| # taz.de -- Welterklärer Flimmerkiste: Gegenkultur in Serie | |
| > Kaum ein Medium reagiert so schnell auf Wandel in der Gesellschaft: | |
| > Serien erklären uns die komplizierte Welt. Und trotzdem werden sie | |
| > verteufelt. | |
| Bild: Macht, Geld, Erpressung – Wer „Game of Thrones“ sieht, könnte die … | |
| Wer liest, dem wird das selten vorgeworfen: „Süchtige“ oder | |
| „Prokrastinierer“. Der Ruf des Lesens ist noch nicht ruiniert, der des | |
| Glotzens umso mehr. Lesen bildet, [1][Glotzen] macht dumm. | |
| Diese erzkonservative Vorstellung, die im Fernsehen Opium des Volkes sieht, | |
| im Buch allerdings das Gute, Wahre und Schöne, sitzt so tief, dass den | |
| meisten Leuten eins entgeht: Seit fast 20 Jahren sind es die TV-Serien, die | |
| Konflikte, Kriege und Dynamiken in individuellen, politischen, | |
| gesellschaftlichen, familiären und geschlechtlichen Beziehungen auf der | |
| Höhe der Zeit verhandeln. | |
| Selbstverständlich gibt es allerlei Mist, aber auch nicht mehr, als es | |
| miserable Romane gibt. Der Vorteil einer Serie ist, dass die Autoren und | |
| Serienmacher nach einer Staffel auf die Zuschauer reagieren können. Das war | |
| schon beim „Denver Clan“ so, dessen berühmteste Figur Alexis Colby erst in | |
| der 14. Folge mit dem Titel „Enter Alexis“ eingeführt wird, weil die | |
| Zuschauer mehr Drama und mehr Frauen sehen wollten. | |
| Ab etwa Ende der Neunziger spricht man von Qualitätsserien, vor allem wegen | |
| der Mafia-Serie „The Sopranos“. | |
| ## Öl, Macht und Familienidyll | |
| Ihr Qualitätsmerkmal: Das Personal folgt keinem Gut/Böse-Schema mehr, | |
| gezeigt werden vielschichtige Persönlichkeiten und Macht- und | |
| Beziehungsabhängigkeiten, wie man sie bis dato nur aus Romanen kannte, und | |
| das Ganze auch noch in Form von Dialogen, die zu Bonmots werden. | |
| Serienfiguren wie Tony Soprano werden zu Zitatlieferanten für politische | |
| Kommentatoren, weil sie auf den Punkt bringen, was sonst nur gewitzte | |
| Schulhofjungs können. | |
| Die Entwicklung der TV-Serien lässt sich grob in folgende Phasen | |
| unterteilen: In den Achtzigerjahren, Zeit der Öl- und Wirtschaftskrise, | |
| ging es einerseits ums große Geld, um voyeuristische Einblicke in die | |
| Milieus der Superreichen und deren Abgründe („[2][Dallas]“, „Denver Clan… | |
| „Das Erbe der Guldenburgs“). | |
| Auf der anderen Seite kamen die sympathischen Kleinfamilien mit ihren | |
| Schrullen und Problemchen ins Bild, die den tristen Alltag meist | |
| komödiantisch versüßten („Alf“, „Bill Cosby Show“, „Lindenstraße�… | |
| In den Neunzigern, den Jahren nach dem Ende des real existierenden | |
| Sozialismus, ist es zuerst eigenartig ruhig im Fernsehen. Außer dem zu Kult | |
| werdenden Psychodrama „Twin Peaks“ passiert jahrelang nichts Neues. | |
| ## Gleichberechtigung und Sicherheitsängste | |
| Dafür aber im zweiten Teil der Neunziger jede Menge: Geschlechterrollen und | |
| Feminismus werden durch „Sex and the City“ zum Thema, über das alle reden, | |
| mit „The West Wing“ wird die Mutter aller Weißes-Haus-Serien gedreht, der | |
| nachgesagt wird, durch ihre sympathischen Figuren den US-Bürgern wieder | |
| Lust auf Politik und Veränderung gemacht und letztlich die Wahl Obamas | |
| ermöglicht zu haben. Außerdem wird mit „The Sopranos“ das Genre Mafiafilm | |
| auf eine Serienebene gehoben, die bis heute als Maßstab aller großen | |
| Familien- und Politdramen gilt. | |
| Nach dem Attentat 9/11 spielen einerseits Angst, Sicherheit und Terrorismus | |
| die größte Rolle („24“), das Thema Geschlechter erfährt durch „[3][Gir… | |
| ein Update. Andererseits wird mit dem Genre Serie immer weiter | |
| experimentiert und bringt mit „The Wire“ das großartigste | |
| Gesellschaftsporträt einer US-amerikanischen Stadt im 20. Jahrhundert | |
| hervor. Die Darstellung von Herrschaft, Rassismus, Korruption, | |
| Drogenbusiness und Gewalt ist so brillant in Szene gesetzt, dass der | |
| Vergleich mit Balzac unbedingt richtig ist. | |
| In den 2010er-Jahren setzt sich mit Serien wie „Homeland“ das Thema | |
| Sicherheitsapparat und der westliche Blick auf Muslime durch. Und es | |
| beginnt erneut die Phase der großen Politthriller rund um das Weiße Haus | |
| wie „House of Cards“ oder „Designated Survivor“. | |
| Neu an diesen Serien sind nicht die Intrigen, die Korruption, die | |
| Kaltblütigkeit, mit der in Sicherheits- und Behördenkreisen Macht gespielt | |
| wird. Das Neue ist, dass die Geschlechterrollen immer auch eine Hauptrolle | |
| spielen als wichtiger Teil der großen Konflikte. Immer mehr Serien | |
| beschäftigen sich auf verschiedenen Ebenen mit Geschlechterfragen („The | |
| L-Word“, „Transparent“, „Orange is the New Black“). | |
| ## Selbst „True Blood“ ist pädagogisch wertvoll | |
| In Europa starten Versuche, kontinentale Serien zu drehen, die die Einheit | |
| Europas inszenieren – zumindest was Zusammenarbeit zwischen Kriminellen, | |
| Polizei- und Ermittlungsbehörden angeht und damit aber auch persönliche | |
| Schicksale („The Last Panthers“, „Die Brücke“, „The Team“) | |
| In den letzten 20 Jahren bemühten sich TV-Serien immer mehr darum, | |
| festgelegte Rollen zu hinterfragen. Jeder Netflix-Abonnent kann heute | |
| wissen, dass unsere Gesellschaften nicht aus einfachen Mustern bestehen, | |
| dass Macht nicht nur da dreckig ist, wo es um viel Geld oder Staat und | |
| Regierung geht. Ja, selbst Serien, die vordergründig von Vampiren oder | |
| Klonen („[4][True Blood]“, „Orphan Black“) handeln, halte ich für poli… | |
| und pädagogisch wertvoll. | |
| Die Welt der TV-Serien ist das beste Gegengift gegen die | |
| Welterklärungsmodelle von Pegidisten und AfDisten, für die alles immer ganz | |
| einfach ist. | |
| 24 May 2017 | |
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| Doris Akrap | |
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