# taz.de -- Buch über Austeritätspolitik: Klassenkampf von oben | |
> In „Die Ordnung des Kapitals“ zeigt die italienische Ökonomin Clara | |
> Mattei, wie mit Austeritätspolitik die Hegemonie des Kapitals | |
> durchgesetzt wird. | |
Bild: „Wir wollen Lohnerhöhungen!“: Streikende Arbeiterinnen in Mailand 19… | |
Man musste schon zweimal hinhören, um es zu glauben: Gerade hatte der alte | |
Bundestag eines der größten Investitionspakete der deutschen Geschichte | |
beschlossen, da verkündete Friedrich Merz: „Wir werden sparen müssen.“ | |
Wenig später schob Jens Spahn hinterher: „Die fetten Jahre sind vorbei.“ | |
Worauf beide Politiker die Bevölkerung vorbereiten, ist die Rückkehr einer | |
neuen Ära der Austerität. Egal, welche Krise das Land trifft, es scheint | |
nur eine Lösung zu geben: sparen, sparen, sparen. | |
Dabei zeigt die Geschichte, dass [1][Sparpolitik] nie den versprochenen | |
Effekt hat. Gemeinhin lautet die Logik, man müsse kurzfristig eine | |
schmerzhafte Phase des ökonomischen Abschwungs in Kauf nehmen, um | |
anschließend die Früchte dieser Entbehrungen in Form von größerem Wachstum | |
zu ernten. Allerdings existieren keine überzeugenden Belege dafür, dass | |
diese Theorie stimmt. In „Die Ordnung des Kapitals“ liefert die | |
italienische Ökonomin Clara Mattei eine Erklärung dafür, wieso | |
Politiker*innen dennoch an dieser Methode festhalten. | |
Bevor sie die Geschichte der Austerität beleuchtet, stellt sie zu Beginn | |
ihres Buchs klar, dass sich diese Politik nicht allein auf | |
Haushaltskürzungen beschränkt. Leitzinserhöhungen der Zentralbanken und der | |
Abbau von Arbeitnehmerrechten, wie sie Deutschland mit der Agenda 2010 | |
erlebt hat, gehören ebenfalls dazu. Genau wie Milliardeninvestitionen in | |
das Militär, wenn diese als Rechtfertigung eines Abbaus des Sozialstaats | |
dienen. „Austerität bedeutet nicht weniger Staat, sondern Staat im Dienst | |
des Kapitals“, brachte sie kürzlich in einem Interview auf den Punkt und | |
verdeutlicht damit die Grundthese ihres Buchs: [2][Austeritätspolitik] darf | |
nicht als Instrument zur Sanierung einer maroden Wirtschaft verstanden | |
werden, sondern als politisches Mittel zum Schutz der kapitalistischen | |
Ordnung. | |
Gemeinhin assoziiert man die Ursprünge der modernen Austerität mit der | |
neoliberalen Ära der Reagan- und Thatcher-Jahre. Mattei geht zurück bis in | |
die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg. Der Krieg war eine Zäsur, weil erstmals | |
die vermeintliche Gewissheit beschädigt wurde, der Kapitalismus hätte auf | |
jede Situation die beste Antwort. Der Krieg bewies, dass Regierungen sehr | |
wohl in der Lage waren, dem kapitalistischen Marktsystem eine Absage zu | |
erteilen und mit aktiver Wirtschaftspolitik die Bedürfnisse der | |
Gesellschaft zu befriedigen. | |
Am Beispiel von Großbritannien und Italien dokumentiert Mattei, wie | |
Arbeiterbewegungen in diesem Bewusstsein zunächst große Erfolge im Kampf | |
für eine neue politische Ordnung feierten, wie die erfolgreiche Besetzung | |
von Fabriken in Norditalien illustriert. Es schien möglich, dass das | |
revolutionäre Aufbegehren der Arbeiter*innen tatsächlich die Dominanz | |
des Kapitals brechen konnte. | |
„In einer Zeit beispielloser demokratischer Umwälzungen in ganz Europa […] | |
mussten die Wirtschaftsexperten ihre mächtigsten Waffen einsetzen, um die | |
Welt so zu erhalten, wie sie ihrer Meinung nach sein sollte“ – sie erfanden | |
die Austeritätspolitik. Wirtschaftspolitische Maßnahmen wurden | |
durchgesetzt, deren vorgebliches Ziel es war, den Haushalt zu sanieren und | |
die Inflation zu bekämpfen, die gleichzeitig aber einen enormen Anstieg der | |
Arbeitslosigkeit nach sich zogen. Öffentlich wurden diese Auswirkungen zwar | |
mit Bedauern begleitet, aber zum notwendigen Übel erklärt. | |
Die größte Stärke von Clara Matteis Analyse liegt in der Art, wie sie | |
hinter diese Statements blickt. Indem sie umfassendes Archivmaterial aus | |
den 1920ern auswertet (Zeitungen, private Korrespondenzen und wenig | |
bekannte Fachaufsätze), legt sie die wahren Motive der Verantwortlichen | |
offen: Steigende Arbeitslosigkeit war nicht bloß ein unerfreulicher | |
Nebeneffekt, sondern die perfekte Möglichkeit, Arbeiter*innen zu | |
disziplinieren und ihre Position zu schwächen. | |
Deswegen steht in „Die Ordnung des Kapitals“ eine Berufsgruppe im | |
Vordergrund, die ansonsten keinen prominenten Platz in der Geschichte der | |
Zwischenkriegsjahre einnimmt – Ökonomen. Für Großbritannien war es Ralph | |
Hawtrey, Hausökonom des britischen Finanzministeriums, der die | |
wirtschaftswissenschaftlichen Argumente lieferte, um den Einfluss von | |
Arbeiter*innen zu beschneiden. Besonders interessant ist aber die | |
Geschichte Italiens. Mattei zeigt detailliert, welche Verantwortung | |
Ökonomen bei der Machtsicherung des faschistischen Regimes von Benito | |
Mussolini trugen. | |
Symptomatisch ist dabei die Rolle von vermeintlich liberalen Ökonomen wie | |
Luigi Einaudi, der 1948 zum italienischen Präsidenten gewählt wurde. Mattei | |
dokumentiert, wie solche Technokraten im Namen der Austerität Maßnahmen | |
unterstützten, die den Faschisten nutzten. Dies wirft ein Licht auf einen | |
bisher kaum beachteten Aspekt von Mussolinis Aufstieg, der auf bedrückende | |
Art auch unsere Gegenwart spiegelt. | |
## Im Kern undemokratisch | |
Die prominente Rolle, die Ökonom*innen beim Schutz der kapitalistischen | |
Ordnung spielen, ist kein Zufall. Ihre Theorien verleihen dem Sozialabbau, | |
wie ihn auch die Bundesregierung vorantreibt, eine vermeintlich | |
unpolitische, wissenschaftliche Aura. Dadurch können Politiker*innen | |
sowohl in liberalen Demokratien als auch in autoritären Staaten ihre | |
Handlungen als zwar „schmerzhaft“, aber alternativlos und rational | |
rechtfertigen. So wird [3][Austerität zum Common Sense] geadelt. Mattei | |
legt dar, dass diese Form der öffentlichen Kommunikation notwendig ist, | |
weil der Kern der Austeritätspolitik zutiefst undemokratisch ist. | |
Woran ihr innovativer Ansatz in Teilen krankt, lässt sich bei vielen | |
politischen Sachbüchern beobachten. Haben die Autor*innen erst mal eine | |
These entdeckt, mit der sie die Welt erklären, wird diese auf so viele | |
Bereiche wie möglich angewendet: Mit einem Hammer in der Hand wird alles | |
zum Nagel. Bei Mattei zeigt sich das in ihrer Diskussion um die Funktion | |
von Zentralbanken. In „Die Ordnung des Kapitals“ entsteht der Eindruck, | |
diese Institutionen seien nur geschaffen worden, um Arbeiterbewegungen zu | |
unterdrücken. Selbstverständlich sind Zentralbanken in der Regel | |
Einrichtungen, die sich einem direkten politischen Einfluss entziehen. | |
Dafür gibt es gute Gründe, wie wir gerade in den USA erleben. Wäre der | |
US-amerikanischen Gesellschaft wirklich geholfen, hätte Donald Trump | |
direkte Kontrolle über die Federal Reserve und den Leitzins? Die Frage, | |
welche Rolle Zentralbanken in einer Demokratie spielen sollten und wie man | |
mit ihrem de facto undemokratischen und technokratischen Charakter umgeht, | |
ist hochkomplex. Sie lässt sich nicht so einfach in Matteis | |
Austeritäts-Framework pressen. | |
Das ändert aber nichts daran, dass „Die Ordnung des Kapitals“ für | |
progressive Kräfte ein Geschenk ist. Clara Mattei belegt eindrücklich, was | |
neoliberale und konservative Politiker*innen wirklich meinen, wenn sie | |
von notwendigen Sparmaßnahmen sprechen. Sie entlarvt, dass nicht das | |
langfristige Wohl der Allgemeinheit im Vordergrund steht, sondern die | |
Sicherung der Vormachtstellung des Kapitals.Der Austeritätspolitik lässt | |
sich daher nicht mit ökonomischen Argumenten begegnen, sondern sie muss als | |
das bezeichnet werden, was sie ist: Klassenkampf von oben. | |
14 Jun 2025 | |
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## AUTOREN | |
Daniel Staehr | |
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