# taz.de -- Flüchtlingsforscher über Integration: „‚Wir schaffen das‘ w… | |
> Wer Flüchtlingen helfen will, muss ihnen Arbeit verschaffen, sagt der | |
> Migrationsforscher Alexander Betts. Gut klappe das in Uganda. | |
Bild: Flüchtlingein einem jordanischen Flüchtlingslager | |
taz: Herr Betts, in Ihrem Buch überschreiben Sie das Kapitel zur deutschen | |
Flüchtlingspolitik im September 2015 mit dem Titel: „Das kopflose Herz“. | |
Warum? | |
Alexander Betts: Europa hat in seinen Reaktionen auf die syrische | |
Flüchtlingskrise drei Phasen durchgemacht. Die erste war eine der | |
Herzlosigkeit. Zwischen 2011 und 2015 hat Europa vermutet, die syrische | |
Krise sei ein Problem des Nahen Ostens, das im Nahen Osten bleiben würde. | |
Dann sind wir zu einer Phase des Herzens übergegangen, charakterisiert | |
durch Angela Merkels „Wir schaffen das“. | |
Und wo hat der Kopf gefehlt? | |
Erstens dauerte die Periode des Herzens nur sechs Monate. Dann kam das | |
Abkommen mit der Türkei, weil Merkel realisiert hatte, dass ihre Politik | |
nicht nachhaltig war. Zweitens: Wenn im August 2015 wirklich das Ziel der | |
Politik gewesen wäre, die Flüchtlinge in Europa willkommen zu heißen, hätte | |
man ihnen einen sicheren Weg ermöglichen müssen. „Wir schaffen das“ hieß: | |
Solange es die Flüchtlinge schaffen, nach Europa zu schwimmen. Es war | |
Heuchelei, einerseits zu entscheiden, die Türen zu öffnen, dann aber darauf | |
zu bestehen, dass die Menschen nur auf eine gefährliche Weise nach Europa | |
gelangen können. | |
Ihre Kritik ist aber grundsätzlicher. | |
Weltweit gibt es derzeit 20 Millionen Flüchtlinge, davon leben 90 Prozent | |
in den Entwicklungsregionen der Welt. Deshalb ist es keine nachhaltige | |
Politik, den wenigen, die Europa erreicht haben, Schutz zu gewähren, aber | |
die Mehrheit der Geflüchteten weltweit zu vernachlässigen. | |
Es gibt viele Linke in Deutschland, die sagen: Merkels Flüchtlingspolitik | |
hätte nachhaltig sein können. Falsch war nur ihre Entscheidung, diese | |
Politik zu beenden. Wir hätten Millionen mehr Flüchtlinge in Deutschland | |
aufnehmen können. | |
Diese ist eine schwer nachvollziehbare Aussage. Flüchtlinge brauchen am | |
dringendsten einen Job, damit sie sich selbst und ihre Familien ernähren | |
können. Dafür gibt es zwei Wege: Man kann Flüchtlinge in Jobs bringen oder | |
man kann die Jobs zu den Flüchtlingen bringen. Als wir unser Buch | |
geschrieben haben, lag der Anteil von Flüchtlingen aus Syrien, die in | |
Deutschland eine Beschäftigung haben, bei 10 bis 15 Prozent. Es ist | |
offensichtlich, warum das so ist. Das Pro-Kopf-Einkommen im | |
Vorkriegs-Syrien lag bei etwa 2.000 US-Dollar im Jahr. Das | |
Pro-Kopf-Einkommen in Deutschland ist aber um einiges höher, bei 40.000 | |
Dollar. Der deutsche Arbeitsmarkt ist von der Exportwirtschaft geprägt, von | |
Jobs für Hochqualifizierte. Daher ist das Niveau der Erwerbslosigkeit unter | |
Flüchtlingen derzeit so hoch. | |
Was ist Ihre Alternative? | |
60 Prozent der Flüchtlinge weltweit leben in gerade mal zehn Ländern. Zu | |
diesen Ländern gehören die Türkei, Jordanien, Libanon, Kenia, Uganda, Iran, | |
Pakistan, Äthiopien und Tschad – allesamt keine entwickelten Länder. Wir | |
müssen diese Länder in die Lage versetzen, die Flüchtlinge nachhaltig zu | |
unterstützen und versorgen, bis sie nach Hause zurückkehren können. Dazu | |
brauchen wir nicht nur einen humanitären Ansatz, sondern auch einen | |
Entwicklungsansatz. | |
Haben Sie ein positives Beispiel? | |
Uganda beherbergt eine Million Flüchtlinge. Das sind etwa so viele, wie | |
2015 nach Deutschland gekommen sind. Uganda gibt diesen Leuten das Recht zu | |
arbeiten und erlaubt ihnen, sich frei im Land zu bewegen. Die Daten, die | |
wir gesammelt haben, ergeben, dass dies große wirtschaftliche Vorteile für | |
die Flüchtlinge gebracht hat ebenso wie massive Vorteile für die | |
Gastgebergesellschaft. In der Hauptstadt Kampala betreiben 21 Prozent der | |
Flüchtlinge Geschäfte, die zumindest eine weitere Person beschäftigen. Von | |
denen sind 40 Prozent Einheimische. Also: Flüchtlinge in Uganda schaffen | |
Jobs. Das ist ein Modell, das die anderen wichtigsten Aufnahmeländer für | |
Flüchtlinge inspirieren sollte. | |
Wie verallgemeinerbar ist der Fall Uganda? | |
Wir müssen ein Modell entwickeln, das in den jeweiligen Kontext passt. Ein | |
Pilotprojekt, das in Jordanien entwickelt wird, erteilt Arbeitserlaubnisse | |
für bereits existierende Sonderwirtschaftszonen. Die EU erteilt im Gegenzug | |
Handelserleichterungen. Die Weltbank stellt Darlehen bereit, um die | |
Infrastruktur aufzubauen und Kooperationen – etwa zur Herstellung von | |
Ikea-Möbeln – zu ermöglichen. Mittlerweile haben dort 38.000 Syrer eine | |
Arbeitserlaubnis. Auch Äthiopien hat jetzt angekündigt, ein Modell wie | |
Jordanien zu verfolgen. | |
Geben Sie mit Ihrem Konzept nicht rechten Populisten nach, die auch eine | |
Versorgung der Flüchtlinge außerhalb Europas wollen? | |
Absolut nicht. Niemand sollte vor Fremdenfeindlichkeit einknicken. Dennoch | |
müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass es Sorgen in Teilen unserer | |
Gesellschaften gibt. Ich bedaure persönlich zutiefst, dass 52 Prozent | |
meiner Mitbürger für den Brexit gestimmt haben. Natürlich kann ich sagen: | |
Ich habe recht, du liegst falsch. Der Hauptgrund für den Brexit war, die | |
Kontrolle über die Einwanderung zurückzugewinnen. Wenn wir das | |
demokratische Votum ignorieren, werden eher früher als später noch größere | |
Herausforderungen auf unserer Türschwelle stehen, und wir werden dabei | |
scheitern, Lösungen zu finden, um Flüchtlingen zu helfen. | |
Sie verschieben die Probleme zu den Ländern im Süden. | |
Die meisten Flüchtlinge wollen in der Nähe ihres Herkunftslandes bleiben. | |
Zwischen 2011 und 2014 kamen keine syrischen Flüchtlinge nach Europa, sie | |
blieben in Jordanien, im Libanon und in der Türkei. Aber ab 2014 wurde es | |
für Flüchtlinge unmöglich, in diesen Ländern zu arbeiten. Die Menschen | |
waren gezwungen, ihre Ersparnisse aufzubrauchen. Erst dann entschieden sich | |
manche, weiterzuziehen. | |
Vielleicht wollen die Flüchtlinge aber lieber in Deutschland leben statt in | |
Jordanien? | |
Als Kanadas Premier Justin Trudeau Ende 2015 ankündigte, dass sein Land | |
Syrer aufnehmen wolle, bat er das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten | |
Nationen um eine Umfrage unter geflüchteten Syrern. Mehr als 70 Prozent der | |
Befragten sagten, sie wollten in ihren Gastgeberländern bleiben. Sie | |
bevorzugten es, in der Nähe ihrer Heimat zu bleiben. Es geht also weder | |
darum, die Leute zu zwingen, in ihren Aufnahmeländern zu bleibe, noch | |
darum, dass Europa seine Verantwortung abschiebt. Europa muss Verantwortung | |
übernehmen, aber in einer Weise, die demokratisch nachhaltig und für die | |
Mehrheit der Geflüchteten sinnvoll ist. | |
6 Apr 2017 | |
## AUTOREN | |
Martin Reeh | |
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