# taz.de -- Drastischer Roman über Mutterschaft: Die Seele aus dem Leib geschr… | |
> Noch ein Roman über Kinderkriegen, Care-Arbeit, Mutterschaft? Ja, | |
> unbedingt, wenn er denn so schlau und heftig ist wie Julia Frieses Debüt | |
> „MTTR“. | |
Bild: Was Mütter alles mit sich machen lassen: schwangere Frau im Krankenhaus | |
Eine Tabelle. Mit spitzem Stift und klarer Kante auf ein Blatt gezogen. In | |
die man Uhrzeiten notiert. Die ganz genaue Zeit, während das rote, | |
röchelnde Baby an den entzündeten Brustwarzen saugt, bis man sich vor | |
Schmerz in den Handrücken beißt. Vier Minuten an der linken Brust. Zwei an | |
der rechten. 12.36 Uhr. Aufschreiben! Damit man überprüfen kann, ob das | |
Baby überlebt. | |
Und manisch fast trägt man ein, um ein wenig Kontrolle zurückzugewinnen, wo | |
schon lange keine Kontrolle mehr ist. Um nicht zu fühlen, sondern Tabellen | |
zu haben. Nur um das Trauma der Geburt, der Fortpflanzung, der | |
Menschmachung wieder in den Griff zu kriegen. Komisch, dass Mütter das | |
machen. | |
So eine Tabelle beschreibt auch Julia Friese in ihrem gewaltigen Debütroman | |
„MTTR“. Der handelt von Teresa Borsig, Mitte 30, die nicht so genau weiß, | |
ob Kind oder nicht, aus Sorge, einen weiteren gefühlskalten deutschen | |
Menschen zu machen. Die dann doch ein Kind bekommt und versucht, das | |
irgendwie alles richtig zu machen. Vor allem anders als die Eltern. | |
Wieso denn jetzt schon wieder ein Buch über Mutterschaft und Care-Arbeit | |
und den ganzen Quatsch? War, zugegeben, ein kurzer Gedanke beim Blick auf | |
das Cover. Aber diese Gedanken sind eben schon Ausdruck des Problems. Es | |
gibt diese literarische Aufarbeitung von Babys-Rauspressen nämlich gar | |
nicht so oft, wie man denken könnte. Nicht so umfangreich. Nicht so gut. | |
Nicht so schlau vor allem. Und nicht so angehend. | |
„MTTR“ ist deswegen kein Buch, in das man sonderlich gerne zurückgeht, weil | |
Friese brutal und in all den vermeintlichen Kleinigkeiten aufschreibt, wie | |
das ist, wenn man Freunde verliert, Blut, die eigenen Prinzipien. Doch | |
immer dann, wenn man auf eine Retraumatisierung zu liest, wird Friese | |
wieder sehr lustig. | |
## Hängend gebären | |
Beschreibt die verschiedenen Typen im Geburtsvorbereitungskurs, wie man | |
auffällt, weil man sich keine Gedanken gemacht hat, ob man an einer | |
Sprossenwand hängend gebären will, tischt Hasenbraten der Schwiegermutter | |
im heimatlichen Kleingarten auf oder lässt die Eltern das Abenteuer | |
Großstadtbesuch wagen. Und dabei wird die Autorin angemessen poetisch, | |
selbst wenn sie nur einen automatisierten Eingang beschreibt: „Die Glastür | |
wich mir aus.“ | |
Julia Friese ist Kulturjournalistin und hat mal einen egalen | |
Musikjournopreis gewonnen, um ihre Relevanz zu unterstreichen sollte man | |
unbedingt ihre aufregenden Interviews wie mit Sophie Hunger erwähnen, ihre | |
feinen Porträts, wie das von [1][Sängerin Soap&Skin.] Friese ist eine | |
zweifelnde Schwärmerin, die sich ganz in ihre Texte und ihre Sujets wirft. | |
Und in ihrem Debütroman, so scheint es, hat sie sich die Seele aus dem Leib | |
geschrieben. Mit dieser sezierten, allumfassenden Beschreibung der | |
Elternwerdung, die hier mit kurzen, manchmal schmerzenden Sätzen auf einen | |
eindrischt. | |
## Reiß dich zusammen | |
Doch der Buch-Titel ist nicht (nur) als hippe Abkürzung der | |
Rollenzuschreibung zu lesen, sondern bedeutet „Meantime to recover“ und ist | |
eine technische Abkürzung dafür, wie lange ein System nach einem Ausfall | |
braucht, um wieder rund zu laufen, so lernen wir auf der ersten Seite. Und | |
auch das könnte man natürlich jetzt auf den Frauenkörper beziehen, | |
Scheidenrisse, die wieder zusammenwachsen müssen, wunde Brustwarze, die | |
heilen müssen, der ganze Körper, der aus dem Besitz des Krankenhauses, der | |
Gesellschaft zurückerobert werden muss. | |
Aber es geht gar nicht nur um Mütter, die Frau muss sich hier gar nicht nur | |
um sich selbst drehen, es geht in „MTTR“ auch um das System Deutschland, | |
das wieder laufen muss. Das Nachnazideutschland, das, wie Friese hier | |
augenöffnend beschreibt, stattdessen auch heute auf Familie und dem Weg | |
dahin wirkt. Die ganze Nazi-Scheiße [2][steckt ja noch in der Muttermilch]. | |
Kann man darin Kinder kriegen? | |
Es geht also auch um Borsigs Eltern und die des Kindsvaters, um die ganzen | |
Mikroaggressionen, die in die Erziehung noch hineinwirken. | |
Reiß dich zusammen. Das macht man nicht. Das gehört sich nicht. Du musst | |
was essen. Weißt du eigentlich, wie gut du es hast. Verwöhnt bist du. Komm | |
da jetzt weg. Guck da nicht hin. Asozial ist das. Das Hartmachen, das | |
Selbstständigmachen mit Entziehung der Liebe. Friese schreibt das mit Wut | |
aber auch viel Humor auf. | |
## Mit Nadeln perforiert | |
Sie beschreibt auch, wie eine selbstausbeuterische Arbeitsmoral auf | |
Familien wirkt, wie in Kleinbürgerlichkeit Abschottung vor den anderen | |
gelehrt wird. Wie in der Reproduktion alles geregelt, abgekürzt, | |
eingedampft, zurückgestellt, automatisiert ist. Mutterpass. Wehenschreiber. | |
Pränataldiagnostik. Das gerade geborene Baby wird den Eltern entzogen, mit | |
Nadeln perforiert, in einem Krankenhaussystem, das nicht zum Wohl des | |
Menschen arbeitet, sondern zum Wohl des Kapitals (und dass wir uns das | |
gefallen lassen, ist ja wirklich eines der unglaublichsten Skandale | |
überhaupt). | |
Nun ist allerdings nicht ganz klar, was das Gegenmodell ist. Die | |
Natürlichkeit, die immer mal wieder vorkommt? Die Protagonistin etwa will | |
nicht stillen, damit auch der Vater sich früh kümmern kann. Und tut es dann | |
doch. Wegen des Kolostrums. | |
Ob die Brust nah am Milchschorf Eltern und Kind glücklicher macht oder ob | |
die Autorin das Natürliche auch als Teil dieser Naziideologie entlarvt, | |
bleibt offen. Im besten Falle kann man es als Hinweis lesen, die Ideologie | |
aus der Fortpflanzung zu nehmen. | |
2 Sep 2022 | |
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## AUTOREN | |
Laura Ewert | |
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