# taz.de -- Aus Le Monde diplomatique: Der paranoide Bürger | |
> Verschwörungstheorien sind en vogue: Sie mobilisieren Demonstranten, | |
> verbinden Politiker mit Anhängern und entscheiden über den Ausgang von | |
> Wahlen. | |
Bild: Verschwörungstheorien produzieren Zombies, die nicht willens sind, ihre … | |
Sollen wir die Selbsthilfegruppe „Anonyme Anhänger von | |
Verschwörungstheorien“ gründen, um unsere Abhängigkeit von | |
Verschwörungstheorien in den Griff zu bekommen? Hat Intel-Boss Andrew Grove | |
womöglich recht, wenn er meint, in der Welt von heute könnten „nur die | |
Paranoiden überleben“? Und ist der Glaube an Verschwörungen für unsere | |
demokratischen Systeme womöglich eine größere Bedrohung als die real | |
existierenden Verschwörungen selbst? | |
Eine gewisse Neigung, an Verschwörungstheorien zu glauben, hatten die | |
Menschen schon immer. Neu ist ihre Bereitschaft, sich von ihnen beherrschen | |
zu lassen. Anstelle von Ideologien bestimmen heute Verschwörungstheorien | |
im Kern die Politik. Sie stiften die neuen postideologischen Identitäten, | |
sie bringen Demonstranten auf die Straßen, sie verbinden Politiker mit | |
ihrer Gefolgschaft. Und sie entscheiden über den Ausgang von Wahlen. | |
Nun gibt es den beliebten Spruch: „Nur weil du paranoid bist, heißt das | |
nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.“ Das würde in unserem Fall | |
bedeuten, dass der Erfolg von Verschwörungstheorien mit der tatsächliche | |
Zunahme von Verschwörungen zusammenhängt. Vermutlich steckt aber mehr | |
dahinter. | |
Dass die Russen die Server der US-Demokraten gehackt haben, ist keine | |
Verschwörungstheorie, sondern ein Faktum; wie auch die Lauschangriffe der | |
USA auf die deutsche Bundeskanzlerin und die brasilianische Präsidentin. | |
Die meisten jüngeren Korruptionsskandale in der westlichen Welt sind | |
ebenfalls keine obskuren Theorien. Sie sind Tatsachen. | |
## Sie stiften eine Identität | |
Aber ist die Existenz von echten Verschwörungen Grund genug, um alles, was | |
in der Welt passiert, in diesem Licht zu sehen? Macht uns das Misstrauen, | |
das die demokratischen Gesellschaften auseinanderzureißen droht, freier | |
oder unfreier? Ist das Auftreten eines neuen Typs von Bürger – nennen wir | |
ihn oder sie den „paranoiden Bürger“ – eine Gefahr für unsere | |
demokratischen Systeme? | |
In Russland glaubt die große Mehrheit der Bevölkerung, dass der | |
Maidan-Protest in der Ukraine nichts anderes war als eine verdeckte | |
CIA-Operation, und diese Überzeugung ist durch keinen Tatsachenbeweis zu | |
erschüttern. In der Türkei glauben viele Erdoğan-Anhänger, dass der Westen | |
hinter dem Putschversuch vom Juli 2016 steckte. Die Gegner Erdoğans | |
wiederum sind überzeugt, dass der Präsident den Putsch selbst organisiert | |
hat. | |
In Polen glauben die meisten Wähler der nationalkonservativen | |
Regierungspartei PiS, dass Präsident Lech Kaczyński, der zusammen mit 95 | |
Mitgliedern der polnischen Elite am 10. April 2010 bei einem | |
Flugzeugabsturz in der Nähe der russischen Stadt Smolensk ums Leben kam, in | |
Wahrheit einem russischen Attentat zum Opfer gefallen ist (auch wenn die | |
offizielle Untersuchungskommission zu einem anderen Ergebnis kam). Der | |
Glaube an die Smolensk-Verschwörung ist als gemeinsames Merkmal der | |
PiS-Wähler signifikanter als alle anderen Faktoren wie Bildungsgrad, | |
Einkommen oder Kirchenzugehörigkeit. | |
In den USA zweifeln wenige Demokraten daran, dass Präsident Trump vom Kreml | |
unterstützt wurde. Umgekehrt würden nur wenige überzeugte Republikaner | |
Trumps völlig haltlose Behauptung bestreiten, er selbst und sein | |
Wahlkampfteam seien auf Anordnung Obamas abgehört worden. Und noch weniger | |
werden die Lüge zurückweisen, dass die Anti-Trump-Demos von linken | |
Milliardären bezahlt sind. | |
## Phasen politischer Umwälzungen | |
Hochkonjunktur haben Verschwörungstheorien meist in Phasen politischer | |
Umwälzungen. So gesehen ist das Denken in Verschwörungskategorien der | |
illegitime Spross von Revolutionen. Die Gegner der Französischen Revolution | |
waren wie besessen von dem Glauben, der Sturm auf die Bastille habe 1789 | |
nicht zufällig am 14. Juli stattgefunden. Weil die europäischen Kreuzritter | |
im Jahr 1099 ebenfalls an einem 14. Juli Jerusalem erobert hatten, hielten | |
sie die Revolution für eine Art Rache der Ungläubigen. Und besonders | |
überspannte Geister führten den Sturz der französischen Monarchie auf den | |
„Fluch der Templer“ zurück, deren Orden 477 Jahre vorher auf Druck des | |
französischen Königs Philipp IV. aufgelöst worden war. | |
Die Komplexität der modernen Welt verstärkt offenbar die Sehnsucht nach | |
einfachen Erklärungen. Zudem können sich Verschwörungstheorien dank der | |
neuen Kommunikationstechnologien und der sozialen Medien, die abgeschirmte | |
Überzeugungsblasen produzieren, inzwischen rasant verbreiten. | |
Die unangenehmste Frage lautet allerdings nicht, warum die Leute heutzutage | |
fast alles zu glauben bereit sind. Richtig irritierend ist es, zu sehen, | |
wie politische Identitäten, die auf gemeinsamen Verschwörungstheorien | |
beruhen – und nicht so sehr auf Ideologien –, die innere Logik der | |
Demokratie verändern und damit die Fähigkeit der Bürger beeinträchtigen, | |
ihre gewählten Politiker zur Rechenschaft zu ziehen. | |
Das ist der Kern des Problems: Verschwörungstheorien nehmen den Menschen | |
Macht weg. In einer von solchen Vorstellungen geprägten Welt können sich | |
Politiker aus der Verantwortung stehlen, indem sie die Schuld an ihren | |
falschen Entscheidungen irgendwelchen unsichtbaren, angeblich übermächtigen | |
Feinden zuschieben, die sich gegen sie verschworen haben. | |
Dass eine Politik, die mit Verschwörungstheorien hantiert, gefährlicher ist | |
als eine ideologisch motivierte, hat einen weiteren Grund: Solche Theorien | |
bieten zwar schillernde Erklärungen für das, was geschehen ist und wer | |
Schuld daran hat, aber ihnen fehlt jede Zukunftsvision, jedes Konzept für | |
eine Welt, in der wir leben wollen. | |
Ideologien bringen Fanatiker hervor, aber auch Dissidenten. In Osteuropa | |
haben viele Dissidenten einst an den Kommunismus geglaubt – und sich von | |
der herrschenden Ideologie abgewandt, als diese ihre utopischen Versprechen | |
von Gleichheit und Gerechtigkeit nicht einlösen konnte. Sie konnten ihrer | |
Ideologie treu bleiben und zugleich die Partei oder die politische Führung | |
kritisieren. | |
Verschwörungstheorien produzieren keine Dissidenten, sondern Zombies, die | |
nicht willens – oder zu bequem – sind, ihre politische Führung infrage zu | |
stellen. Es verändert den Charakter der politischen Polarisierung, wenn an | |
die Stelle einer ideologischen Politik ein politisches Zugehörigkeitsgefühl | |
tritt, das sich an Verschwörungstheorien festmacht. In den USA war es 1960 | |
laut Umfragen nur für 5 Prozent der republikanischen und für 4 Prozent der | |
demokratischen Wähler ein Problem, wenn ihre Kinder einen Anhänger der | |
anderen Partei geheiratet hätten; 2010 lag der Anteil bei den Republikanern | |
bei 49 und bei den Demokraten bei 33 Prozent. | |
Wer seine Identität auf Verschwörungstheorien aufbaut, erstickt jede | |
Selbstkritik. Im Rahmen einer Ideologie lässt sich das politische | |
Führungspersonal leichter zur Rechenschaft ziehen als im Nebel von | |
Verschwörungsfantasien. Wenn Putin tatsächlich dafür gesorgt hat, dass | |
Trump gewählt wurde, brauchen sich die Demokraten nicht mehr den Kopf | |
darüber zu zerbrechen, warum Hillary Clinton verloren hat und inwiefern sie | |
keine überzeugende Kandidatin war. Umgekehrt: Wenn die Anti-Trump-Demos | |
gekauft sind, können sich die Republikaner leichter hinter ihren | |
Präsidenten stellen, ohne die Missstände anzupacken, gegen die viele | |
US-Bürger auf die Straße gehen. | |
Bei dem allgemeinen Gejammere über postfaktische Politik und Fake News | |
wird leicht übersehen, wo das grundlegend Neue für das demokratischen | |
System liegt: Wenn politische Zugehörigkeit in kollektiv geglaubten | |
Verschwörungstheorien wurzelt, geht es den Leuten nicht mehr darum, die | |
Wahrheit herauszufinden, sondern Geheimnisse aufzudecken. | |
## Naiv ist, wer seinen Augen traut | |
Die Idee der Wahrheit fordert unseren gesunden Menschenverstand heraus. Das | |
Verführerische an Verschwörungstheorien ist, dass sie unsere Fantasie | |
beschäftigen. Zu voller Blüte kommen sie in Zeiten, da die Macht diffuser | |
denn je verteilt ist und niemand richtig weiß, wer die Entscheidungen | |
trifft. Nach der Wahrheit können die Menschen selber suchen, das Geheimnis | |
muss ihnen offenbart werden. Und um es zu einem fesselnden Geheimnis zu | |
machen, sollte es möglichst schockierend und überraschend sein. | |
In Kriminalromanen ist der naheliegende Verdächtige nie der Täter – im | |
realen Leben dagegen fast immer. Heute gilt als naiv, wer seinen Augen oder | |
Erfahrungen vertraut. Während sowohl Politiker als auch Bürger mehr | |
Transparenz fordern und Regeln durchsetzen wollen, die den Regierungen die | |
Geheimhaltung erschweren, gelten paradoxerweise Informationen immer dann | |
als besonders glaubwürdig, wenn sie auf „Enthüllungen“ beruht oder nicht | |
öffentlich zugänglich sind. | |
Das Zeitalter der Transparenz macht uns misstrauischer denn je. Aber wenn | |
wir unserem persönlichen Erleben nicht mehr trauen und das Offensichtliche | |
ausblenden, verlieren wir nicht nur unsere Fähigkeit, Probleme zu lösen, | |
sondern gefährden auch unser Urteilsvermögen. | |
Es ist kein Zufall, dass die Ausbreitung des Verschwörungsdenkens mit der | |
Krise der Globalisierung zusammenfällt. Und dass gleichzeitig die Liste | |
der Regierungen immer länger wird, die solchen Theorien anhängen, ist auch | |
kein Zufall. Denn in einer Situation, in der es gilt, die verschanzten | |
Identitäten wiederherzustellen, die durch die Globalisierung aufgeweicht | |
wurden, spielen Verschwörungstheorien eine entscheidende Rolle. | |
Die Regierungen errichten physische Mauern, um Migranten aufzuhalten, und | |
Handelsbarrieren, um Waren- und Kapitalflüsse aufzuhalten. Wo sich Staaten | |
immer mehr mit belagerten Festungen vergleichen, dienen die von den | |
Regierungen verbreiteten Verschwörungstheorien als Mauern gegen | |
Informationen von außen, die der amtlichen Darstellung der Realität | |
gefährlich werden könnten. | |
Und schon heute ist für so manchen politischen Führer das Monopol auf diese | |
effektivste der modernen Propagandawaffen ebenso wichtig geworden wie das | |
staatliche Gewaltmonopol. | |
Aus dem Englischen von Niels Kadritzke | |
21 May 2017 | |
## AUTOREN | |
Ivan Krastev | |
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