Introduction
Introduction Statistics Contact Development Disclaimer Help
# taz.de -- „Hinkemann“ am DT Berlin: Keine Kraft zum Träumen
> Dieser „Hinkemann“ wird in die Theatergeschichte eingehen: Anne Lenk
> inszeniert Ernst Toller am Deutschen Theater Berlin.
Bild: Eugen und Grete Hinkemann in ihrer Box (Moritz Kienemann und Lorena Hands…
„Was sehen wir voneinander?“, fragt sich Ernst Toller 1921 im bayerischen
Festungsgefängnis Niederschönenfeld. „Ein paar Handgriffe sehe ich und ein
paar Worte höre ich.“ Toller ist 29. Er ist ein prominenter politischer
Gefangener. Im Frühjahr 1919 war er ein führender Kopf der Münchner
Räterepublik. „Nichts sehen wir voneinander. Nichts wissen wir
voneinander“, schreibt der ehemalige Kriegsfreiwillige.
Mit „Hinkemann“ schreibt der Dramatiker drei Jahre nach Ende des Ersten
Weltkrieges ein Zeitstück, das empathisch Realität und seelische Nöte eines
Weltkriegsversehrten beschreibt. Eugen Hinkemann ist 29 wie er, war vor dem
Krieg Fabrikarbeiter und glücklich verheiratet. Durch eine Schussverletzung
hat er sein Geschlecht verloren. Toller zeigt einen Menschen, der durch
diesen massiven Eingriff in sein Selbstverständnis als Mann einen
bemerkenswerten Bewusstseinswerdungsprozess durchmacht und in dem, was er
ausspricht, als Alter Ego Tollers gesehen werden kann.
So sitzt Hinkemann im zweiten Akt des Stücks in einer Kneipe und wirft
seine lebensphilosophischen Gedanken immer wieder in die politische
Diskussion. [1][Regisseurin Anne Lenk] belässt Tollers Drama in seiner Zeit
und verknüpft es gleichzeitig mit unserer Gegenwart. Tollers schnörkellose
suchende Sprache bleibt als Produkt ihrer Zeit erhalten und entwickelt auch
über hundert Jahre später eine enorme sprachliche Wucht.
Tagesaktuelle Schlagzeilen der frühen 1920er Jahre, die bei „Hinkemann“
eine ganze Szene beherrschen, werden auf den roten bis in den Schnürboden
reichenden Vorhang in der Bühnenmitte projiziert und mit den heutigen
Nachrichten vermischt.
## Die Kostüme entwickeln sich
Daniela Seligs Kostüme entwickeln sich. So sind sie in den ersten Szenen
noch ganz der Entstehungszeit des Dramas verhaftet, werden dann aber
aufgebrochen und mit Elementen heutiger Modetrends verbunden. So tauscht
Lorena Handschin als Grete Hinkemann ihre Bluse gegen ein bauchfreies Top.
Die Komplementärfarben Grün und Rot beherrschen die große Bühne des
Deutschen Theaters in Berlin. (Bühne: Judith Oswald)
So stehen vor dem riesigen tiefroten Vorhang grüne Boxen, die viel zu tiefe
Türen haben, deren Böden abschüssig sind und in denen sich die
DarstellerInnen gerade mal umdrehen können. Diese Boxen funktionieren wie
ein visuelles Brennglas der prekären Lebenssituation eines Großteils der
damaligen Bevölkerung, die in „Hinkemann“ eine Stimme bekommt.
„Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben.“ Diese
Erkenntnis stellt Toller seinem Zeitstück voran. Moritz Kienemanns und
Lorena Handschins Kostüme variieren sämtliche Grüntöne, in der
Küchenphilosophie die Farbe der Hoffnung. In der ersten Szene verschmelzen
sie mit dem Grün ihrer Küchenbox. Aber dann muss Eugen Hinkemann raus in
die feindliche Welt, einsam steht Moritz Kienemann vorm roten Vorhang, vor
ihm die Weite der leeren Bühne.
Fast überfährt ihn der in jeder Hinsicht omnipotente Budenbesitzer (Jonas
Hien) mit seinem schwarzen phallusartigen Gefährt und drängt ihm, der, wenn
er schon seine Frau nicht mehr sexuell befriedigen kann, wenigstens etwas
zur Verbesserung ihrer prekären Lebenssituation beitragen will, einen
entwürdigenden Job auf. Seine Frau beginnt währenddessen eine Affäre mit
seinem Freund. Bei Toller gibt es einen Showdown mit Gretes Selbstmord, bei
Anne Lenk und ihrem Team ein vorläufiges Happy End, lässt doch Toller
seinen Hinkemann sagen: „Die Frau hatte seine Seele lieb.“
## Vielschichtiger Schmerz
Anne Lenk und [2][Moritz Kienemann] nehmen Hinkemann hundertprozentig an.
Kienemann ist als Hinkemann das energetische Epizentrum der Inszenierung.
Vom ersten Augenblick an, als der Lichtspot ihn und Handschin in der Box
wie Insekten seziert, ist ihm diese körperlich und seelisch verwundete
Dramenfigur in Bewegung und Stimme eingraviert. Hinkemanns vielschichtigen
Schmerz übersetzt er in eine nuancierte Brüchigkeit, die von tief drinnen
kommt. Als Kienemann ins Publikum schreit „Lacht doch!“ und sein Hinkemann
meint „Lacht mich doch aus!“, entsteht im Saal eine zum Reißen gespannte
Stille, die wehtut, so greifbar nah ist einem dessen Schmerz.
Gleichzeitig ist Kienemann mit seiner weichen Körperlichkeit und seiner
sonoren Stimme wie geschaffen für diese Figur. Es scheint, als hätte
Tollers Hinkemann genau auf diesen Schauspieler gewartet. Was so auf der
Bühne entsteht, ist eine der seltenen Totalsymbiosen zwischen Figur und
Darsteller. Dieser Hinkemann wird in die Theatergeschichte eingehen.
27 Apr 2025
## LINKS
[1] /Schillers-Maria-Stuart-in-Berlin/!5722423
[2] /Familientragoedie-im-Deutschen-Theater/!6066374
## AUTOREN
Katja Kollmann
## TAGS
Deutsches Theater
Schwerpunkt Erster Weltkrieg
Theater
wochentaz
Bühne
## ARTIKEL ZUM THEMA
„Hospital der Geister“ als Theaterstück: Jeder Fortschritt ein Rückschritt
Jan-Christoph Gockel adaptiert am Deutschen Theater in Berlin Lars von
Triers „Hospital der Geister“. Dialektik der Aufklärung trifft auf
Hochkomik.
Texte von Thomas Brasch im Gorki Berlin: „Etwas, das zu mir gehört“
Mit ‚It’s Britney, bitch!‘ emanzipierte sich Lena Brasch von ihrer
Familiengeschichte. Im Maxim Gorki Berlin inszeniert sie nun Texte ihres
Onkels.
Familientragödie im Deutschen Theater: Das Stück mit den Flaschen
Eugene O’Neills „Eines langen Tages Reise in die Nacht“ wird in Berlin
gezeigt. Es ist in kurzer Zeit die vierte Inszenierung des Klassikers.
You are viewing proxied material from taz.de. The copyright of proxied material belongs to its original authors. Any comments or complaints in relation to proxied material should be directed to the original authors of the content concerned. Please see the disclaimer for more details.