friedländer beharrt darauf, dass es die Ideologie des fanatischen
Judenhasses war, der die Nazitäter motivierte. Er verficht nicht die These,
die Nazis hätten seit ihrer "Machtergreifung" das Ziel der Judenvernichtung
ständig und konsequent verfolgt. Aber er führt viele wichtige Beweise dafür
an, dass es Ende 1941, als das "Kriegsglück" sich wendete, zum
Vernichtungsbefehl durch die Naziführung kam. Da dieser Befehl von
unwandelbarem Hass auf die Juden geleitet war, hat Friedländer die These
von einer richtungslosen "kumulativen Radikalisierung" der Mordaktionen
stets kritisiert.
Die Ideologie des Judenhasses hatte laut Friedländer große Teile des
deutschen Volkes infiziert. Schon früh hat er Material für die These
zusammengetragen, dass der Mord an den Juden keineswegs ein
Betriebsgeheimnis der Nazis gewesen war, eine Einsicht, die jüngst durch
Arbeiten von Peter Longerich und Frank Bajohr zusätzlich erhärtet wurde.
Was Friedländer seit Jahrzehnten umtreibt, ist das Schweigen aller Menschen
und Institutionen in Deutschland (und darüber hinaus in Europa) zur
Verfolgung und Vernichtung der Juden. Sie, die Wissenschaftler,
Kirchenmänner, gebildeten Bürger, wären berufen gewesen, ihre Stimme zu
erheben. Von seiner frühen Studie über das Verhalten des Vatikans
angesichts des Judenmordes bis in sein jüngstes Werk über "Die Jahre der
Vernichtung" blieb dieses Gefühl der Fassungslosigkeit angesichts des
ungeheuren Zivilisationsbruchs ein Antrieb für Friedländers
Forschungsarbeit.
Saul Friedländer ist ein penibel arbeitender Gelehrter, der über einen
enormen Fundus historischer Kenntnisse gebietet, ein Homme de Lettres,
dessen Geschichtsschreibung auch Leser begeistert, die der übliche
Wissenschaftsjargon sonst abschreckt. Die weltbürgerliche Haltung, eine
seltene Großzügigkeit und Rücksichtnahme auch auf wissenschaftliche Gegner
verdankt sich auch den Wechselfällen seiner Biografie. Friedländer
entstammt einer deutschsprachigen jüdischen Prager Familie und wurde von
seinen nach Frankreich emigrierten Eltern in ein katholisches Internat
gesteckt, wo er konvertieren musste. Nach 1945 bekannte er sich wieder zum
Judentum, ging nach Israel, beteiligte sich am Unabhängigkeitskrieg,
studierte und lehrte anschließend in der romanischen Schweiz. Später wurde
er Professor in Israel und von dort in die USA berufen, wo er heute noch in
Los Angeles lehrt. Die Jahre seiner Jugend hat er schon in den 70er-Jahren
in dem jetzt neu aufgelegten Buch "Wenn die Erinnerung" kommt beschrieben.
Friedländer hatte bei seinem großen Werk "Das Dritte Reich und die Juden",
dessen zweiter Band, "Die Jahre der Vernichtung", 2006 erschien, eine klare
Zielvorstellung. Er wollte "eine integrierte Geschichte des Holocaust"
schreiben. Darunter verstand er, dass die Geschichte der Judenvernichtung
nicht an den Grenzen des Deutschen Reiches haltmachte und sich nicht auf
die Entscheidungen der Deutschen einschränken ließ. Vielmehr waren im
europäischen Maßstab alle an dem Drama Beteiligten und ihre Interaktion zu
berücksichtigen.
Zweitens und entscheidend kam es Friedländer darauf an, die "jüdische
Dimension" einzubeziehen. Nicht nur auf der Ebene der Institutionen,
sondern im "Mikrobereich", durch die Schilderung einzelner Schicksale. Wie
keinem Autor vor ihm ist Friedländer dieser Versuch geglückt. Bei seiner
Erzählung hat er sich vielfach auf Tagebücher und Briefe der Verfolgten
gestützt. Sie sind für ihn nicht illustrierendes Beiwerk, sondern
Beweisstücke von unvergleichlicher Eindringlichkeit. Sie durchbrechen, was
der Autor die Selbstgefälligkeit wissenschaftlicher Distanziertheit nennt.
Die durchgängige Berücksichtigung der Stimme der Verfolgten wirkt heute
selbstverständlich angesichts von Bestsellern wie Victor Klemperers
Tagebüchern und früher schon dem "Tagebuch der Anne Frank". Tatsächlich
aber haben die im deutschen Sprachraum erschienenen Darstellungen "der
Endlösung" auf diesen Zugang fast vollständig verzichtet. Unkenntnis der
slawischen Sprachen und des Jiddischen sind hierfür keine hinreichende
Erklärung, erschienen doch eine Reihe solcher Zeugnisse auch in deutscher
Übersetzung, ohne dass sie jemals ihren Platz in einer Gesamtdarstellung
des Nationalsozialismus gefunden hätten.
Die Bedeutung von Friedländers Werk erklärt sich aber auch vor dem
Hintergrund eines viel größeren Versäumnisses: Der Mord an den europäischen
Juden war lange Zeit überhaupt kein Thema für die deutschen Zeithistoriker.
Die erste Ausgabe von Raoul Hilbergs großem Werk "Die Vernichtung der
europäischen Juden" erschien in den 70er-Jahren bei dem linken Kleinverlag
Olle & Wolter und blieb in Historikerkreisen fast unbeachtet. Die erste
Holocaust-Konferenz fand erst Mitte der 80er-Jahre in Stuttgart statt. Die
Geschichte des Judenmords auch nur zu dokumentieren wurde lange Zeit
jüdischen Historikern und Publizisten überlassen, die wie Joseph Wulf die
Nichtbeachtung durch die Zunft der Zeithistoriker ertragen mussten.
Saul Friedländer hat sich mit diesem Stand der Dinge nicht abgefunden,
sondern seit Mitte der Achtzigerjahre, im Zusammenhang mit dem
Historikerstreit, eine Debatte eröffnet, deren Nachwirkung bis in unsere
Tage reicht. Es handelt sich um die Auseinandersetzung mit dem bedeutenden
deutschen Historiker Martin Broszat und seinem Plädoyer für eine
"Historisierung" der Nazizeit. Broszat war es nach eigenem Bekunden darum
gegangen, einer sentimental-trivialen, nur formalen und konsequenzlosen
Behandlung des Nazismus ein möglichst genaues, faktengestütztes, rational
begründetes Geschichtsbild entgegenzusetzen.
Was Friedländer auf den Plan rief, war Broszats These, dass bei den
(jüdischen) Opfern ein mythischer Kern ihre Erklärung der Mordtaten
bestimme. Ohne diesen Mythos herabzuwürdigen, wollte Broszat ihn doch an
seinen möglichen produktiven Funktionen messen. Gegen diese Argumentation
wandte Friedländer ein, Broszat nehme für die deutschen Historiker die
abgeklärte rationale Haltung in Anspruch, die er den jüdischen Historikern
systematisch abspreche. Dann aber wechselte Friedländer auf das Terrain
seines Gegners und fragte, welche intellektuellen und ethischen Vorurteile,
welches Gepäck eigentlich die tonangebende deutsche Zeithistorikerzunft,
fast alles Angehörige der "Flakhelfer" und HJ-Generation, in ihre
wissenschaftliche Arbeit einbringt.
Friedländer führte aus Broszats Arbeiten eine Reihe von Schlüsselbegriffen
ein, die zeigten, dass es dem deutschen Historiker doch letztlich um die
Verteidigung einer "normalen" Existenz vieler Deutscher unter dem
Nationalsozialismus ging. In der Rückschau konstatierte er, dass Broszat
versuchte, eine Konkurrenz der Opfer zu etablieren. Ständige, kritische
Selbstbefragung des Historikers nach seinen Voraussetzungen - das ist die
Botschaft, die Friedländer den deutschen Kollegen ans Herz legt. Sie ist
nach wie vor aktuell.
Saul Friedländer: "Das Dritte Reich und die Juden". 1.317 Seiten, 38 Euro
"Nachdenken über den Holocaust". 201 Seiten, 12,95 Euro "Wenn die
Erinnerung kommt", 192 Seiten, 16,90 Euro; alle im C. H. Beck Verlag
9 Oct 2007
## AUTOREN
Christian Semler
## TAGS
NS-Verbrechen
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