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# taz.de -- Propaganda in den Medien: Die „neue Türkei“
> Klassische und soziale Medien kreieren ein neues Bild der Türkei. Dafür
> wird eine aufwändige Desinformationspolitik betrieben.
Bild: Damit Erdogan weiter gefeiert wird, setzt die AKP auf eine Desinformation…
Der türkische Staatspräsident ist ein ambitionierter Mann. Alles soll unter
seiner Regentschaft anders werden und der türkische Staat, gegründet 1923,
in dieser Form nicht mehr existieren. Um dieses Ziel zu erreichen, verfolgt
die autokratische [1][AKP-Regierung] die Strategie ihre Sicht auf die
türkische Geschichte und Gegenwart unter das Volk zu bringen. Hierzu wird
eine aufwendige Desinformationspolitik betrieben.
Das hundertjährige Jubiläum der Republik fungiert als archimedischer Punkt,
der das Land auf die Ebene der „Neuen Türkei“, einer Synthese aus Machismo,
Hyperreligiösität und Hypernationalität, führen soll. Daher gibt es auch
keine Rede des Staatspräsidenten ohne die Nennung der magischen Jahreszahl
2023.
Die „Neue Türkei“ braucht Zahlen, Farben und Symbole, um sich von der
Türkei Atatürks abzugrenzen. Die bisher erfolgreiche Erzählung, “Wir sind
die Opfer der kemalistischen Eliten“, zählt seit der Entmachtung des
Militärs und dem Putschversuch nicht mehr. Der neue Slogan lautet: „Wir
sind Enkel der mächtigen Osmanen.“
Zugpferd der Desinformationsstrategie ist die Medienkonzentration der
regierungsfreundlichen [2][Medienhäuser]: allen voran Staatssender TRT, die
Nachrichtenagentur Anadolu und die unzähligen Privatsender und Zeitungen.
Propaganda – sie nennen es „ihre Version der Geschichte“.
Nach den Gezi-Protesten, als das Narrativ des starken Staats per
millionenfacher Tweets unter Beschuss stand, weitete die AKP ihre Hoheit
umgehend auf die sozialen Medien aus. So wurde in der Nacht des
Putschversuchs im Juli 2016 das Internet nicht wie bei vorhergehenden
schrecklichen Ereignissen gesperrt – ein probates Mittel, um unliebsame
Berichterstattung zu verhindern. „Sie wollten, dass wir berichten“ lautet
die Einschätzung einer deutschen Kollegin aus Ankara.
Waren vor Jahrzehnten noch klassische Medien wie das Radio oder das
Staatsfernsehen Instrumente der Staatsmacht, bedient sich die AKP-Regierung
der Macht der sozialen Medien. PR-Firmen wie Bosphorus Global versuchen mit
mehreren Twitteraccounts wie „FactcheckingTR“, die Berichterstattung zur
Türkei im Sinne der Regierung zu beeinflussen.
Unter anderem bieten sie ein eigenes Factchecking zum [3][Wikipedia-Verbot]
der türkischen Kommunikationsbehörde an. Wer hinter der PR-Agentur steckt,
ist auf den ersten Blick unklar, da auf ihrer Internetseite kein Impressum
vorhanden ist. In der Türkei hat auch die Methode der Broschüren Bestand.
Nach dem vereitelten Putschversuch 2016 steckte in der Reihen der
nationalen Fluglinie Turkish Airlines ein kostenloser Fotoband der
Nachrichtenagentur Anadolu. Auf 47 Seiten wird der Aufstand des Volkes
gegen den Putsch verherrlicht und eine eigene Version von „Wir sind das
Volk“ zelebriert. Im März diesen Jahres wurde in eine Werbebeilage der FAZ
die Türkei gefeiert, unter anderem von Ex-Bild-Chefredakteur Kai Diekmann,
der die Weltoffenheit und Köfte lobte.
## Botschaft einer starken Nation
Der Weg der türkischen Regierung, die Deutungshoheit in seiner Außenwirkung
zurückgewinnen zu wollen, führt auch über ausländische
Berichterstatter*innen. So berichten auf Einladung der türkischen Regierung
amerikanische Journalist*innen über eine Butterfahrt, die eigentlich
Interviews mit hochrangigen Politikern aus der Führungsriege versprach.
Stattdessen lud der Bürgermeister von Ankara, Melih Gökcek, zum Abendessen
und hielt einen Vortrag über das falsche Türkei-Bild westlicher Medien.
Einen Schritt weiter ging die Regierung mit der gezielten Platzierung von
Fake-News. Am 11. Mai 2017 wurde Frank Kaiser, Mitarbeiter der Deutschen
Handelskammer in der Türkei, in einer Werbebeilage der FAZ mit dem Satz,
„Das Potenzial des Landes ist bei Weitem noch nicht ausgeschöpft“, zitiert.
Das ganzseitige Interview erschien unter dem Slogan „Turkey – discover the
potential“ – erstellt im Auftrag des türkischen Wirtschaftsministeriums.
Kaiser lässt Tags darauf in derselben Zeitung verkünden, sein Porträtfoto
sei am Rande einer Veranstaltung entstanden und die Gesprächsfetzen
stammten aus vorhergehenden Interviews. Der Schaden durch „Fake News“ für
das Ansehen der türkischen Regierung ist gering. Denn es geht allein um den
Auftrag: platziere unsere Botschaft einer starken Nation. Egal wie.
Wie schafft man also eine Gegenöffentlichkeit?
## Neue Nachrichtenportale entstehen
Kritiker*innen im eigenen Land werden im besten Fall in die
Arbeitslosigkeit gedrängt und im schlimmsten in die Gefängnisse. Dazu
gehören auch ausländische Journalist*innen wie Deniz Yücel, Mesale Tolu,
der Fotojournalist Mathias Depardon sowie [4][Gabriel Del Grande], der
inzwischen wieder frei ist. Allerdings schaffen es Medienschaffende selbst
unter diesen Umständen, Schlupflöcher für kritische Stimmen zu öffnen.
Klassische Printmedien wie Cumhuriyet, Birgün oder Evrensel machen sich mit
geringer personeller wie finanzieller Ausstattung nach wie vor stark für
die oppositionellen und ungehörten Stimmen des Landes. Dazu gehören
oppositionelle Journalist*innen und Nachrichtenportale, die über das
Internet oder soziale Medien immer wieder versuchen, Nachrichten zu
verbreiten.
So wie Medyascope, einem Webportal, welches politische und
gesellschaftliche Themen im Videoformat abbildet – täglich und sogar in den
Sprachen Kurdisch, Englisch und Deutsch.
HaberSIZsiniz ist eine weitere von auftragslosen Journalist*innen
gestartetes Nachrichtenportal. Unter der Leitung der mit dem
Henri-Nannen-Preis ausgezeichneten Journalistin Banu Güven verbreitet das
Medium über Twitter und Periscope Live-Videos von Demonstrationen und führt
Interviews mit Oppositionellen.
## Handykameras als Beweismittel
Nicht zu unterschätzen ist die Rolle der Bürgerreporter*innen. Sie sind
diejenigen, die ihre Handykameras als Beweismittel nutzen. Vor allem in den
kurdischen Regionen der Türkei sind sie unerlässlich. Das Webportal
[5][Ekmek ve Gül], eine von Frauen gegründete und geführte Medienplattform,
bezieht seine Nachrichten vor allem aus dem Alltag der Frauen, die ihre
Themen mit der Redaktion von Ehrenamtlichen setzen.
„Wir arbeiten ständig unter Strom“, erklärt eine Journalistin aus Ankara.
Bloß schnell das Foto schießen, ein paar Notizen machen und weg. Jeder Tag
mit einer veröffentlichten Nachricht sei ein guter Tag. Die Art des
Arbeitens habe sich verändert: man teile sich seinen Laptop, wenn das Gerät
des Kollegen von der Polizei eingezogen wurde.
Ein Netzwerk aus Kolleg*innen, denen man vertrauen kann, sei unerlässlich.
Sicherheitsstandards, die den europäischen und amerikanischen Kolleg*innen
in erster Linie vorschwebten, wie etwa verschlüsselte Kommunikation sei
deshalb zweitrangig. Angesichts der Willkür, mit der die Regierung gegen
die Journalist*innen vorgehe, sei vordergründiger Schutz wie
Verschlüsselungen, wenig hilfreich.
Sie sind aber nicht die einzigen, die sich für Gegenöffentlichkeit
engagieren. So wie Yaman Akdeniz, Justizprofessor und Internetaktivist.
Schon wegen ihres Berufs können diese Fachpersonen eine beträchtliche
Anzahl an Followern vorweisen und können mit ihrer Vernetzung in die
intellektuelle Sphäre des Landes eine Gegenöffentlichkeit bilden.
## Vernetzung und Empowern
Besonders beeindruckend ist die Mobilisierung von Bürger*innen, die sich
per App an der Auszählung der Wahlzettel beim Referendum beteiligten und
nach dem Wahlausgang zu Tausenden die Stimmprotokolle abfotografierten. Die
App der NGO „Oy ve Ötesi“ (Stimmen und mehr), die sich bereits bei den
vorhergehenden Wahlen als Bürgerplattform einen Namen gemacht hatte, hat
eine kurzfristige, aber visuell präsente Gegenöffentlichkeit geschaffen.
Vernetzung, Solidarität und gegenseitiges „Empowern“ sind nicht nur in der
Türkei ein probates Mittel, um sich gegen die überbordende Desinformation
zu wehren. Transnationale Nachrichtenplattformen wie bianet, ArtiGercek,
Özgürüz, Gözkulak und natürlich auch taz.gazete.
Sie fungieren als türkische und deutschtürkische Nachrichtenplattformen aus
Deutschland deshalb nicht nur als reine Verbreitungsnetzwerke, sondern sind
auch ein stützendes und solidarisches Gegengewicht für die Kolleg*innen in
der Türkei und anderswo. Wie formulierte es Idil Baydar aka Jilet Ayse auf
dem Raki-Tafelgespräch beim taz.lab 2017 so schön? „Wir sind Alliierte.“
25 May 2017
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## AUTOREN
Canset Icpinar
Ebru Tasdemir
Ebru Tasdemir; Canset Icpinar
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