# taz.de -- Sachbuch „Abundance“ aus den USA: Mehr, nur wie und wovon? | |
> In ihrem umstrittenen Buch „Abundance“ plädieren die US-Journalisten Ezra | |
> Klein und Derek Thompson für mehr Investitionen und weniger Regulierung. | |
Bild: Not in San Francisco: 50 Prozent der US-Obdachlosen leben im liberal regi… | |
Im linken und liberalen Amerika ist ein erbitterter Streit ausgebrochen. | |
Von einem Bürgerkrieg unter US-demokratischen Politiker:innen und | |
Politiknerds sprach gar Ende Mai die Zeitschrift [1][The Atlantic]. Diesmal | |
geht es nicht um Gaza, Migration oder Polizeigewalt, sondern um etwas | |
erfrischend Dröges: Richtlinien, Verordnungen und Gesetze. | |
Im Zentrum dieses Konflikts, der derzeit in Zeitungsartikeln, Substacks und | |
Tweets ausgefochten wird, stehen die Journalisten [2][Ezra Klein] von der | |
New York Times und Derek Thompson von The Atlantic mit ihrem neuen Sachbuch | |
„Abundance“ (Überfluss). Darin kritisieren sie die Ineffektivität | |
nationaler und bundesstaatlicher Regierungen und machen dafür auch eine | |
linke Obsession mit Überregulierung verantwortlich. Damit treffen sie | |
offenbar einen Nerv. | |
Was Klein und Thompson wollen, ist klassisch links: ein gutes Leben für | |
möglichst viele. Ihr Konzept des Überflusses wollen sie verstanden wissen | |
als Überwindung des ewigen Knappheits- und Spardiktats. Entgegen der in | |
liberalen Kreisen populären Degrowth-Theorien oder der Austeritätspolitik | |
der Republikaner wollen sie die Logik der Knappheit durch staatliches | |
Handeln überwinden, durch Wachstum und Innovation: „Mehr bauen und mehr von | |
dem erfinden, was wir brauchen.“ Nicht weniger, sondern mehr soll es geben, | |
nicht Konsumprodukte, sondern bezahlbare Lebensgrundlagen im Sinn eines | |
John Maynard Keynes – günstiger Wohnraum, klimaneutrale Energie, | |
Gesundheitsversorgung, eine funktionierende Infrastruktur, Digitalisierung. | |
## Probleme nicht auf andere schieben | |
Die US-amerikanische Realität sieht anders aus. Die Ungleichheit wächst, | |
[3][Extremwetter] bedrohen regelmäßig Hunderttausende Existenzen, fossile | |
Rohstoffe sind weiterhin die primäre Energiequelle, Infrastrukturprojekte | |
stocken, und die Innovationsfähigkeit sinkt – und zu alldem kommt die | |
disruptive und menschenfeindliche Agenda von Donald Trump. Doch wer die | |
derzeitigen Probleme auf die anderen schiebe, mache es sich zu einfach, | |
finden Klein und Thompson. | |
Bereits vor Trump sank die Zufriedenheit mit Regierungen in den USA | |
kontinuierlich, ebenso das Vertrauen in politische Institutionen. Alles | |
dauert länger als früher, ist teurer, komplizierter. Was muss also liberale | |
Politik besser machen? Insbesondere Klein, der als Host des Podcasts „The | |
Ezra Klein Show“ von Liberalen und Progressiven weltweit als Public | |
Intellectual gefeiert wird, ist für seine gewissenhaft recherchierten wie | |
unbequemen Meinungen bekannt. Und so gehen die Autoren nicht im | |
republikanischen Mittleren Westen auf die Suche, sondern widmen sich ihrem | |
eigenen Milieu und untersuchen in detaillierten Fallstudien, woran auch die | |
Regierungen an den politisch liberal eingestellten Küsten der USA immer | |
öfter scheitern. | |
Die Obdachlosigkeit in Kalifornien beispielsweise: Der bevölkerungsreichste | |
Bundesstaat, seit Langem demokratisch regiert, stellt 12 Prozent der | |
Gesamtbevölkerung, aber 30 Prozent der wohnungslosen Bevölkerung und 50 | |
Prozent der obdachlosen Bevölkerung. Für die Autoren ein Zeichen von | |
Lawn-Sign-Liberalismus: „In denselben progressiven Gegenden, in denen | |
Hausbesitzer in ihren Vorgarten Schilder wie,Kindness Is Everything' | |
stecken, lässt sich kein bezahlbarer Wohnraum finden – und die | |
Obdachlosigkeit ist endemisch“, schreiben sie. | |
Wo in den 50er Jahren innerhalb von drei Jahren Zehntausende Häuser und | |
ganze Orte neu gebaut wurden, verhindern heute vor allem von | |
Anwohner:innen forcierte Flächennutzungsregeln („Zoning Rules“) mehr | |
Wohnungsbau. „Jede wachsende Gemeinschaft, die sich selbst so mag, wie sie | |
ist“, so die Autoren, „steht einem Problem gegenüber.“ Dieser ebenso | |
konservative wie liberale NIMBYismus („Not in my Backyard“) – die Idee, | |
dass Veränderung gerne passieren darf, aber bitte nicht hier – so Klein und | |
Thompson, sei ein strukturelles Problem. | |
Ein anderes Negativbeispiel aus Kalifornien: Eine | |
Hochgeschwindigkeitsbahntrasse. 1982 erstmals angekündigt, vergingen 14 | |
Jahre, bis die Planung begann und weitere 13 Jahre, bis die Finanzierung | |
gesichert war. Weitere 16 Jahre später wurde das Projekt auf den Bau eines | |
kleinen Teilabschnitts geschrumpft, die Kosten belaufen sich auf rund 35 | |
Milliarden US-Dollar. Was die Autoren als Hauptproblem ausmachen, ist nicht | |
der Bauprozess selbst, sondern dessen politischer Kontext. Die Fülle an | |
Regularien, Bürokratie, Schlichtungsverfahren und Gerichtsverhandlungen | |
nehme dem Projekt erst die gesellschaftliche Zustimmung und dann auch den | |
politischen Willen zur Fertigstellung. | |
Viele Lösungen von gestern seien die Probleme von heute geworden, so die | |
Diagnose in „Abundance“. Die Klagewellen von Umwelt- und | |
Bürgerrechtsorganisationen seit den 1970er Jahren seien zwar die adäquate | |
Antwort auf die Zeit des New Deal gewesen, in der Nachhaltigkeit | |
vernachlässigt wurde. Heute sorge dieser „Legalismus“ allerdings für | |
Stillstand. Bau- und Infrastrukturprojekte würden immer teurer, weil | |
Dokumentations- und Antragspflichten immer mehr Ressourcen und Geld binden. | |
Das gleiche Muster zeige sich in der Wissenschaft und Medizinforschung, in | |
der Verwaltungsdigitalisierung oder beim Ausbau erneuerbarer Energien. | |
Klein und Thompson zeichnen die Verknöcherung eines – eigentlich | |
erfolgreichen, und deshalb alternden – demokratischen Systems nach. Über | |
viele Jahre wurde Vertrauen in die politische Exekutive durch Gesetze, | |
Abstimmungsprozesse und Regeln ersetzt, sodass das System als Ganzes immer | |
immobiler wurde. Das müsse sich ändern. Statt Konsenszwang müssten | |
pragmatische Entscheidungen getroffen werden – um angesichts der drohenden | |
Klimakatastrophe überhaupt irgendetwas zu retten. Statt | |
Klimawandel-Leugnung gebe es bei Progressiven aber oft einen „tradeoff | |
denial“, die Leugnung, dass es (unperfekte) Kompromisse braucht. | |
## Pragmatismus – nur wo? | |
Als positive Gegenbeispiele ziehen Klein und Thompson Krisenprojekte heran, | |
deren Dringlichkeit Pragmatismus erlaubt: Das Raumfahrtprojekt Apollo etwa | |
oder die Operation Warp Speed, mit dem die US-Regierung nach dem Ausbruch | |
der Coronapandemie nur 11 Monate statt üblicherweise Jahrzehnte brauchte, | |
um eine sichere und wirksame Impfung zu entwickeln und zu verteilen. Um | |
Krisen wirklich effektiv zu begegnen, so eine der Hauptthesen des Buches, | |
brauche es eine andere politische Kultur, eine, in der Regierungen mit so | |
viel Vertrauen ausgestattet sind, dass sie tatsächlich handeln können. | |
Doch genau hier wird es haarig. Denn während Klein und Thompson zwar die | |
komplexen politischen Probleme präzise analysieren, bleiben ihre | |
Forderungen an der schwierigsten Stelle hängen. Welche Regeln und | |
Teilhabeprozesse dürfen zukünftig also vernachlässigt werden – das | |
Umweltgutachten, die Barrierefreiheit oder die | |
Gleichstellungsanforderungen? Worauf davon wollen, worauf können wir | |
verzichten? Und wer entscheidet darüber? | |
Vor einer Antwort ducken sich die Autoren weg und bleiben unkonkret bei der | |
Frage, welche Prioritäten nun gesetzt werden sollten. Das, so versichern | |
sich in ihrem Fazit, wollen sie bewusst nicht tun. Vielmehr soll ihr | |
Beitrag eine Fokussierung auf ein neues, altes politisches Ziel – den | |
Überfluss – anregen, inklusive Benennung potenzieller Hürden auf dem Weg | |
dorthin. Die Problemanalyse mit konkreten Werten und Zielen zu füllen, wird | |
dem öffentlichen Diskurs überlassen. | |
## Traumatisierte Demokraten | |
Dieser ist in vollem Gange. Ursprünglich sollte Kleins und Thompsons Buch | |
im Sommer 2024 erscheinen, in der heißen Phase des US-Wahlkampfes. Dafür | |
spricht auch die Struktur von „Abundance“, dessen Kapitel wie eine | |
Schritt-für-Schritt-Anleitung aufgebaut sind: Wachsen, Bauen, Regieren, | |
Erfinden, Einsetzen. Die Veröffentlichung verspätete sich aber bis in den | |
März 2025, und so wissen wir nun, dass nicht Kamala Harris im Weißen Haus | |
sitzt, sondern wieder einmal Donald Trump, während die Demokraten auch im | |
Kongress die Minderheit stellen. | |
„Abundance“ trifft also auf eine traumatisierte und orientierungslose | |
Demokratische Partei. Auf der einen Seite klammern sich demokratische | |
Führungspersönlichkeiten, unter ihnen die Gouverneure Kathy Hochul, Tim | |
Walz oder Wes Moore, an die Vision wie an einen Rettungsring. Kaliforniens | |
Gouverneur Gavin Newsom nannte „Abundance“ „das wichtigste Buch für | |
Demokraten“, und die Parteiführung lädt Klein zu Vorträgen ein. Auf der | |
anderen Seite stehen jene, die darin eine libertäre | |
„Anti-Government“-Ideologie unter linken Vorzeichen sehen und damit einen | |
Frontalangriff auf die in der demokratischen Partei stark verankerten | |
Grassroot-Bewegungen. | |
Wer sich mit Klein und Thompson beschäftigt hat, weiß, dass sich die beiden | |
bisher nicht verdächtig gemacht haben, autoritär, technolibertär oder | |
„anti-government“ eingestellt zu sein. Und doch klingen Teile des Buches – | |
Bürokratieabbau, Technologieoffenheit, Deregulierung – nach der Agenda des | |
[4][Silicon-Valley-Libertarismus]. Die Autoren verlangen ihren | |
Leser:innen ab, das auszuhalten: „Das Streben nach Wohlstand bedeutet, | |
institutionelle Erneuerung anzustreben. Eine der gefährlichsten politischen | |
Pathologien ist die Tendenz, alles zu verteidigen, was die Feinde | |
angreifen.“ | |
Ein ungutes Gefühl macht sich nach der Lektüre trotzdem unweigerlich breit. | |
Denn nicht nur für Demokraten kann „Abundance“ ein Denkanstoß sein, | |
sondern auch für den Machtapparat um Donald Trump. In vielerlei Hinsicht | |
ist dieser mit seiner forschen Rücksichtslosigkeit heute bereits sehr viel | |
besser darin, die lähmenden Auswüchse der institutionellen Demokratie | |
anzugehen. Nur sind seine Ziele ganz und gar andere. | |
4 Jun 2025 | |
## LINKS | |
[1] https://www.theatlantic.com/ideas/archive/2025/05/abundance-democrats-polit… | |
[2] /Podcast-zu-Trumps-Politik/!6066623 | |
[3] /Nach-den-Waldbraenden/!6059856 | |
[4] /Rechter-Blogger-Curtis-Yarvin/!6072620 | |
## AUTOREN | |
Amelie Sittenauer | |
## TAGS | |
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