# taz.de -- Verschwörungstheorie im Kommunismus: Wissen, wer hinter allem stec… | |
> Wie mit alternativen Fakten umgehen? Die Bürger der Sowjetunion kannten | |
> sich damit aus. Für sie gehörten Verschwörungstheorien zum Alltag. | |
Bild: „Verschwörungstheorien, wie sie dem Kreml auch heute noch treue Dienst… | |
Als ich zum letzten Mal die Öffentlichkeit bewusst belogen habe, war ich 19 | |
Jahre alt und stand kurz vor dem Rausschmiss aus meiner Moskauer | |
Hochschule. | |
Im Pflichtfach Zivilschutz hatte ich alle Seminare geschwänzt, bis sie mich | |
aus der Kommunistischen Jugendunion ausschließen und exmatrikulieren | |
wollten. | |
Aber sie gaben mir noch eine Chance zu beweisen, dass ich doch ein guter | |
Komsomolze war. Ich sollte eine Politinformation durchführen. Es war das | |
Jahr 1983, in dem ein sowjetischer Abfangjäger eine zivile Boeing 747 der | |
Korean Air Lines abschoss, die sich in den Luftraum der UdSSR verirrt | |
hatte. | |
Darüber sollte ich die Kommilitonen politisch „informieren“. Ein Dutzend | |
Studenten, die lieber nach Hause gehen wollten, hörten mir zu, wie ich den | |
Mord an 269 Menschen rechtfertigte. | |
## Verschwörungstheorien für links und rechts | |
Ich erzählte, dass die CIA die Navigationsgeräte der Boeing manipuliert | |
hatte, damit sie über die Sowjetgrenze flog. Um „unsere“ Luftabwehr zu | |
testen, hätten die USA den sicheren Tod von Zivilisten in Kauf genommen. | |
Das war eine Verschwörungstheorie, wie sie dem Kreml auch heute noch treue | |
Dienste leisten. 2014, als wieder eine zivile Boeing, diesmal über dem | |
Donbass, abgeschossen wurde, waren wieder Verschwörer schuld. Die Ukrainer | |
hätten das Flugzeug vom Himmel geholt, um die Tat Russland in die Schuhe zu | |
schieben. Solche Lügen, ob sie aus meinem Geburtsland stammen oder nicht, | |
finden weltweit Millionen Mitstreiter, die Verschwörungsgläubigen. | |
1983 glaubten manche antiimperialistischen Linken, ein US-Kriegsschiff habe | |
die koreanische Boeing abgeschossen. Unter den Rechtsextremen kursierte | |
damals die Theorie, das wahre Ziel war ein antikommunistischer | |
Kongressabgeordneter, der an Bord der Unglücks-Boeing starb. Dazu gesellten | |
sich Stimmen, die behaupteten, einige Passagiere hätten überlebt oder wären | |
von gigantischen Krabben aufgefressen worden. | |
Der [1][Verschwörungswahn] ist an sich weder links noch rechts, doch wenn | |
er von links kam, traf es uns in der Sowjetunion besonders hart. | |
## Tonfall eines beleidigten Besserwissers | |
Wir fühlten uns verraten, den Lügen schutzlos ausgeliefert, wenn sie im | |
Westen geglaubt wurden. Dort wurde niemand gezwungen, auf Parteisekretäre | |
zu hören, keine Staatssicherheit verhaftete einen, weil man falsche Bücher | |
gelesen hatte. Weder in ihrer Schule noch an der Universität oder während | |
der Betriebsversammlung musste man erklären, dass für alle Übel der Welt | |
die Imperialisten verantwortlich sind. | |
Wer muss man denn sein, um das freiwillig zu tun? Das fragten wir uns und | |
hatten ja keine Ahnung von der freien Welt und ihren Zwängen. | |
Als etwa die westdeutschen Spießer den Lügenverstehern gesagt hatten, geht | |
doch rüber, hatten sie uns nicht gefragt. Wir konnten sie nicht brauchen. | |
Dieses Wir war damals noch eine Minderheit im Sowjetblock, die bald so | |
stark wurde, dass sie das sowjetische Gebilde zum Einsturz brachte. Die | |
Andersdenkenden wie Alexander Solschenizyn oder Václav Havel wollten „in | |
der Wahrheit leben“. Mit der Lüge diskutierten sie nicht. | |
Der Verschwörungsvirus ist ansteckend. Wer Verschwörungstheorien erzählt, | |
wechselt notgedrungen in den Tonfall eines beleidigten Besserwissers, den | |
[2][Ken Jebsen] oder [3][Jürgen Elsässer] so meisterhaft beherrschen. Mit | |
diesem unsichtbaren Augenzwinkern trug auch ich meine „Politinformation“ | |
vor: Wir wissen ja, wer hinter allem steckt. Ich zeichnete auf der Tafel | |
die Positionen und Reichweiten jener Satelliten, die „unsere“ | |
Luftverteidigung ausspioniert haben sollten. Auch ein Space Shuttle flog | |
dort gerade vorbei, natürlich ein Zufall. | |
## Wenn der Aufpasser in der letzten Reihe sitzt | |
Als ich die Lügen in all ihrem Detailreichtum schilderte, hätte ich sie | |
fast selbst geglaubt. Meine Zuhörer aber gähnten. Man hätte denken können, | |
dass gerade die Untertanen in Diktaturen besonders anfällig für | |
Verschwörungslügen sind. Bei uns stimmte das nicht. Wir brauchten keine | |
Verschwörung, um die Macht der Partei und der Staatssicherheit | |
nachvollziehen zu können. Spinnereien über UFOs waren im Realsozialismus | |
nichts mehr als Ablenkung von der Realität, die für alle unverkennbar da | |
war. | |
Alle machten gar Witze darüber, dass in der Parteizeitung namens Prawda | |
(„Wahrheit“) nur Lügen standen und das Fernsehen ein Fake war. | |
Unbestreitbar real aber war der sowjetische Krieg in Afghanistan, der in | |
den Nachrichten kaum vorkam. In diesen Krieg hätten sie mich nach der | |
Exmatrikulation geschickt, sobald ich meine Freistellung als Student | |
verloren hätte. Das wollte niemand, nicht einmal unser Parteikurator, der | |
während der „Politinformation“ in der letzten Reihe einen Krimi las. „Bis | |
in einer Woche“, verabschiedete sich der Kurator danach. Ich hatte meine | |
Wehrdienstbefreiung also noch nicht verdient. | |
Das Leben in einer Parteidiktatur ist die wahr gewordene | |
Verschwörungstheorie. Eine der unangenehmen Folgen ist, dass wir damals die | |
ganze Welt durch eine Verschwörungsbrille sahen, überall die Intrigen des | |
KGB und seine nützlichen Idioten vermuteten. Das stimmte ja, den KGB gab es | |
wirklich, und die Idioten auch. Nur hatte der KGB mit den meisten nichts zu | |
tun. | |
## Mit wem geht Globalisierung ins Bett? | |
Die Zwänge meiner Freiheit sind schwer greifbar. Wie heißt Neoliberalismus | |
mit Vornamen, mit wem geht Globalisierung ins Bett? Für manche Menschen | |
scheinen die unpersönlichen Kräfte schwerer auszuhalten als diese klare und | |
ehrliche Unterdrückung, die wir im Realsozialismus erlebt hatten. | |
Alternativ war einst, mit Marx die Macht der Märkte zu analysieren, oder | |
mit Foucault die Macht des Diskurses. Alternativ heute ist, an die simple | |
Macht der Bilderberg-Verschwörung zu glauben oder an eine geheime Elite, | |
die den freien Diskurs unterdrückt. Solche Alternativen scheinen sich | |
jedenfalls nur eine Welt vorstellen können, die von einer autoritären Elite | |
oder Finanzclique oder einem Politbüro beherrscht wird. Gibt es das nicht, | |
stehen sie hilflos und leidend da, bis sie eine heilende Verschwörung | |
erfinden. | |
Eine geheime Diktatur der Superreichen oder eine Verschwörung des | |
Weltjudentums oder der liberalen Elite. Egal ob links oder rechts, der | |
Traum ist immer autoritär. Sie reihen sich hinter all den Trumps und Putins | |
ein, weil sie die Ungewissheit der Freiheit nicht ertragen können: | |
Freiwillige Untertanen auf der Suche nach Führern. Als unfreiwilliger | |
Untertan der kommunistischen Führer musste ich so tun, als würde ich die | |
alternativen Fakten ernst nehmen. | |
In eine ähnliche Lage kommen heute diejenigen, die mit den 9/11-Truthern | |
oder Klimaskeptikern diskutieren müssen. Sie haben immer bessere Fakten, | |
auch wenn es um wissenschaftliche Erkenntnisse geht. Etwa die | |
[4][Klimawissenschaftler lügen], weil sie von irgendeiner Elite manipuliert | |
seien, end of discussion. Die wunderbare Wunderlösung der Bonner Republik – | |
miteinander reden – hilft heute nicht mehr. Und vor drei Jahrzehnten in der | |
Sowjetunion hätten sie mich fürs Diskutieren nach Afghanistan geschickt. | |
## Wahr gewordene Verschwörungstheorie | |
Zu meiner zweiten „Politinformation“ war der Kurator nicht gekommen. Als | |
ich zu erzählen begann, schauten meine Zuhörer aus dem Fenster, bald aber | |
sah ich immer mehr Augen, die ungläubig zu mir blickten. Dann sprang der | |
Komsomolsekretär von seinem Platz auf und ging. Gleich kam er zurück, | |
zusammen mit dem Parteikurator, der sich wieder in die letzte Reihe setzte. | |
Er schaute auf die Tafel, auf der ich gerade eine Scheibe, eine Kugel und | |
einen dünnen Zylinder gezeichnet hatte. Unbekannte Flugobjekte treten in | |
diesen Formen auf, erzählte ich, wie neulich in unserem Petrosawodsk. Der | |
Kurator unterbrach meine UFO-Beobachtungen. Die „Politinformation“ sei | |
beendet, sagte er, alle können gehen. Der Komsomolsekretär war wütend, weil | |
ich seinen politischen Glauben nicht ernst nahm. | |
Doch, sagte ich, so wie die Geschichte mit dem angeschossenen Flugzeug. | |
Dem Kurator war natürlich klar, dass ich die offiziellen Theorien | |
lächerlich machte, er konnte aber keinen Skandal brauchen. Also schickten | |
sie mich damals nicht nach Afghanistan und meine Kommilitonen nicht mehr in | |
„Politinformationen“. Unsere Sowjetunion, die wahr gewordene | |
Verschwörungstheorie, war in ihren späten Jahren nicht ganz so tödlich wie | |
die heißen Träume heutiger Verschwörungsgläubigen. | |
31 May 2017 | |
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## AUTOREN | |
Boris Schumatsky | |
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