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# taz.de -- Popkultur der 2000er Jahre: Das bin doch alles ich
> In den Ruinen des Kapitalismus: Julia Friese webt in „delulu“ ein Netz
> aus popkulturellen Verweisen und Glamourversprechen.
Bild: Was bleibt von den nuller Jahren? Die zehn besten TV-Momente?
Es ist nicht lange her, da nannte man unsere Zeit noch post-politisch. Der
Kalte Krieg war mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion vorbei, der Westen
und sein Werte- wie Wirtschaftssystem verließen den Platz als Sieger. Die
1990er und die frühen 2000er Jahre standen im Zeichen des Massenkonsums,
die eigenen Bedürfnisse und Wünsche im Mittelpunkt, Politik war für viele
Menschen eher nebensächlich.
Dabei handelt es sich beim Neoliberalismus natürlich um ein hochpolitisches
Projekt, das Menschen zum Zweck der Kapitalakkumulation in den Dienst
stellt. Welche Blüten diese Form der Marktwirtschaft auch in der Exekutive
treiben kann, lässt sich gerade besonders deutlich in den USA erleben, wo
eine beachtliche Zahl an Menschen nichts dabei findet, von einem
millionenschweren Straftäter regiert zu werden, dem wiederum ein weiterer
Milliardär einflüstert.
Die nuller Jahre sind noch nicht so lange her, meint man, doch zwischen
2004 und heute liegt mehr Zeit, als die Beatles von ihrem ersten Konzert
bis zur Ermordung John Lennons hatten. Was bleibt von diesen 20 Jahren? Die
zehn nervigsten Werbespots aller Zeiten? Die 13 peinlichsten
Trash-TV-Momente?
## 2000er-Fernseh- und Medienblase
Die Welt, die [1][Julia Friese] in ihrem neuen Roman „delulu“ entwirft, ist
eindeutig dieser 2000er-Fernseh- und Medienblase entsprungen, die uns früh
darauf vorbereitete, irgendwann auch hoch anstrengenden short form content,
wie er heute auf Tiktok trendet, mental zu verarbeiten: Inhalt
suggerierend, während die atemlose Aneinanderreihung von Cliffhängern und
künstlichen Höhepunkten den Dopaminspiegel in die Höhe treibt.
Frieses Hauptfigur Res macht ihrem Namen alle Ehre, wenn sie bekennt, dass
sie die „Warenwelt“ jederzeit der „wahren Welt“ vorzieht. Diese Res sti…
mit 36 Jahren plötzlich, zu jung natürlich, aber eigentlich zu alt, um noch
an die Versprechungen zu glauben, die uns die moderne Welt gemacht hat;
dass auch du es schaffen kannst.
Irgendwo zwischen Leben und Tod läuft Res jedenfalls dem Popstar Frances
Scott hinterher. Frances springt routiniert von Werbedeals zu Megatour und
Talkshow, immer im richtigen Maß nahbar wie glamourös, selbst ihre Mutter,
mit der Res sich unterhält, scheint nach dem Handbuch des liberal dream
geschaffen.
## Performen, Überwachung und Imagekampagne
Für Frances sind alle Träume wahr geworden, Träume, die bei Licht besehen
von Albträumen natürlich kaum zu unterscheiden sind. Das ständige
Performen, die Überwachung und die konservativen Imagekampagnen, die
aufgefahren werden müssen, wenn der Star betrunken auf einem Parkplatz mit
einer Frau herumknutscht, all das reflektiert Frances sehr wohl.
„delulu“ braucht bis Seite 86, bis der Name Britney fällt. Doch sind
Geschichten rund um tragische Megastars aus dem Mickey Mouse Club nicht
merkwürdig aus der Zeit gefallen? Wie die ganze Welt aus Cornflakes-Reklame
und MTV, die Julia Friese in ihrem Roman entblättert?
Vielleicht steht Britney Spears für dieses ganze Projekt symptomatischer
als eigentlich anzunehmen, als eine Art Meta-Starschnitt. „delulu“, dieser
sehr zeitgeistige Romantitel, ist kein Begriff aus der Generation
Millennial, der zwischen 1980 und Mitte der 1990er Geborenen, der auch
Friese und ihre Heldin angehören, sondern entstammt dem Sprachgebrauch der
Gen Z. Als „delusional“ bezeichnet die jene, die sich unrealistische
Vorstellungen von sich und der Welt machen.
Britney Spears, groß und berühmt geworden im Prä-Internet-Zeitalter, feiert
das Ende ihrer gerichtlich verordneten Fremdbestimmung durch ihren Vormund
und Vater Ende 2021 seitdem wild and free auf Instagram. Was der Popstar
dort postet, gehört in seiner Mischung zum Verrücktesten, was das Internet
zu bieten hat, weil es so ziemlich jedem Skript von Social-Media-Strategien
berühmter Personen entgegenläuft. Sehr freizügige Tanzvideos von Spears
stehen dort neben KI-generierten Bildern von Tieren, motivierenden
Kalender- und Bibelsprüchen. Sieht so der Siegeszug von Social Media über
Yellow Press und Privatfernsehen aus?
## Das amerikanische Modell von Glück und Erfolg
Auch Res ist „delulu“. Doch aus der Schablone, die ihr den Weg zum Ruhm
freigestanzt hätte, fällt sie immer wieder heraus. Sie passt ihr nicht,
weil sie doch eigentlich allen passen sollte. Wem das amerikanische Modell
von Glück und Erfolg ganz realistisch offensteht, ist dabei ohnehin unklar.
Zwar gleichen wir uns der amerikanischen Popkultur seit Jahrzehnten immer
weiter an, doch wer in Mittelhessen sozialisiert wurde, reagiert
automatisch auf andere Signale als jemand aus Midwest.
„Immer bleibt ihr Körper Europäerin, nie wird er Amerikanerin“, heißt es…
Roman. Was das heißt, weiß, wer einmal nachts mit einer Gruppe
Amerikaner:innen in einem 24-Stunden-Diner gegessen und den nur
nachlässig weggeblinzelten Ausdruck von Heimweh in ihren Augen angesichts
eines großen Tellers von Fried Eggs on Waffles gesehen hat. Ja, es ist ein
Klischee, genau wie die adipöse Frau im Fast-Food-Restaurant, der Res
begegnet, aber was ist Pop anderes als das mehr oder minder eindeutige
Spiel mit dem Kitsch?
Die Referenzen und Rückblicke, die Erinnerungen an Kindheit und Jugend in
„delulu“ sind für Millennials im hohen Grade relatable; das reicht von
Werbeslogans über das „S“ aus sechs Strichen, das man auf Löschpapier im
Schulheft zeichnete, bis zu Cheatcodes im Simulationsspiel The Sims.
„Wie anders soll man schon sein, wenn man mit der ganzen Welt ins Netz
gegangen ist?“, fragt Friese. Alles ist Oberfläche, so ähnlich sagte das
auch schon [2][der marxistische Theoretiker Frederic Jameson.] Was sich
hinter Bild und Spektakel befindet, in welche sozioökonomischen, welche
historischen Strukturen diese eingebettet sind, das gerät vollkommen aus
dem Blick.
## Mit Instagram direkt ins Wohnzimmer
Ganz neu ist das alles nicht. In „delulu“ hallt die meiste Zeit noch die
alte Hymne von „Video killed the radio star“ nach. Dabei ist der Star als
Star längst nicht mehr so wichtig, sind Paparazzi überflüssig geworden, wo
durch Instagram und Co der Zugang direkt ins Wohnzimmer der erfolgreichen
Film- und Musikunternehmer:innen gelegt ist.
Schauspielerinnen müssen nicht mehr zur Prime Time Produktwerbung machen,
sind die Ads doch mittlerweile perfekter auf mich zugeschnitten als es eine
schlecht synchronisierte Eva Longoria mit ihren Glanz-Haarpflegemitteln je
sein könnte. Der Star in der Werbung, die Werbung selbst, das bin doch
längst alles ich. Ich, wie ich sein könnte. Und bald sicher bin.
Der sprachgewaltige Ritt durch die Popkultur der 2000er, den Julia Friese
in „delulu“ unternimmt und der trotz seiner Schaurigkeit immer wieder
großen Spaß macht, er fällt so fast eher geschichtswissenschaftlich denn
zeitanalytisch aus. Nur selten blinkt die moderne Welt mithilfe von Apple
Pay und Klimawandel in den Limbus hinein, den Res nach ihrem Tod
durchkurvt. Doch womöglich ist das nur folgerichtig: Angesichts des Todes
denkt so mancher zurück an seine Kindheit, Res eben an die Hochphase
glitzernder Musikvideos.
Vielleicht sind sich die 2000er und die 2020er auch näher als auf den
ersten Blick angenommen. Immerhin gilt heute wie 2009, was [3][der
Kulturwissenschaftler Mark Fisher] über den Kapitalismus schrieb; dass
dieser übrig bleibe, wenn „die Rituale oder elaborierten Symbolwelten aller
anderen Glaubenswelten kollabiert sind und nur noch der Zuschauer-Konsument
durch die Ruinen und Relikte wandelt“. Nichts funktioniert besser auf MTV
als ein Protest gegen MTV.
26 Mar 2025
## LINKS
[1] /Drastischer-Roman-ueber-Mutterschaft/!5876133
[2] /Zum-Tod-von-Fredric-Jameson/!6038047
[3] /Kulturkritiker-Mark-Fisher/!5753052
## AUTOREN
Julia Hubernagel
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