| # taz.de -- Buch über Erwin Piscator: Die vierte Wand einreißen | |
| > Für den Regisseur Erwin Piscator, war Theater Ausgangspunkt politischen | |
| > Engagements. Ein Buch beleuchtet seine Arbeit aus Sicht einer Elevin. | |
| Bild: Ihr Leben lang bezeichnete Judith Malina Erwin Piscator als den Lehrer, d… | |
| Judith Malina klebt in ihr Notizbuch eine Fotografie ihres Lehrers Erwin | |
| Piscator. Sein seltener Charakterkopf ist im Halbprofil zu sehen. Die schon | |
| grauen Haare streng nach hinten gekämmt, drückt sein Blick traurige | |
| Reflexion aus. | |
| Die 19-jährige Schauspiel- und Regiestudentin beschreibt in den ersten | |
| zwölf Wochen ihres Studiums die Tage am „Dramatic Workshop of the New | |
| School of Social Research“ mit Leidenschaft und Akribie. Ihr Personenkult | |
| um Erwin Piscator, den Starregisseur im [1][Berlin der 1920er Jahre], | |
| beginnt bei ihr am 5. Februar 1945, dem ersten Unterrichtstag. Sie | |
| schreibt: „Als Erwin Piscator den Raum betrat, spürte ich sofort die | |
| Präsenz dieses Ausnahmemenschen.“ | |
| Malina, die 1951 zusammen mit ihrem Kommilitonen und Ehemann Julian Beck in | |
| New York das „Living Theatre“ gründete, sah ihr Theaterkonzept der | |
| immersiven Einbindung des Publikums ins Bühnengeschehen als direkte | |
| Weiterführung von Piscators Konzept des politischen Theaters. Piscator | |
| reißt nach dem Ersten Weltkrieg die vierte Wand zwischen Spielenden und | |
| Publikum ein, denn er ist überzeugt, dass das Theater nicht länger ein Ort | |
| der Kontemplation sein kann, sondern Ausgangspunkt politischen Engagements | |
| werden muss. | |
| 1939 Ankunft in New York | |
| Nach Exil-Stationen in der UdSSR und in Paris strandet der bekennende | |
| Kommunist 1939 in New York und gründet den „Dramatic Workshop“, nachdem er | |
| vergeblich versucht hat, am Broadway als Regisseur unterzukommen. | |
| Ihr ganzes Leben lang wird Malina, die in den 1960er Jahren mit | |
| Inszenierungen international bekannt wird, die beispielsweise einen Tag in | |
| einem US-Gefängnis eins zu eins darstellen, Piscator als den Lehrer | |
| bezeichnen, der sie geprägt hat. 2012, drei Jahre vor ihrem Tod, gibt sie | |
| ihre Unterrichtsnotizen heraus und bettet sie ein in einen | |
| subjektiv-reflektiven Text über Piscators Werdegang und die Kontinuitäten | |
| seiner Theaterpraxis bis in die Gegenwart. | |
| Endlich erscheinen ihre „Notizen zu Piscator“ auf Deutsch. Im Berliner | |
| Verlag Theater der Zeit. Frisch und spannend sind die knapp 90 Seiten | |
| Notizen aus dem Jahr 1945. Man staunt über die Vielfalt des Unterrichts von | |
| Stimmbildung, Maske, Bühnenbild, Dramenkanon, neue Stücke, Geschichte und | |
| Soziologie des Theaters, Tanz bis „Stil im Wandel der Zeit“ bei „dem | |
| kleinen Dr. Zucker“, der vor 1933 Professor in Berlin war. | |
| Malinas Aufzeichnungen haben den Charakter eines Tagebuchs. Sie sind sehr | |
| persönlich gehalten und fangen die Atmosphäre im „Dramatic Workshop“ ein. | |
| Man zoomt ran an Ort und Zeit. Beschreibt Judith Malina Zuckers | |
| kunsthistorische Vorlesungen, meint man, mit im Raum zu sein, so aufregend | |
| ist die Lektüre. | |
| Das Individuum und die Kultur | |
| 65 Jahre später resümiert die Theaterleiterin-Regisseurin-Schauspielerin in | |
| Personalunion: „Was habe ich von Paul Zucker gelernt? Das Individuum kann | |
| Kultur nie so stark beeinflussen wie Kultur das Individuum.“ | |
| Erwin Piscator unterrichtet neben Regie auch „Theaterforschung“. Nach der | |
| ersten Unterrichtsstunde am 6. Februar 1945 notiert die Schauspiel-Elevin: | |
| „Herr Piscator stellt sich das ideale Theater so vor: Das Publikum darf | |
| fordern, dass ein Wort wiederholt oder ein Satz erklärt wird. In diesem für | |
| Herrn Piscator idealen Theater möchte ich nicht auftreten.“ | |
| Immer wieder gibt es bei Malina Irritationen in Bezug auf den bewunderten | |
| Meister. Diese Reibung ist für den späten Leser extrem konstruktiv, da | |
| Malina so ihre eigenen und Piscators Positionen genau definiert. Mit | |
| Franklin D. Roosevelts Tod dringt einen Augenblick lang die Politik in die | |
| „Dramatic Workshop“-Blase. | |
| Ende April 1945 brechen die Notizen ab. Wenige Tage später ist der Zweite | |
| Weltkrieg in Europa zu Ende und Malina beschreibt im Rückblick, wie | |
| Piscator sofort seine Rückkehr nach Berlin plant und seine New Yorker | |
| Truppe, unter ihnen die gebürtige Kielerin Judith Malina, fragt, ob sie | |
| mitkommen würden an „sein Berliner Theater“. Nur: Niemand bietet ihm eine | |
| Intendanz in Berlin an. Allein kehrt er 1951 zurück. Er stirbt 1966, | |
| nachdem er mit der [2][Freien Volksbühne in Westberlin] endlich ein eigenes | |
| Haus hatte, um seine Vision vom politischen Theater zu realisieren. | |
| 8 Apr 2025 | |
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| ## AUTOREN | |
| Katja Kollmann | |
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