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# taz.de -- „Hospital der Geister“ als Theaterstück: Jeder Fortschritt ein…
> Jan-Christoph Gockel adaptiert am Deutschen Theater in Berlin Lars von
> Triers „Hospital der Geister“. Dialektik der Aufklärung trifft auf
> Hochkomik.
Bild: Druckzeichen auf der Hand: die taubblinde Schauspielerin Tanja Hameter (r…
Dieser Theaterabend hat zwar vordergründig überhaupt nichts mit der
Coronapandemie zu tun und doch denkt man nach einer Weile, dass er genau
zur richtigen Zeit herauskommt: nur einige Tage, nachdem öffentlich
gewordene Geheimdienstrecherchen die [1][sogenannte Labortheorie] über den
Ursprung des Erregers neuerlich ins Gespräch gebracht hatten. Denn so wie
dieser Verdacht das Bild der Wissenschaft als Heilsbringerin der Menschheit
in Zweifel zieht, so präsentieren sich die Mediziner auf der Bühne als eine
Sammlung lächerlicher bis gefährlicher Spinner.
In klandestiner Runde – sie nennen es Loge – treffen sie sich im Keller des
Kopenhagener Reichskrankenhauses, gießen sich Schnaps hinter die Binde und
stecken die mit Zylindern beschwerten Köpfe zusammen.
Der Männerbund, eine von feministischer Seite mit Vorliebe kritisierte
Institution patriarchaler Ordnung, feiert hier wunderbare Auftritte, etwa
wenn der ehrgeizige Pathologe Professor Doktor Bondo, gespielt von dem
humorhochbegabten Andri Schenardi, seine Logenbrüder auffordert, ihm die
krebskranke Leber eines im Sterben liegenden Patienten zu transplantieren,
damit der Tumor in seinem Körper weiterwachsen kann. „Ich will das größte
Lebersarkom Europas züchten!“
Und auch die anderen haben ihre delikaten Probleme. Der dauerlächelnde
Chefarzt, gespielt von [2][Ulrich Matthes,] will sein Team auf Teufel komm
raus mit Methoden aus dem Coachingseminar motivieren und sucht später, nach
einem fatalen Besuch des Gesundheitsministers, Trost bei einem
bongospielenden Therapeuten.
Doktor Stig Helmer, verkörpert vom zweiten Star des Abends, Wolfram Koch,
muss unbedingt einen Kunstfehler vertuschen und schreckt dabei auch vor dem
Einsatz von Voodoozauber nicht zurück. Derweil steigert sich seine
Geliebte, die von Anja Schneider gegebene Anästhesistin Doktor Mortensen,
in animalische Gewaltfantasien hinein. „Der Dachs ist ein niedliches Tier,
das so lange zubeißt, bis der Knochen zerquetscht ist.“
## Skepsis an der Vernunft
Follow the science? Bei diesem Personal lieber nicht! Genüsslich
konterkarieren Regisseur Jan-Christoph Gockel und sein 14-köpfiges Ensemble
die Vorstellung kühl berechnender Forscherinnen und Forscher, die ihre
überragende Ratio in den Dienst des Fortschritts stellen. Die hier durchweg
fröhlich vorgetragene Skepsis an der Vernunft ist freilich nicht ganz neu,
folgen Gockel und sein Team doch mit ihrer Adaption recht werktreu den
ersten beiden Staffeln von [3][Lars von Triers Serie] „Riget“ („Das Reich…
aus den Neunzigerjahren. Der dänische Starregisseur verband damals die
Krankenhausserie mit dem Horrorgenre.
Gockel, seit 2020 Hausregisseur und Teil der künstlerischen Leitung der
Kammerspiele München, hat den Stoff bereits am Schauspiel Graz, der
früheren Wirkungsstätte von Intendantin Iris Laufenberg, inszeniert. Die
Berliner Fassung ist mit fünf Stunden einschließlich zwei Pausen noch
einmal länger geworden, auch hat er fast das ganze Ensemble ausgetauscht.
Mit dabei sind nun auch Jonas Sippel und Dirk Nadler vom Theater
RambaZamba.
„Hospital der Geister“, wie der Abend hier heißt, spielt in einem Spital,
das einst – wie immer wieder erwähnt wird – auf uraltem Sumpfland erbaut
wurde. „In alten Zeiten wässerten hier Bleicher riesige Tücher und
breiteten sie zum Trocknen aus. Der Dampf, der aus den feuchten Stoffen
aufstieg, hüllte den Ort in ewigen Nebel.“ Dann aber kehrte mit dem
Krankenhaus, mit Ärzten und Forschern Objektivität und Technologie ein.
„Nie mehr sollten Aberglaube und Unwissenheit die Bastion der Wissenschaft
erschüttern.“ Aber weit gefehlt! Eine Art Dialektik der Aufklärung waltet
hier, mit jedem Wissenszuwachs droht der Verstand in sein Gegenteil
umzuschlagen. Das Okkulte und Spiritistische hat an diesem Ort genauso
seinen Platz wie die Vernunft.
## Kulturhistorisch bewandert
Gockel und seine Dramaturgin Karla Mäder folgen mit ihrer Fassung den
kulturhistorisch bewanderten Bezügen des Originals. Im gedanklichen
Hintergrund des um keinen Gag verlegenen Bühnengeschehens leuchten all die
Rückschritte des Fortschritts und Fortschritte des Rückschritts auf: Die
Renaissance war die Epoche des Wissensdurstes und der Emanzipation von den
Religionen, sie war aber auch die Zeit der Hexenverfolgung; das 19.
Jahrhundert erfand das Konzept der Objektivität und nutzte es sofort, um
Geisterwesen zu bezeugen; die ungemeine Rechenleistung unserer Tage
ermöglicht Forschung auf einem ganz neuen Niveau – genauso wie täuschend
echte Fakes.
Die Wahrheit ist also nicht ohne die Täuschung zu haben, das Leben nicht
ohne den Tod und die Wirklichkeit nicht ohne das Unerklärbare. Dabei lassen
sich diese Ebenen aber nur unter großen Mühen miteinander in direkten
Kontakt bringen. Dafür ist unter anderem Tanja Hameter zuständig. Sie
fungiert an diesem Abend als eine Art Medium zwischen den Welten, was Sinn
ergibt, da sie persönlich stark auf Vermittlung angewiesen ist.
Hameter ist taubblind, eine Dolmetscherin übersetzt ihr das auf der Bühne
Gesagte und die Reaktionen des Publikums auf ihren Vortrag über
Druckzeichen auf ihrer Hand. Mehrmals wird das genutzte Alphabet auf einen
Gazevorhang vor der Bühne projiziert, wie als stolzer Beweis, welche
Grenzen die Vernunft zu überwinden weiß, welche Isolation sie zu
durchbrechen vermag.
Der Kontrast zum Unerklärlichen und Unheimlichen wirkt da nur umso größer.
Denn andere bleiben hier schrecklich allein, so etwa die neunjährige Marie,
die vor einem Jahrhundert von ihrem Vater erstickt wurde und seither keine
Ruhe findet. Der Puppenspieler Michael Pietsch lässt sie durch die
Krankenhausfluge geistern, reißt ihre Augen weit auf und rollt ihre
Pupillen gruselig zur Seite.
## Beeindruckende Puppen
Pietsch hat auch die anderen beeindruckenden Puppen für diese Inszenierung
gebaut: eine kleine Ratte, die er durch den Krankenhauskeller wuseln lässt,
und Maries Bruder, den die Assistenzärztin Judith (Lisa Birke Balzer)
gebiert. Etwas stimmt nicht mit diesem Jungen. „Brüderchen“, wie sie ihn
nennen, kann sofort sprechen, vor allem aber wächst und wächst er, bald
misst er schon fünf Meter, das halbe Ensemble muss ihn stützen, als er ein
paar Meter über die Bühne stapft. Ein groteskes Wesen hat da das Licht der
Welt erblickt und wäre sofort fähig, sie in die Dunkelheit zu stürzen. Denn
der Teufel hat Brüderchen gezeugt und bietet ihm nun an, ihn zu retten.
Alles, was er dafür will, ist seine Seele.
Horror und Humor wechseln vor allem im letzten Teil dieses Abends rasch und
beständig, wenn Gockel das Geschehen immer wieder in Richtung Musical
steuert. Da stimmt dann Anja Schneider auf einem Leichenkarren das Lied vom
Rattenfänger an oder sie hüpfen allesamt in Glitzerkostümen zu Abbas Hit
„SOS“ über die Bühne.
In ihrer Aussage mag die Inszenierung pessimistisch ausfallen, bestreitet
sie doch, dass es so etwas wie einen festen Boden gibt, eine Realität, auf
die zweifellos Verlass wäre. Das Schöne ist jedoch, dass sich davon an
diesem Abend niemand die Laune verderben lassen muss. Gockel und sein
Ensemble schenken dem Theater dringlich benötigte Leichtigkeit.
31 Mar 2025
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## AUTOREN
Michael Wolf
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