# taz.de -- Debatte Rechte und linke Diskurse: Überall erwartbare Reflexe | |
> Die Diskussionen bei Linken und Rechten folgen einem festen Muster. Sie | |
> stecken in fixen Rollen. Muss das so sein? | |
Bild: „Auch der linke Kulturkampf setzt auf die Fantasie der Herstellbarkeit … | |
Reflexe, überall Reflexe. Die frühe Psychologie dachte, dass Reflexe eine | |
Reaktion auf ein Außen sind: Die pragmatistische Kritik des Reflexbogens | |
konnte jedoch zeigen, dass Reflexe nicht von außen, sondern von innen | |
ausgelöst werden. | |
Man kann von einem Selbstauslöser sprechen: Nicht der äußere Reiz macht die | |
Reaktion. Es ist vielmehr der innere Zustand des Reagierenden, der die | |
Reaktion zur Aktion macht – und je erfolgreicher diese sich bewährt, desto | |
deutlicher stabilisiert sie sich und neigt zu Wiederholungen. Man nennt das | |
Pfadabhängigkeit. | |
Die Idee des Selbstauslösers kann womöglich den Eindruck besser verstehbar | |
machen, dass in öffentlichen Diskursen kaum Überraschungen stattfinden, | |
sondern alle Beteiligten Rollen spielen, als gäbe es ein Drehbuch, das | |
Antipoden so aufeinander bezieht, dass das Stück genügend Variation und | |
Differenz aufweist, um erzählbar zu bleiben. Natürlich gibt es kein Skript, | |
einen Regisseur schon gar nicht – aber eine stupende Erwartbarkeit. | |
Die sogenannte Flüchtlingskrise war der vielleicht eklatanteste Reiz der | |
letzten Jahre, der für allerlei Selbstauslöser gesorgt hat. Die vielen | |
Menschen, die besonders zahlreich seit dem Sommer 2015 in Deutschland | |
ankamen, sind tatsächlich so etwas wie ein äußerer Reiz. Ich hoffe, es ist | |
nicht zu despektierlich, die starke, unerwartbare, international | |
einzigartige Form der [1][Willkommenskultur] als einen merkwürdigen | |
Selbstauslöser zu interpretieren. Es war großartig, wie sich hier eine Form | |
der Hilfsbereitschaft etabliert hat, die so ganz anders war als die | |
Reaktion auf die Flüchtlinge während des Jugoslawienkrieges vor 25 Jahren. | |
Am Ende war die Selbsterfahrung mit der Willkommenseuphorie so stark, dass | |
es in weiten Teilen zu einer fast reflexhaften Abwehr gegen Fragen kam, die | |
auch Aufmerksamkeit verdient hätten: dass es zu Kulturkonflikten kommt, | |
dass die meisten für den ersten [2][Arbeitsmarkt] kaum je zur Verfügung | |
stehen werden, dass es mit manchen Gruppen durchaus erhebliche | |
Kriminalitätsprobleme geben würde, dass für manche Milieus Fremdheit anders | |
als im kulturwissenschaftlichen Proseminar nicht so einfach kontingent zu | |
setzen ist. | |
Es kam zu einer starken Dethematisierung solcher Fragen – und man reagierte | |
mit einer ziemlich merkwürdigen Form, den sprechenden Flüchtling als | |
Partner zu präferieren, denjenigen, den man auf Theaterbühnen zu seinem | |
Schicksal befragen kann und der dann auch in einer Form Auskunft gibt, die | |
der Willkommenskultur eine selbstbestätigende Form verleiht. | |
Hinweise auf die Mühen der Ebenen wurden mit dem Hinweis auf | |
Menschenrechte, auf Humanität und moralisch hohe Hürden unsichtbar gemacht. | |
Die engagierten Milieus sind darin geübt, starke Sätze zu sprechen und | |
andere zum Sprechen zu bringen – und diese Sätze haben sich allzusehr | |
stabilisiert. | |
Verarbeitet wurden letztlich die Informationen, die das Milieu bestätigt | |
haben: auf der richtigen Seite zu stehen. | |
## Reflex rechts: Den anderen als „Anderen“ darstellen | |
Mindestens so sehr wurden die Flüchtlinge von der ganz anderen Seite | |
willkommen geheißen. Was wären Pegida, AfD und begleitende Publizistik ohne | |
die Flüchtlingskrise? | |
Mancher der zentralen Akteure hat inzwischen eingeräumt, was für ein | |
Gottesgeschenk die Flüchtlinge waren, weil sie das Unbehagen mancher an | |
einer unübersichtlichen, sich wandelnden, pluralistischen Welt so sichtbar | |
und ostentativ bestätigt haben. | |
Der Hinweis auf ein Außen hat ein starkes Wir ermöglicht. Der Hinweis auf | |
das Eigene wird erst möglich, wenn es sich am Fremden scharfstellen kann. | |
Dieser Selbstauslöser hat jede andere Information zunichte gemacht. | |
## Die Reflexe ähneln sich | |
Beide Seiten bestätigen sich selektiv selbst, sie werden resistent für | |
Informationen, also für Abweichungen, für etwas, das einen Unterschied | |
macht. Die Konzentration auf die Bewährungsbedingungen des eigenen Milieus | |
stabilisiert die Verhältnisse – machen die Antipoden zu Komplizen. Denn für | |
die bedingungslosen Verfechter des Willkommens dient all das auch dazu, die | |
eigene Perspektive zu stabilisieren und sich in der Kritik der Verhältnisse | |
einzurichten, die man nie wirklich begrüßen würde. | |
Wie dieser „äußere“ Reiz dem AfD- und Pegida-Milieu dazu dient, sich in d… | |
Ablehnung einer pluralistischer werdenden Welt einzurichten, ist es für | |
manches linke und mit allen Differenzwassern gewaschene Milieu willkommener | |
Anlass, die Distinktion zu den weniger aufgeklärten Milieus zu pflegen. | |
Ich gebe zu, dies so zugespitzt zu schreiben ist ebenso schwierig wie | |
riskant. Es hört sich so an, als würde ich das neutral beschreiben, als | |
handle es sich um beliebige Seiten auf Augenhöhe. Ich mache keinen Hehl | |
daraus, wo meine normativen Präferenzen liegen – selbstverständlich kann | |
unsere Gesellschaft die Flüchtlingskrise bewältigen. | |
Dennoch: Man kann kaum daran vorbeisehen, dass beide Reaktionsformen sich | |
ähnlicher sind, als sie es sich gegenseitig zugestehen wollen. Beide Seiten | |
arbeiten mit Unbedingtheiten, also mit selektiven stabilen Blicken, deren | |
Hauptfunktion darin besteht, sich nicht verunsichern zu lassen. | |
## Moral und Natur | |
Diese Unbedingtheiten hören auf die Namen Natur und Moral. Die rechten | |
Kritiker der „Überfremdung“ und des „großen Austauschs“ referieren | |
letztlich auf eine unveränderliche Natur, selbst wenn sie als kulturelle | |
Form der Zugehörigkeit nur zweite Natur ist. Für manches völkische Denken | |
ist es freilich durchaus in der ersten Natur fundiert. | |
Eine ähnliche Funktion hat die Unbedingtheit moralischer Forderungen. Eine | |
der Unbedingtheiten etwa des Rekurses auf Menschenrechte und die radikale | |
Symmetrisierung aller Menschen ist die Absehung von der konkreten Person im | |
Interesse eines abstrakten Humanums. | |
Diese Denkungsart ist eine zivilisatorische Errungenschaft sondergleichen – | |
aber eben auch eher eine abstrakte Figur. Als hätte es die langen Debatten | |
um die universalistische Geltungsbedingung der Menschenrechte in | |
partikularen Bürgerrechten nie gegeben, als gäbe es nicht so etwas wie | |
empirische Bedingungen der Herstellung von Solidarität, als wären selbst | |
eingebildete Sorgen nicht wirksam und real. | |
Man kann darüber hinwegsehen und sich moralisch immunisieren – bleibt dann | |
aber im Konfliktsystem der Antipoden gefangen. Meinen Vorwurf kann man | |
leicht kontern: Er nehme all die kulturwissenschaftlichen, | |
universalistisch-moralischen und unbedingten (sic!) Geltungsbedingungen des | |
Guten nicht ernst und betreibe das Spiel der kleinbürgerlichen Mahner und | |
„besorgten Bürger“. Dieser Vorwurf bestätigt, was ich hier sagen will: Man | |
sieht nur, was man sehen will. | |
## Die Intelligenten sind gar nicht so schlau | |
Übrigens kann auch hier die Sozialpsychologie weiterhelfen: Im letzten Jahr | |
haben der Niederländer Karl Brandt und der Amerikaner Jarret Crawford im | |
Hinblick auf Stereotype zwei Gruppen beschrieben: Geringe Intelligenz | |
korreliert ziemlich eindeutig mit der Unfähigkeit, sich auf Ungewohntes | |
einzustellen. „Intelligenz“ ist sicher ein nicht ganz unproblematisches | |
Konzept, aber es verweist auch auf erworbene Fähigkeiten und Erfahrungen in | |
bestimmten Milieus. | |
Interessanter ist die von den Wissenschaftlern identifizierte andere | |
Gruppe, nämlich die kognitiven „high capables“. Diese projizieren | |
insbesondere Konservativen gegenüber ihre eigene kognitiv gestützte | |
Fähigkeit, Alternativen zu denken, auf jene Gruppen, von denen sie | |
annehmen, dass sie auch anders könnten, wollten sie nur. | |
Die Intelligenten, so ließe sich schließen, sind gar nicht so schlau, weil | |
sie ihre Milieu-Eigenschaft der Abweichungstoleranz für etwas | |
Quasi-Natürliches, allgemein Menschliches halten und nicht auch für einen | |
Effekt der eigenen Lebenslage. Abweichungstoleranz schützt also einerseits | |
offensichtlich davor, selbst Ressentiments zu pflegen, macht daraus aber | |
ein Ressentiment gegen jene, von denen man annimmt, sie müssten all das | |
auch können. | |
Es bildet schön ab, wie weit gerade die Mittelschichtsintelligenz auf ihrem | |
Feldherrenhügel des besseren Wissens und des größeren Überblicks von den | |
eher konservativen und kleinbürgerlichen Gruppen entfernt ist, denen man | |
ihre Unmündigkeit als selbstverschuldet zurechnet, um sich dann im | |
ressentimentgeladenen Distinktionskampf nach unten auf dem Hügel noch | |
besser einrichten zu können. Dabei wird kaum mitgesehen, wie beweglich auch | |
die konservativen Milieus der sogenannten Mitte sind. | |
## Überraschung: Auch die Rechten sind nicht dumm | |
Übrigens sollte man nicht so tun, als seien die Protagonisten des | |
Kulturkampfs von rechts weniger intelligent – im Gegenteil. Sie wissen | |
genau, wie sie von der Verachtung der Gebildeten profitieren können und | |
instrumentalisieren das linksliberale Ressentiment gegen die sogenannten | |
kleinen Leute by design. | |
Vor einiger Zeit hat es eine krokodilstränenreiche Debatte darüber gegeben, | |
das linksliberale Milieu sei schuldig daran, dass die Kleinbürger ins | |
falsche Denken abdriften – man habe sie nicht ernst genommen. Als müsse man | |
es den Dummen einmal richtig erklären, damit sie endlich wollen, was sie | |
sollen! Das ist Unsinn. | |
Dieser paternalistische Diskursstil bestätigt nur meine Diagnose, das | |
Konfliktsystem gar nicht erst verstanden zu haben, in dem wir uns befinden. | |
Letztlich bewegen sich die Antipoden in einem Old-School-Kontrollspiel, das | |
ebenfalls aussieht, als entstamme es einem Drehbuch. | |
Der kleinbürgerliche rechte Kulturkampf setzt auf das Kontrollmedium der | |
Übersichtlichkeit und Kalkulierbarkeit des Bekannten – und imaginiert damit | |
jene vertrauten Räume, die das Zeitalter des stabilen Nationalstaats | |
begründet hat und unwiederbringlich vorbei ist. Und der linke Kulturkampf | |
setzt immer noch auf die Fantasie der Herstellbarkeit einer Welt nach | |
eigenem Bilde, nicht mit der Widerständigkeit einer komplexen Welt | |
rechnend. | |
Die einen blenden die Komplexität der Welt aus, weil sie sich | |
übersichtliche Gärten imaginieren wollen, in denen alles seinen Platz hat, | |
Männer richtige Männer sind, Frauen möglichst nicht, und die kulturelle | |
Differenz parallel zu räumlicher Differenz gestaltet sein soll. | |
Die anderen können sich nicht vorstellen, dass ihre normativen | |
Vorstellungen nicht von allen geteilt werden und sich nicht einfach wie ein | |
Text auf einem weißen Blatt Papier platzieren lassen. | |
Beide verfehlen die Komplexität dieser Welt, die alles kennt, nur keine | |
Gesamtvernunft – weder eine ethnisch-kulturelle noch eine | |
moralisch-pluralistische. Bei Letzteren geht es sogar so weit, dass viele | |
Linke im Wahlkampf vor der Stichwahl in Frankreich lieber Le Pen ertragen | |
wollten, als sich die Implosion der eigenen Kontrollfantasien | |
einzugestehen. Und es geht so weit, dass die Rechten sich als Anwälte der | |
kleinen Leute gerieren, die sie damit erst recht klein machen. | |
Ein Wort an die taz: Sich als Gegenöffentlichkeit zu stilisieren, ist heute | |
nicht mehr so einfach. Manche rechte Gazetten haben diese Funktionsstelle | |
übernommen – und sind damit doch mittendrin im Spiel. Gegenöffentlichkeit �… | |
das kann nur noch heißen, ausgeschlossener Dritter allzu stabiler | |
Unterscheidungen zu sein, also auf die Bedingungen hinzuweisen, unter denen | |
all die Sätze funktionieren, die aussehen, als stammten sie aus einem | |
Drehbuch. | |
28 May 2017 | |
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## AUTOREN | |
Armin Nassehi | |
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