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# taz.de -- taz-Berichterstattung Ruanda: „Vom Völkermord berichten“
> Was bedeutet Gegenöffentlichkeit, wenn Menschen abgeschlachtet werden?
> Ein Rückblick auf die taz-Berichterstattung über Ruanda.
Bild: 1994 geschah ein Völkermord in Ruanda vor den Augen der Politik – und …
Als der [1][Völkermord in Ruanda] begann, war die internationale
Medienöffentlichkeit nicht vorbereitet – auch die taz nicht. Da war am
Abend des 6. April 1994 ein Flugzeug, in dem die Präsidenten Ruandas und
Burundis saßen, über der ruandischen Hauptstadt abgestürzt – aber war das
ein Unfall oder ein Attentat, und wenn letzteres, von wem?
Da gab es nächtliche Truppenbewegungen und Berichte über Verhaftungen, am
nächsten Tag eine Reihe politischer Morde und offensichtlich eine Art
Machtergreifung durch Teile des Militärs; die Premierministerin Agathe
Uwilingiyimana wurde von Regierungssoldaten ermordet, ebenso die zu ihrem
Schutz abgestellten belgischen UN-Soldaten – aber was genau war da los?
Man wusste: die Lage in Ruanda ist angespannt. Das Land „klirrt vor
Waffen“, hatte taz-Korrespondentin [2][Bettina Gaus] wenige Monate vorher
in Kigali festgestellt. Das Friedensabkommen zwischen der Regierung des
Hutu-Präsidenten Juvénal Habyarimana und der Tutsi-Guerilla RPF (Ruandische
Patriotische Front) aus dem Jahr 1993 wurde nicht umgesetzt, es gab immer
wieder politische Morde.
Mindestens genauso brenzlig erschien damals die Lage im Nachbarland
Burundi, wo ein Putschversuch von Tutsi-Soldaten gegen den ersten
freigewählten Hutu-Präsidenten im Oktober 1993 zu Blutvergießen geführt
hatte. Der Tod des nachfolgenden burundischen Übergangspräsidenten beim
Flugzeugabsturz vom 6. April 1994, fürchteten Kenner, könnte zu Krieg in
Burundi führen.
Was also? Die offizielle Politik gab sich ahnungs- und ratlos, bestätigt
von ebenso ahnungs- und ratlosen Medien. Gegenöffentlichkeit hieß damals:
selber nachsehen. 1994 gab es in Ruanda und auch in der taz noch kein
Internet.
Die einzigen Nachrichten in Echtzeit waren die Meldungen der deutschen
Dienste der Nachrichtenagenturen, die in Papierform aus dem Fernschreiber
krochen, auf dünnen Telexpapierrollen mit blauem Rand. Ansonsten konnte man
Zeitung lesen oder Radio hören.
Die taz schickte also ihre Ostafrika-Korrespondentin Bettina Gaus los –
erst nach Burundi, um von dort aus weiter zu kommen. Als Erstes traf sie
auf die aus Ruanda evakuierten weißen Ausländer.
„Aus den Bruchstücken verschiedener Berichte und Informationen ergibt sich
ein Szenario des Grauens“, berichtete sie in der taz am 11. April.
## „Stammeskrieg“ statt Völkermord
„Zerstückelte Leichen sollen überall in den Straßen liegen. Augenzeugen
berichten, wie die Einwohner ganzer Viertel von Militärs zusammengetrieben
und mit Salven aus Maschinenpistolen niedergemäht wurden.
In anderen Fällen sollen Hausangestellte, die zur Minderheit der Tutsi
gehören, vor den Augen ihrer europäischen Arbeitgeber aus den Häusern
gezerrt und erschossen worden sein. 'Letzte Nacht sind in Kigali alle Tutsi
und alle Oppositionellen, die man finden konnte, ermordet worden“, sagt ein
Diplomat in Burundis Hauptstadt Bujumbura.
Insgesamt schätzt das Internationale Rote Kreuz die Zahl der Todesopfer auf
mehr als 10.000.“ Es dauerte bis zum 27. April, bis in der taz das Wort
„Völkermord“ in Bezug auf Ruanda auftauchte. Von „Krieg“, von „Schla…
von „Massakern“ war ansonsten in der taz die Rede – allerdings nicht von
„Stammeskrieg“, damals in Deutschland noch ein gängiger Begriff für
afrikanische Konflikte, die man nicht verstand.
Dass es Massaker gab, war schnell klar. Ihr Ausmaß nicht – aber das spätere
Ausmaß darf nicht verbergen, dass das Problem des Umgangs damit sich gleich
zu Beginn stellte. Dass niemand gegen das Morden eingriff, weil die für den
Völkermord verantwortliche Regierung kein Eingreifen anforderte,
kommentierte der Autor dieser Zeilen schon am 9. April mit den Worten „Als
ob Ruanda nicht auch ein Volk hat, das Schutz vor Verbrechern verdient.“
## Ein Massaker ohne Bilder und Namen
Ab dem 11. April drangen die Berichte über gezielte Massaker von Dorf zu
Dorf, Hügel zu Hügel, unerbittlich nach draußen. Bettina Gaus reiste aus
Burundi über die Grenze in den ruandischen Süden, nach Butare, und
beschrieb die Angst vor der nahenden Gewalt. Als sie wiederkam, zehn Tage
später, waren ihre Gesprächspartner tot. Alle. „Vom Völkermord berichten“
stand über ihrer Reportage in der taz am 29. April. Die Unterzeile: „Die
Massaker in Ruanda vollziehen sich fast ohne Bilder, ohne Öffentlichkeit,
ohne Namen.
Was heißt „Gegenöffentlichkeit“, wenn Menschen abgeschlachtet werden? Es
gibt heute in Deutschland Menschen, die als Ruanda-Experten behaupten, der
Völkermord sei weder geplant gewesen noch habe es dafür überhaupt eine
Vorbereitung gegeben, oder sogar, seine Täter hätten aus nachvollziehbaren,
sozusagen rechtschaffenen Motiven gehandelt, zum Selbstschutz.
Entweder kannten diese Experten damals Ruanda nicht und argumentieren heute
aus Unwissenheit – oder sie kannten damals die Mörder und schützen sie
heute. Sie geben ihre Thesen als „Gegenöffentlichkeit“ aus, die einer
„offiziellen Wahrheit“ oder einem „offiziellen Narrativ“ eine kritische
Sicht entgegenstelle.
Aber vor 23 Jahren bedeutete „kritische Gegenöffentlichkeit“ in Bezug auf
Ruanda, genau solche Thesen – die es damals auch gab, ventiliert von den
Mördern selbst und ihren Freunden – zu durchbrechen und die Realität in den
Vordergrund zu stellen: die Realität des Massenmords, seiner Systematik und
seines Ausmaßes.
## Wo beginnt Voyeurismus?
Wobei auch das schon schwer genug war. Die einfachsten Recherchefragen – wo
hinfahren? mit wem reden? was glauben? – lassen sich in jedem Kriegsgebiet
ohnehin nur praktisch beantworten, nicht grundsätzlich. In einem
Völkermordgebiet ist schon die praktische Antwort kaum gegeben. Und eine
solche Realität zu schildern, lässt niemanden kalt.
„Die Frage nach der Funktion von Journalismus im Angesicht eines
Völkermordes, dem niemand Einhalt gebieten kann, ist schwer zu beantworten.
Was ist Chronistenpflicht, wo beginnt der Voyeurismus?“ schrieb Bettina
Gaus am 29. April 1994.
Es gibt auf diese Frage keine Antwort, jedenfalls keine, die über die
jeweilige Situation hinaus weiterhilft. Der taz ist es allerdings bis heute
ein Anliegen, zu sagen, wer 1994 in Ruanda Täter war und wer Opfer. „Es
gibt in Ruanda, wie überall, Täter und Opfer, Verantwortliche, die Befehle
erteilen, und Untergebene, die sie ausführen“, kommentierte der Autor
dieser Zeilen am 13. April unter der Überschrift „Ruanda ist keine
Naturkatastrophe!“
Das hat nichts mit mangelnder Objektivität oder journalistischer
Neutralität zu tun, sondern damit, sich an Fakten zu halten und diese auch
dann zu benennen, wenn damit Schuldzuweisungen einhergehen.
## Es gilt: Selber nachsehen
Allzu oft wird heute „journalistische Neutralität“ damit verwechselt, in
einem Konflikt alle Parteien gleichzusetzen. Berichte über
Menschheitsverbrechen in Syrien heute werden beispielsweise gern mit dem
Zusatz relativiert, die Angaben seien „von unabhängiger Seite nicht zu
überprüfen“ – eine perfide Argumentation, mit der man jedes Verbrechen
anzweifeln kann, denn wenn die Aussagen von Betroffenen unmaßgeblich sind,
was gibt es dann überhaupt zu überprüfen?
Und wenn nur das stimmen kann, was ein Journalist direkt sieht, wird jede
Kriegsberichterstattung unmöglich, außer man geht als Verlagshaus über
Leichen. Heute, im Zeitalter des Internets und der sozialen Netzwerke, kann
jeder alles behaupten, egal ob es stimmt oder nicht. Und der Ruf nach
„Gegenöffentlichkeit“ bedeutet in diesem Kontext oft, zu fordern, einer
bezeugten Tatsache einfach das Gegenteil gegenüber zu stellen und zu
behaupten, das sei genauso plausibel.
Jeder Propagandist, der auf sich hält, bezeichnet sein Gegenüber heute als
„[3][Fake News]“ und versucht damit, es zu diskreditieren. Die
Chronistenpflicht als solche wird damit in Frage gestellt: warum teures
Geld dafür ausgeben, Reporter ins Schlachtfeld zu schicken, wenn im Netz
sowieso schon alles voll ist und die genauen Einzelheiten egal sind? Thesen
sind doch viel vergnüglicher zu lesen als Fakten.
Mehr denn je heißt Gegenöffentlichkeit heute also: Selber nachsehen.
Insofern hat sich seit 1994 weniger geändert, als man denken könnte.
24 May 2017
## LINKS
[1] /21-Jahre-Voelkermord-in-Ruanda/!5013788
[2] /Bettina-Gaus/!a38/
[3] /Fake-News-Social-Bots-Hate/!5393134
## AUTOREN
Dominic Johnson
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